S.
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DIE
ZEIT
Nr. 1504 / Wien, Freitag, den 30. November 1906 / 5. Jahr.
Morgenblatt
[…]
Feuilleton.Der Blick in die Zukunft.
Es war spät geworden. Die letzten Gäste
hatten sich schon aus dem Kaffeehause entfernt.
Um unseren Tisch schlichen die Kellner mit
müden Schritten, in lauernder, schläfriger Hal-
tung, als wollten sie das erlösende „Kellner,
zahlen!“ herausfordern. . .Wir merkten es nicht. Oder vielmehr: wir
wollten es nicht bemerken. Der unvermutete
Tod eines lieben Freundes hatte etwas Ge-
heimnisvolles in uns wachgerufen, das
uns nicht zur Ruhe kommen ließ. Wir
sprachen über Vorahnungen, und jenes un-
faßbare, dunkle Grauen vor dem Unverständ-
lichen, Uebernatürlichen, das selbst den größten
Zweifler in gewissen Stunden überrieselt, saß
an unserem Tische. Der Schriftsteller, der eine
leichte Neigung zum Mystizismus nicht ver-
leugnen konnte, meinte, er wisse es bestimmt,
daß er nicht eines natürlichen Todes sterben
werde. Mehr war anfangs aus ihm nicht heraus-
zubringen. Endlich gestand er mit schlecht ge-
spieltem Gleichmut, er habe die sichere Ahnung,
er werde einmal von scheu gewordenen Pferden
überfahren werden.„Unsinn!“ — — — „Ammenmärchen!“ — „Aber-
glaube!“ schrien einige Stimmen durcheinander.Bloß der Arzt schüttelte den Kopf: „Merk-
würdig. Sehr merkwürdig. Sie glauben an
diesen Blick in die Zukunft?“Der Schriftsteller errötete unmerklich, wie
Menschen es tun, wenn sie befürchten, eine
Blöße gezeigt zu haben. Schüchtern sagte er:
„Warum nicht? Können Sie das Gegenteil be-
weisen. Hat man nicht bis vor einigen Jahren
über die Telepathie gespottet und sie einen Aber-
glauben genannt? Heute, wo die Röntgen-strahlen, die Telegraphie ohne Draht alle bis-
herigen Vorstellungen von Kraft und Stoff,
von der Materie und dem Raume über den Haufen
geworfen haben, heute lächelt man nicht mehr
mitleidig über die armen Phantasten, die wie der
nordische Magier Swedenborg Dinge sehen, die
außer der Gesichtsweite ihres physischen Auges
stehen. Warum sollte ich zweifeln, daß auch der
„Blick in die Zukunft“ auf dieser Welt seine
Erklärung finden wird?“„Ach was,“ rief der Advokat aus, „das sind
ja doch müßige Phantastereien. Ich kann euch
da ein Beispiel aus meiner Erfahrung mit-
teilen, das ebenso interessant als belehrend ist.
Ich lag schwer krank zu Bette. Plötzlich erwache
ich mit Herzklopfen und höre eine laute
Stimme, die mir folgende Worte förmlich ins
Ohr schreit: „Du wirst noch vierzehn Tage
leben. Nütze diese Zeit aus.“ Gerade nach vier-
zehn Tagen war ich auf hoher See. Ein
furchtbarer Schirokko schleuderte unseren
kleinen Dampfer von der rechten auf die linke
Seite, und umgekehrt, so daß wir uns nicht
aufrechthalten konnten. Da fiel mir meine
Prophezeiung ein, an die ich fast vergessen
hatte. Ich war merkwürdig ruhig, wie ein
Forscher, der eine große Entdeckung machen soll
und dabei sein Leben riskiert. Wie ihr seht, bin
ich nicht gestorben — und das Schiff kam
selbstverständlich unbeschädigt in den Hafen.
