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Diskussion:
Adler findet in Grafs Ausführungen manches anregend und not-
wendig; doch glaubt er nicht, dass sich vorläufig irgendwelche Regeln
aufstellen lassen, nach denen man Dichterpsychologie treiben könnte.
Es liessen sich leicht weitere Hinweise anschließen, die ebenso wichtig
wären. So wäre besonderes Gewicht auf das Jugendwerk, natürlich
im Zusammenhang mit den anderen, zu legen. – Mit der Technik
komme man auf gewisse Grundbedingungen der Konstitution, der
Entwicklung, der Charakteranlage.Es würde sich vielleicht empfehlen ohne künstlerische Qualifikation,
beschränkt auf die Freudsche Technik, sich ein Gerippe zu, machen,
das die Seelenströmung im Dichter darstellt.Schwerdtner schließt sich den Ausführungen Grafs an. –
Pathographien lassen sich von den wenigsten Dichtern, Psycho-
analysen von den meisten schreiben. – Die Briefe der Künstler
müsse man dabei zu deren Werken zählen. –Prof. Freud hat schon voriges Mal seine prinzipielle Überein-
stimmung mit Graf hervorgehoben und will sie nun aus-
führend nach einer Seite ergänzen.Gegenstand der Pathographie kann jeder Dichter werden, der
Neigung zum Abnormen zeigt. Die Pathogr. ist jedoch nicht
imstande, etwas neues zu zeigen. Die Psychoanalyse dagegen gibt
Auskünfte über den Schaffensprozeß. Die Psychoanalyse ver-
dient einen Platz vor der Pathographie.Wenige Anhaltspunkte und Voraussetzungen zu solcher Dichter-
psychoanalyse sind gegeben:Die Beziehungen von Schöpfung und Leben des Dichters.
1. Satz (aus dem Vortrag: Der Dichter und das Phantasieren): die
dichterische Produktion teilt im allgemeinen denS.
Mechanismus des Tagtraums; die „herrschenden Motive “ (Grafs)
sind die den Dichter beherr-schenden „durchlaufenden“ (Freud)
Wünsche.Hinzufügen könne er einen
2. Satz: das Prinzip der Umordnung der Elemente; das be-
sonders bedeutsam für die Analyse der Mythen u Sagen sei –
Verhältnis zwischen dem Inhalt des Bewussten und Unbewusten:
die Elemente sind dieselben, die Anordnung ist
mannigfach verändert.3. Satz: die Heraushebung der Typen nach Grafs Andeutg.
4. Satz: besondere Betonung des Jugendwerks nach Adlers „ . –
mit diesem Kapitel könne man versuchen aus den Werken auf
den Prozess des Künstlerischen Schaffens zu schließen. –Anfechtbar sei Grafs Satz: die dichterische Produktion gehe aus dem
Verdrängten hervor. – Er verwechsele dabei Unbewusstes und
Verdrängtes, was doch nicht identisch sei:Für die typischen Motive sei die Gradiva ein schönes Beispiel.
In den beiden Novellen Jensens, auf die Jung aufmerksam machte
(Der rote Schirm und Im gotischen Haus) handelt es sich um
nahe Verwandte die geliebt werden: Cousine, Halbschwester.
Die Grundlage der ganzen Sache ist also Jensens Verhältnis zu
einer kleinen Jugendgespielin, vielleicht einer Schwester.
Eskönnte etwa so zugegangen sein, dass der Dichter einen
mächtigen Eindruck hatte, der einen unbefriedigten Wunsch
hinterlassen hatte (etwa der Verlust dieser Gespielin). Das
Relief,hattedas ihn an die Schwesster erinnert, hatte nun
plötzlich als er es sah eine neueErweckung dieses Wunsches
hervorgerufen. Auf dieses Erlebnis hat er dann in ver-
schiedener Weise reagiert; man könnte die drei Novellen
durch drei Formeln ersetzen.1. heißt übersetzt: Ich kann niemand mehr gern haben
S.
seit ich sie verloren habe (ginge etwa auf ein Erkalten in der Ehezurück).
2. Wenn sie auch am Leben geblieben wäre, hatte ich sie doch
verlieren müssen: als Frau einem anderen Mann übergeben. –
Er weist ihnen hier nach, daß sie keine Geschwister sind. –3. Ich werde sie wiedersehen; im tröstlichen Sinne. Auf-
erstehungsglaube.Diese Gespielin (die er sich vielleicht wegen Mangels einer Schwester
in der Phantasie zur Schwester erhoben hat, oder die es vielleicht
wirklich war) dürfte ein kränkliches Kind gewesen sein. Diese
Krankheit – etwa wie ein Spitzfuß)– wäre verklärend von der
Phantasie verwischt worden. Auf dem Relief hätte er nun
gesehen, wie diese Krankheit auch zu einem Vorzug umge-
deutet werden könne.Diese Lösung sei vielleicht zu einfach; sie könne aber doch
vielleicht auf einem komplizierteren Wege recht behalten.
