S.
A b d u c e n s, der [lat. von a b d u c e r e der
ableitende, nach einer Seite ziehende) 1. Mus-
culus a. s. Augenmuskeln. 2. Nervus a.
(frz. moteur oculaire externe, [nerf] abducen-
teur, m; engl. abducent nerve, sixth pair;
it. abducente m; sesto pajo). Der N. abdu-
cens, der sechste in der Zwölf Hirnnerven (s. d.),
entspringt aus einer neben der Mittellinie
(Rhaphe) gelegenen Zellsäule des grauen Bo-
dens vom 4. Ventrikel und tritt am hinteren
Rande der Brücke (Pons) aus. Er ist mo-
torisch und versorgt den äusseren geraden
Augenmuskel (Rectus externus), der den Bul-
bus nach aussen zieht. Bei Lähmung
des M. rectus externus kann daher 1. das
betreffende Auge nicht über die Mittellinie
nach aussen bewegt (bei vollständiger Läh-
mung) oder nicht ganz in den äusseren
Winkel eingestellt werden, oder es geht (bei
Parese) mit kurzen zuckenden Bewegungen
nach aussen; 2. können Doppelbilder auf-
treten, welche parallel stehen und sich um
so mehr voneinander entfernen, je mehr der
fixierte Gegenstand nach aussen (auf der
Seite der Lähmung) gebracht wird. Diese
Doppelbilder sind gleichnamige, d. h. das
rechte Bild gehört dem rechten Auge an;
3. wird der Kopf um die vertikale Achse
nach der Seite der Lähmung gedreht ge-
halten. Krampf eines äusseren Augenmuskels
ist selten ein, und setzt die Lähmung des
antagonistisch wirkenden inneren geraden
Augenmuskels voraus. Bezüglich der Dia-
gnosestellung sei bemerkt, dass eine Erkran-
kung des Abducenskernes im verlängerten
Mark ein sehr auffälliges Merkmal hat; es
ist dabei nicht nur die Bewegung des einen
Auges nach aussen unmöglich, sondern auch
die Bewegung des anderen Auges nach innen
beim gleichzeitigen Gebrauch beider Augen.
Die nukleäre Affektion hat also die Auf-
hebung der ganzen Seitenwendung der Augen
z. B. nach rechts zur Folge, wenn der rechte
Abducenskern erkrankt ist, während das
linke Auge sehr wohl nach rechts (innen)
gebracht werden kann, wenn es für sich
agiert, oder wenn konvergiert wird (asso-
ziierte Lähmung). Wegen der Nähe der
beiderseitigen Abducenskerne greift der Pro-
zess (Bluthard Tumor) häufig über und er-
zeugt so eine Lähmung beider Seitenwen-
dungen der Augen. – Häufiger als die von
Erkrankung des Kerns ausgehenden Läh-
mungen der A. sind die von der peripheren
Strecke des Nerven ausgehenden, welche in
intrakranielle (basale) und extrakranielle
(orbitale) eingeteilt werden. Sitzt die Krank-
heitsursache am Pons, so tritt neben der
gleichseitigen Abducenslähmung gekreuzte
Extremitätenlähmung auf; trifft dieselbe den
Nerven in seinem Verlaufe durch die Dura
mater, so sind zumeist auch noch Affek-
tionen anderer Hirnnerven nachzuweisen.
– Die Ursachen der (meist peripheren)
A.-Lähmung sind sehr mannigfacher Natur.
Die Hälfte aller Augenmuskellähmungen,
hängt nach Gräfe von Syphilis ab, auf
dem Wege der Kernerkrankung, Periostitis
S.
an der Schädelbasis, oder Gummibildung in
der Orbita. Demnächst häufig treten A-läh
mungen bei Tabes und zwar häufig als In
itialsymptome auf, die oft spontan zurück
gehen, aber nach einiger Zeit folgen die
Rückenmarkssymptome. Man erkenne daher
auf „Erkältung“ beruhende A-lähmungen
nur da an, wo auch wirklich eine Erkältung
nachweisbar ist. A-lähmungen, die bei an
scheinend gesunden Kindern auftreten, sind
meist als Vorläufer einer basalen Meningitis
aufzufassen. Bei ausgesprochener Meningitis
wird einseitige oder doppelseitige A-läh
mung häufig beobachtet, ebenso bei chro
nischer Pachymeningitis. Andere Ursachen
der A-lähmung sind: Diphtheritis, trau
matischer Bluterguss an der Schädelbasis,
Entzündung in der Orbita, Druck eines oft
sehr entfernt liegenden Hirntumors, Diabetes;
sehr selten: Bleiintoxikation. Auch kongeni
tales Fehlen des M. rectus externus ist be
obachtet worden und könnte zu irrtümlicher
Diagnose einer A-lähmung Anlass geben.
Prognose und Therapie der A-lähmung
richten sich nach der Ursache. Die Pro
gnose ist günstig bei Syphilis und Erkäl
tung, ungünstig bei Tabes, obwohl sehr viele
Heilerfolge bei Augenmuskellähmungen auf
das spontane Zurückgehen von tabischen
Lähmungen zu beziehen sind. Die direkte
Anwendung der Elektrizität auf den er
krankten Muskel ist möglich, wenn man die
Empfindlichkeit der Conjunctiva durch
Kokainisierung aufhebt.
3
–4