Wenn ich aber durch Zufall zugrunde gegangen
wäre und der prophetische Traum, meine aus
dem Unbewußten nach außen projizierte Angst,
wenn diese unangenehme Halluzination meiner
Umgebung bekannt gewesen wäre, hätte man
einen neuen Beweis für die Wahrheit der
Ahnungen konstruiert. Wir haben so viele
Ahnungen, die nicht in Erfüllung gehen, daß
die wenigen, die zufällig in Erfüllung gehen,
gar nicht in die Magischale fallen. Es geht uns
ja immer so im Leben. Wir sprechen vonunserem „Pech“, weil wir uns die Fälle, wo
wir Glück gehabt haben, nicht merken. Das
Glück eilt rasch vorbei. Das Unglück schleicht
träge. Uebrigens kenne ich keinen sicheren Fall
einer eingetroffenen Prophezeiung. Denn diese
verschiedenen amerikanischen und Berliner
Propheten, die jetzt angeblich solche großartige
Beweise ihres zweiten Gesichtes gegeben haben,
imponieren mir nicht. Sie haben keine einzige
Prophezeiung präzise und exakt ausgesprochen,
und allgemein gehaltene Orakelsprüche sind
dehnbar wie ein Gummiband und passen fast
auf alles. Ein großer Brand, ein verheerendes
Erdbeben, ein mördermordender Krieg wird
selten einen Propheten Lügen strafen. Irgendwo
in der weiten Welt brennt es einmal im Jahr,
irgendwo bebt die Erde und irgendwo gehen
die Gewehre los. Und so glaube ich nicht, daß
unser lieber Freund von scheuen Pferden zer-
stampft werden wird. Es sei denn, sein Pegasus
sei der Mißhandlung müde und werfe ihn mit
einem Ruck zu Boden.“Es wurde einige Sekunden stille. Wir hatten
die Empfindung, daß der boshafte Witz des
Advokaten jetzt nicht am Platze war. Der Arzt
brach das Schweigen: „Was werdet ihr dazu
sagen, liebe Freunde, wenn ich euch mitteile, daß
ein bedeutender Forscher und Psychologe in
dem Archiv der Psychologie einen Fall mit-
geteilt hat, der die Möglichkeit eines Blickes in
die Zukunft zu bestätigen scheint. Ich sage nur
scheint, weil eine Erklärung vorhanden ist, die
das Uebernatürliche in das Natürliche zurück-
versetzt. Der betreffende Arzt – der bekannte
Mourlon – wurde wiederholt von einem
jungen Manne konsultiert, der an merkwürdigen
Angstzuständen litt. Tag und Nacht verfolgte
ihn der Gedanke, er werde von einem hohen
Berg in einen tiefen Abgrund stürzen und so
seinen Tod finden. Alle Logik, alles Zureden
war dieser Ananasvorstellung gegenüber macht-los. Mourlon hatte gut reden, er möge ein-
fach immer im Flachland bleiben, so entfalle
ja die Möglichkeit dieser schrecklichen Todesart.
Der junge Mann ward schwer melancholisch und
konnte zu keinem rechten Lebensgenuß kommen.
Wer beschreibt das Erstaunen des erfahrenen
Psychologen, als er eines Tages in der Zeitung
las, der betreffende Patient habe einen Spazier-
gang in einem Alpenkurort gemacht und sei an
einer steilen, aber leicht zu passierenden Stelle
so unglücklich abgestürzt, daß er sofort den Tod
gefunden habe.“Der Schriftsteller triumphierte: „Doktor, jetzt
haben Sie sich selber geschlagen. Wenn das kein
Blick in die Zukunft ist, so gibt es überhaupt
keinen.“„Gemach! Gemach!“ erwiderte der Arzt. „Ich
habe ja gesagt, daß die Erklärung nachkommt.“Wir waren alle sehr gespannt, wie ein so
seltsames Erlebnis ohne metaphysische Hilfs-
mittel zu erklären wäre. Der Arzt zündete sich
eine neue Zigarre an und fuhr fort: „Was ist
eigentlich Angst? Ihr wißt es ja alle, ich habe
es hier wiederholt besprochen: Angst ist ein ver-
drängter Wunsch. Wenn zwei Wünsche mitein-
ander um die Herrschaft streiten, wird der unter-
liegende im Bewußtsein als Angst empfunden.
Das junge Mädchen hat Angst, wenn sie das
erstemal mit ihrem Geliebten allein im Zimmer
ist. Vorläufig ängstigt sie sich vor dem, was sie
später vielleicht wünschen wird. Der melancholi-
sche Jüngling war offenbar lebensüberdrüssig.
Einmal mag ihm der Wunsch gekommen sein,
dem Leben durch einen Sturz aus einer bedeu-
tenden Höhe ein Ende zu machen. Aus einer
Höhe, wo ein Mißlingen des Selbstmordes un-
möglich war. Dieser Wunsch mag ihm im Traume
der Nacht aufgestiegen, irgendeinmal vor dem
Einschlafen zwischen dem wirren Reigen schlaf-
trunkener Gesichte aufgetaucht sein. Wer weiß
es? Aber er muß bestanden haben, ehe ihn derS.