Es könnesich um sein Kind handeln etc. –Shakespeare sei ein günstiges Objekt der psychol. Methode,
um so mehr, als Brandes sehr gut vorgearbeitet habe. Im Hamlet
lägen die Beziehungen zu den persönlichen Umständen im
Leben des Dichters klar zutage. Die Dichtung sei die Reaktion
auf den Tod seines Vaters und Sohnes.Die Zeit der Verbitterung lasse den Verdacht auf eine luetische
Infektion aufkommen (Timon!). – Macbeth zeige was
ein Dichter aus einem Gelegenheitsgedicht zu machen vermöge.Wittels hält diesen Weg, Dichterbiographien zu schreiben, nicht für
den Richtigen. Denn man wäre leicht versucht, dieses unge-
schriebene Lexikon der unbewussten Bedeutungen, das man
im Kopf habe, anzuwenden. Es wä- re lohnender mit den
Freudschen Lehren an das Leben selbst heranzutreten; den
Leuten die sexuelle Not plausibel zu machen. Die Dichterpsychologien
nutzen im gegenwärtigen Augenblick weder den Freudschen Lehren
noch den Leuten.S.
Sadger polemisiert gegen die von Graf angedeutete Methode.
Er schreibe Pathographien aus rein medizinischem Interesse
und nicht um¿¿¿¿¿den Prozeß des künstlerischen Schaffens
aufzuklären; der übrigens auch durch die psychoanalytische
Deutung nicht klar werde. Grafs Methode sei nichts als
die uralte der Literarhistoriker, die Leben und Dichtung ver-
glichen, vermehrt um den Schlüssel, den uns Freud an
die Hand gegeben hat. – Wie schwer und gewagt es ist, aus den
Werken auf das Leben zu schließen, habe er schon voriges Mal aus-
geführt.Das Rätsel wieso das Unbewußte des Dichters auf einmal
vorbewusst wird sei auch durch Grafs Methode nicht zu lösen.Nach dieser prinzipiellen Polemik macht Sadger noch
einige Einwendungen gegen einzelne Behauptungen Grafs.
So dass die Dichter zweiten Ranges häufiger pathologische Züge auf-
weisen als die ersten Ranges; er führt zum Gegenbeweis Kleist, Grillparzer
u. a. an.Er kommt zum Schluss, dass die rein psychoanalytische Methode
weiter auch gar nichts erkläre.Federn möchte zu Satz 1 des Professors vorschlagend erwähnen, dass
das, was den Künstler in Vorteil vor den Tagträumer setzt, der
Umstand ist, daß die künstlerischen Tagträume viel mehr die
Art des Spiels beibehalten. – Das Ehrgeizmotiv liesse sich
dabei vielleicht mit dem Spielmotiv in eine höhere Kategorie
vereinigen: in die der Herrschsucht, des Machtwunsches. Der
Dichter kann die Personen darstellen wie er will. – Was Graf er-
höhte Lebensenergie nenne sei eine höhere Form der Fähigkeit,
das Unbewusstedespsychisch arbeiten zu lassen. Das
Unbewusste arbeitet richtig (niemals falsch) auf einer
höheren Stufe von Außenweltsentsprechung. Er geht der Entwicklung
voran und ist durchaus keine Degenerations-Erscheinung.S.
Der Künstler ist niemals – wie Sadger meint – durch die Gesetze des künstlerischen
Schaffens gehemmt: sie sind keine Hemmung, sondern ein Analogon
seiner künstlerischen Fähigkeiten.Hitschmann bemerkt, man müsste zunächst versuchen bei den großen
Dichtern das Spezifische jedes einzelnen herauszubekommen. – Dann wäre
zu untersuchen, warum ein produktiver Mensch sich gerade in dieser
künstlerischen Form äussert (Graf erklärt diese Frage durch die Theorie
der erogenen Zonen gelöst). – Bei Shakespeare weise Brandes
ähnliche Figuren zu gewissen Zeiten nach (periodisch) was be-
achtenswert sei. –Rank hebt zunächst hervor, dass Graf unser aller Standpunkt, die
wir anknüpfend an die Methode von Prof. Freud uns mit dem Seelen-
leben der Dichter beschäftigen, präzisiert habe. Einzelne per-
sönliche Meinungsver- schiedenheiten und Abweichungen seien
ja von verschiedenen Seiten vorgebracht worden. –Es interessieren uns vorläufig gar nicht die Erlebnisse des
Dichters (sein äußeres Leben), sondern ihre Verarbeitung (das
Innenleben).Prof. Freud rügt die Hereinziehung des viel größeren, umfang-
reicheren Problems, des Verhältnisses zwischen Bewusstem und Uba.
durch Sadger. Dieses Problem könne nur die Theorie lösen.Graf wendet sich in seinem Schlußwort hauptsächlich
gegen Sadgers Ausführungen, der allein ernstlich polemisiert
habe. Er nimmt zunächst die Literarhistoriker in Schutz, die
uns gleichsam die „Tagesreste“ bringen. Die Frage Sadgers, wie man
aus den entstellten Werken die Psyche des Dichters erklären soll
erledige sich mit dem Hinweis, dass die Wissenschaft überhaupt
nichts erklären solle; sondern sie solle sich bemühen lücken-
lose Beschreibungen zu liefern. –
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Zehnter Vortragsabend am 11. Dezember 1907. Methodik der Dichterpsychologie. Dr. Graf
1907-528/1907
/1907
Vollständige Manifestation
Protokoll
Papier
Fertig ✔
Fertig ✔
Nicht erforderlich/
Teilweise -
Fehlt ✖
Ja
Nee
3
Blatt/Blätter
Handschrift (Latein)
Deutsch
Unbeschädigt
Original
Archiv Wiener Psychoanalytische Vereinigung
Text in Werkausgabe