-
S.
PROF. DR. FREUD WIEN IX., BERGGASSE 19
28 Nov 1922
Lieber Herr Doktor
Sie können sich denken, dass Ihr
Name – oder Vorname – jetzt recht
häufig in meinem Behandlungszim̄er
genannt wird. Ihre Neuigkeit hat mich
sehr erfreut; vom ganzen Herzen
möchte ich Ihnen Glück wünschen, wenn
nur das eine nicht wäre! Wer
fängt auch ein zur Ehe führendes
Liebesverhältnis mit einer Trennung
für 6 Monate an? Ihr Amerikaner
seid doch merkwürdige Leute, und
zu Euren Frauen habt Ihr alle nicht
die richtige Einstellung – attitude –
gefunden. Hoffentlich fängt nach den
6 Monaten nicht dasselbe Spiel
von Hin u Her – Schwankungen wieder
an. Versprechen Sie mir, dass Sie sich
darauf nicht wieder einlassen werden.
Beim ersten Zweifel hier oder dort –
brechen Sie ab, sonst kom̄t ein zweiter,
dritter usw.Unterdeß genießen Sie Ihre Glückserwart-
ung. Vom Vatervorbild haben Sie sich ja
entfernt, sind Sie auch der Mutter
wieder näher gekom̄en? Bei Ihnen
hatte man ja eine zu starke Ablenk-
ung zu bekämpfen.Die kleine Ruth ist sehr fein, sehr gescheit.
u hat ein ganz ungewöhnliches Ver-
ständnis mitgebracht. Ich behandle sie
sehr behutsam, kann auch vom Aus-
gang noch nichts erraten, aber ich
bin froh, dass ich einen langen
Zeitraum und Konzentration auf
die eine Arbeit zur Bedingung ge-
macht habe. -
S.
[Das hier zugehörige Faksimile ist beim Brief vom 10. August eingespeist.]
da sie so freundlich sin, sich anch meinem
Befinden zu erkundigen, antworte ich,
daß ich im Sommer meine volle Arbeits-
tätigkeit wiedergewonnen habe, durch
die unerwartete Rückkehr und längerem
Darbleiben vorhehriger Patienten bin
bin ich zu einer ungünstigen Zeiteinteilung
gekommen. Aber im Dezember gehen
zwei Überzälige ab und diese werden
dann nicht ersetzt.Vielen Dank auch für Ihre rosigen
Nachrichten aus der Literatur. Mit
Aristoteles habe ich doch wenig Berührgs-
punkte. Im Ganzen hat sich mein Ver-
trauen zur Entwicklung der ΨΑ in
Ihrem Lande nicht gesteigert. Ichsehe
höre mehr schmähende Stim̄en als
preisende, vor allem aber wenig
verständnisvolle.Mit herzichen Grüßen
und Wünschen Ihr
Freud[Transkription und hier vorliegendes Faksimile gehören zum Brief von 10. August 1922]
Vier Monate Analyse ist freilich nicht viel
für einen Mann von 40 Jahren, doch sah
es zu Ende unserer Analyse aus, als ob
sich nichts mehr ergeben sollte, und
eine direkte Fortsetzung schien nicht
sehr aussichtsreich. Ich bin neugierig, was
sich bei Ames zeigen wird, der sich
von vorne herein eine lange Zeit ge-
nom̄en hat. Leider werde ich ihn nicht
selbst behandenl können, sondern zu
Rank schicken müßen, wobei er nichts
verlieren wird. Ich will an meiner Absicht,
die neun Arbeitsstunden zu reduziren,
festhalten, aber es geht sehr schwer. Von
den früheren sind einige geblieben, die
neuen drängen nach, die Notwendigkeit
des Erwerbs wird umso gebieterischer,
je mehr die Verhältniße in Oesterreich
einer Katastrophe zuzueilen scheinen.
Und doch fühle ich in diesen Ferien, wie
sehr mich die Arbeit ermüdet hat,
u kann mir deren Wiederbeginn
noch nicht vorstellen.Ich schreibe Ihnen wieder nach dem
Besuch von Mrs P. und grüße Sie
herzlich
Ihr
FreudP.S. Kaplan’s Bücher sind
weder gut noch schlecht,
eher seicht, in schlechtem
Stil geschrieben, neigen
zum Eclecticismus.Über Ihre Neigung zum Behaviorism kann
ich jetzt nicht milder urteilen als in Wien.
Berggasse 19
Wien 1090
Oostenryk
57 West 58th Street
10019 NY
Verenigde State van Amerika
C18F9