Wille zum Leben verdrängte und zur Angst
machte. Und die prophetischen Ahnungen waren
nichts anderes als die mißverstandenen Stimmen
seines Innern. Und der räthselhafte Tod war
nichts anderes als — ein Selbstmord. Ich habe
vergessen, euch zu erzählen, daß den Zeitungs-
berichten zu entnehmen war, er habe sich an den
Rand eines Abgrundes hingesetzt und sei ein-
geschlafen. Am Schlafe sei er dann hinunter-
gestürzt. Als wenn ihn die Stimmen seiner
Träume zugeraunt hätten: „Vollende das, was
du dir so sehnlichst wünschst. Sterbe. Jetzt hast
du die Gelegenheit dazu.“ Es kam eben der
Augenblick, wo die Angst zum stärkeren Wunsche
wurde.“Der Schriftsteller war blaß geworden. Die
Erklärung schien etwas in seinen untersten
Schichten aufgerüttelt zu haben. Sein Herzklopfe
machte jene automatische Bewegung, wie sie
unsere Verlegenheit verrät, als ließe sich nicht
das rechte Wort finden. Mit merklich rauher,
unkontrollierter Stimme sagte er, nicht ohne sich einige
Male energisch zu räuspern, um die Stimme
wieder rein zu bekommen: „Das würde ja auf
die verschiedenen Abstürze im Gebirge ein merk-
würdiges Licht werfen. Ihr erinnert euch, daß
vor kurzer Zeit ein bekannter Tourist von einem
ungefährlichen Weg abgestürzt ist. Er war hoch
versichert und die Versicherungsgesellschaften
hätten gern aus dem Unfall einen Selbstmord
konstruiert. Kann auch in diesem Falle eine „un-
bewußte“ Nacht mitgespielt haben?“„Sicherlich!“ rief der Arzt aus. „Sicherlich.
Es ist wenigstens meine Ueberzeugung, daß
viele Menschen in den Bergen nichts anderes
suchen als den Tod. Wenigstens habe ich so
viel Touristen getroffen, die vom Leben nichts
mehr erhoffen wollten. Wer den Tod nicht
fürchtet, der liebt das Leben nicht. Oder zum
mindesten liebt er es nicht so, daß er es nicht
aufs Spiel setzen würde. Habt ihr denn eine
Ahnung, wie vieles von dem, was wir machen,aus „unbewußten“ Motiven zustande kommt?
Immer geht neben uns ein Schatten, „der
andere“, der auch etwas mitzureden hat. So
lange er nur ein Schatten ist, wird er ja nicht
gefährlich. Wehe — wenn der Schatten sich
materialisiert, wie die Spiritisten sagen. Der
Tourist macht einen falschen Tritt und stürzt in
den Abgrund. Wer hat seinen Fuß gelenkt? Der
Zufall — oder der Wunsch, der so lange talen-
tos unter der Schwelle des Bewußtseins ge-
schlumert hatte? Oder beim Emporklettern auf
einer steilen Felswand verlassen einen die
Kräfte und man saust in die Tiefe. Wer kann da
entscheiden, wie sich die Dinge zugetragen haben?
Einen kurzen Moment lang mußte der Kletterer
ja denken, wenn du jetzt losläßt, so fällst du in
die Tiefe und bist tot. Im nächsten Moment
kann der Befehl aus den verdrängten Vor-
stellungskomplexen gekommen sein: ‚Tue es. Du
bist dann frei und erlöst von aller Qual.’ —
Auch der junge Mann hätte ja in der Ebene
bleiben können, wie es ihm Mourlon geraten
hatte. Er zog es vor, in die Berge zu gehen.
Besser ausgedrückt: Es zog ihn zu den Bergen.
Dieselbe Kraft war es auch, die ihn in den Ab-
grund geschleudert hat: Die Lebensmüdigkeit.
Seine Erholungsreise war tatsächlich vom
Hause aus schon eine Reise in den Tod. Er
reiste seinem Schatten nach, wie ...“Er sprach den Satz nicht zu Ende. Die
Zigarre war ausgegangen. Er setzte sie wieder in
Brand und starrte mit weit geöffneten Augen
in die Ferne, als wollte er noch mehr sagen und
es fehle ihm dafür das rechte Wort.Eine Zeitlang war es still, und dann ließ
sich der Advokat vernehmen: „Sehr interessanter
Fall. Könnte man ihn nicht verallgemeinern?
Könnten nicht eine Menge von den anderen Un-
fällen des Tages ,unbewußte Selbstmorde’ sein.
Der Schwerhörige, der von der Elektrischen
überfahren wird, der verunglückte Schwimmer,
der vom Krampf überwältigt wird, das auffällige
losgehen eines geladenen Revolvers — alle
diese kleinen und großen Zufälligkeiten, haben
sie nicht ihre schattenhafte Motivierung?“„Freilich haben sie es,“ erwiderte der Arzt.
„Freilich. Es sind ja diesbezüglich sehr genaue
Analysen von modernen Psychologen angestellt
und veröffentlicht worden. Wir wissen ja eigent-
lich so wenig von dem, was wir machen, und
noch weniger, weshalb wir es machen. Unsere
Empfindungen, unsere Gefühle sind ja erst die
Resultierenden aus zahllosen Komponenten, sind
nur Spannungen, die von gärenden Kräften
dunkle Kunde geben. Wir glauben zu treiben
und werden getrieben, wir glauben zu ent-
scheiden und nehmen doch nur die Entscheidun-
gen des ‚anderen‘ zur Kenntnis.“„Und der Blick in die Zukunft?“ sagte der
Schriftsteller ...„Ist eigentlich nur der Blick in die Ver-
gangenheit. Was wir uns wünschen, können wir
uns leicht prophezeien, was wir nicht abzuwenden
willens sind, können wir leicht ahnen. Aus
unseren verschwundenen Tagen verdichtet sich
die Erkenntnis, die einen Blick in die Zukunft
gestattet. Die Wünsche der Kindheit bestimmen
unsere ganze Entwicklungslinie. Wir könnten
eigentlich alle unsere Zukunft lesen, wenn wir
imstande wären, die kindlichen Gefühle zu
neuem Leben zu erwecken. Was wir als Kinder
geträumt haben, das wollen wir als Erwachsene
erleben. Und wenn wir es nicht erleben können,
so zieht es uns ins Land der ewigen Träume
zurück. Das gilt ebenso von der Menschheit als
die Vergangenheit studieren, können wir die
Zukunft unserer Gegenwart erblicken, können
sicher prophezeien, daß unsere moderne, hoch-
moderne Zeit mit ihren zahllosen Torheiten,
mit ihren Kämpfen und Idealen, mit ihren
Bestrebungen und Erfindungen so weit überholt
sein wird, wie wir die Ahnen überholt zu haben
glauben. Wissenschaft und Kunst, Politik undöffentliches Leben — alles ein ewiger Kreis-
lauf einer unbekannten Entwicklung zu ...“„Sie glauben also nicht, auf meinen Blick
in die Zukunft zurückzukommen?“ — unter-
brach der Schriftsteller den Arzt —, „daß ich
von scheuen Pferden zertreten werde?“Der Arzt lächelte überlegen. „Denken Sie
doch nach, ob Ihre Ahnung nicht ihre Wurzeln
in der Vergangenheit stecken hat.“„Jetzt fällt es mir ein,“ rief der Mystiker:
„Meine Mutter hat mir immer prophezeit, ich
werde nicht eines natürlichen Todes sterben.
Ich war ein wilder Knabe und machte mir auch
sehr viel im Stalle mit unseren Pferden
zu schaffen. Am höchsten Zorn pflegte dann
mein liebes Mütterchen verschiedene düstere
Prophezeiungen über mein Schicksal vom
Stapel zu lassen.“Das Rätsel seines Blickes in die Zukunft war
so sehr einfach gelöst. Der Arzt meinte noch,
auch dieser Fall zeige, wie innig Aberglaube
und Schuldbewußtsein zusammenhängen. Der
vermeintliche Blick in die Zukunft war auch
beim Freunde nur ein Dämmerlicht aus der
Vergangenheit.
Der Kellner gähnte laut. Diesmal verstanden
wir seinen Wink und zahlten. Wir gingen heim
und etwas Drückendes, Unausgesprochenes
lastete auf uns allen. Als ob wir mit derLösung des Rätsels nicht einverstanden wären.
Als ob uns der schaurig-süße Aberglaube von
übersinnlichen Mächten, von einem etwas, das
über uns hinaus denken könnte, lieber gewesen
wäre. Schweigend schritten wir durch die
stillen Gassen. Wir fühlten uns wie Kinder,
denen die Mutter gesagt hatte, das schöne Mär-
chen sei nur Erfindung — der Prinz und die
Prinzessin hätten nie gelebt. Ein Märchen des
Lebens war uns geraubt worden. Pfui! Lieber
diese nackte, nüchterne, leere Wirklichkeit. Wäre
es nicht viel schöner, wenn wir in die Zukunft
sehen könnten?Dr. Wilhelm Stetel.
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