Über Naturgefühl 1911-532/1912
  • S.

    Über Naturgefühl.

    Von Dr. HANS SACHS.

    Das ist das Gefühl, womit wir an der
    Natur hängen, dem Gefühle, so nahe verwandt,
    womit wir an der Natur des Kindes, an der
    kindlichen Unschuld beklagen.

    SCHILLER: Über naive
    und sentimentalische Dichtung.
    Einem gelang es – er hob das Siegel vor der
    Göttin zu Salis –
    Aber was sah er, sah – Wunder, ach Wunders,
    sich selbst.

    NOVALIS, Die Lehrlinge zu Sais.

    Wenn wir die von Freud aufgestellten zwei Prinzipien des
    psychischen Geschehens auf das Verhältnis des Menschen
    zur umgebenden Natur anwenden, müssen wir zu zwei
    Möglichkeiten der Einstellung gelangen: im Dienste des Realitäts-
    prinzips sucht der Mensch sich vor den Gefahren der Natur zu
    sichern, sie zu beherrschen und seinen Bedürfnissen nutzbar zu
    machen. Das ursprüngliche Lustprinzip lässt ihn hier wie überall
    versuchen, unmittelbar Lust zu gewinnen, ohne den Gedanken an
    spätere Folgen und Zwecke. Das Organ solcher Lust, die uns die
    Natur ohne Rücksicht auf Kleidung und Nahrung, ja sogar in ihrer
    wildesten Entfesselung, mit der sie uns das Leben zu graffen droht,
    gewährt, nennen wir Naturgefühl. Allerdings gibt es noch eine
    dritte Möglichkeit der Stellungnahme: die Naturwissenschaft, diese
    ist aber für unsere Untersuchung minder geeignet, da sie ein Ver-
    mittlungsprodukt jener ersten beiden darstellt. Das Begehren nach
    Bändigung der Naturgewalt vermählt sich mit dem aus ursprünglichen
    Lustquellen stammenden Forschungsbetrieb. Unser Objekt bleibt die
    von keinem Zweckgedanken berührte „Naturlust“; wir versuchen also
    psychologische Betrachtung eines ästhetischen Problems. Für die Ästhetik
    stünde das Naturgefühl des Künstlers und der Ausdruck, den er
    ihm in seinem Werke schafft, im Mittelpunkte; nicht so für uns, die
    im Kunstwerk neben dem Problem des Naturgefühls noch ein zweites
    sehen, das jener erste, verderb- und undeutlich macht, nämlich die
    drei Fragen nach der Psychologie des Künstlers. Welche Not schafft
    ihm das gesteigerte Bedürfnis nach Ausdruck? Welche Weisung läßt
    ihn die Form seines Ausdrucks finden? Und welches Gesetz zwingt
    uns, das mitzuerleben, was er in Ausdruck, nicht Erkenntnis, gefunden
    hat? Wir werden diesen Fragen aus und bleiben bei dem allen
    meinen Phänomen stehen, wie es zu allen Zeiten und bei allen
    Völkern nicht bloß bei ausgezeichneten Einzelnen, sondern bei jedem
    Durchschnittsmenschen, wenn auch in sehr verschiedener Form und
    Intensität zu finden ist. Unsere Beispiele werden wir natürlich bei den
    Künstlern suchen müssen; wir wollen sie aber nur als die gedräng-
    teste und gelungenste Wiedergabe dessen, was alle Menschen der
    Epoche empfanden, verwerten.

    *Jahrbuch III/I, S. 1 ff.

  • S.

    120 Dr. Hanns Sachs.

    Wenn wir nun darangehen, zum Einzelnen hinabzusteigen,
    verwirrt die Vielzahl und buntscheckige Mannigfaltigkeit der i
    scheinungen unseren Blick. So viel Völker und Stämme, so viel
    Verschiedenheiten. Und innerhalb der Völker noch der Wechsel,
    wie ihn die Wandlungen der Geschichte, das steigende und sinkende
    Niveau der Kultur hervorbringt! Und innerhalb jeder Epoche die
    Verschiedenheit der sozialen, religiösen, ästhetischen Gruppen und
    Verbände! Um Überblick und Ordnung zu gewinnen, liegt es uns
    ob, Typen zu bilden, wenn es uns auch bewußt bleiben muß, daß
    es dabei ohne Entstellung und Einseitigkeit nicht abgehen kann.
    Sollen uns die Typen lehrreih sein, so werden wir von ihnen
    dreierlei fordern: Klare Abgrenzung von einander, hinreichende Ver-
    schiedenheit des Inhaltes, damit, was von einigen gefolgert wurde,
    mit Wahrscheinlichkeit als für alle giltig angenommen werden kann,
    und Bekanntheit ihrer wesentlichen Züge, um unnötigen Ballast an
    Erklärungen und Zitaten zu vermeiden. Da bieten sich uns zwei,
    die diesen Bedingungen genügen, fast von selbst an. Das Natur=
    efühl des frühen Griechentums, wie es in den Homerischen Epen
    аи dica wurde, und jenes unserer Gegenwart, das, wo nicht
    scharf umrissen, uns doch unmittelbar verständlich ist. Nur zur un=
    zweideutigen Fixierung sei der Hauptpunkt seines historischen
    Werdens (nad J. Ва genannt: Petrarca und seine Besteigung
    des Mont Ventouse, und mit einigen Namen seine Umgrenzung ab=
    gesteckt: J. J. Rousseau, Goethe, Eichendorff, Bódilin, Verlaine.

    Um uns die Lebhaftigkeit unmittelbarer Anschauung zu sichern,
    wollen wir für jede der beiden Typen ein Musterbeispiel wählen.
    Für die erste die Beschreibung der Insel der Kalypso, vielleicht die
    Shien und schönste Naturschilderung bei AM «Odyssee

    ir 03 15:

    0m de 67805 apu TEQULEL て ①Aeooow

    xAndon イ alyewos TE NAL edwdnę xcasoSaoo
    und weiter

    xonvar Об его toupes feov Обала Jeune

    TANGO CANNADY TETOXU џема wdc an

    «up. de Jewwves pzzxor lov 705 oshtvou

    ⑨yeoy, žydo x'enerra xa 0000006 пер вле) Фу

    ⑨ymoxrro Sov xa Teppdern фресту Now,

    Dicht um die Hóhfung wuchs ein Wald verschwisterter Kronen,
    Erlen und Zitterpappeln und duftende schwarze Zypressen,

    Quellen lauteren Wassers entsprangen viere beisammen,

    Eine der andern nah und wandten sich hierhin und dorthin,

    Rings von schwellender Wiese umblüht mit Veilhen und Eppid,

    Daß ein Unsterblicher selbst, der je des Weges daherkåm,

    Stünd' und weilte verwunderten Aug's und freudigen Herzens.
    (Ubersetzt von Rudolf Alexander Schroder.)

    Und daneben eine Stelle aus »Werthers Leiden< :

  • S.

    Über Naturgefåhl. 121

    »Wenn das liebe Tal um mich dampft und die hohe Sonne
    an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes
    ruht und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen,
    ich dann im hohen Grase am fallenden Bach liege, und näher an
    der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden,
    wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen den Halmen, die
    unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen
    näher an mein Herz fühle... wenn’s dann um meine Augen
    dämmert und die Welt um mich her und der Himmel ganz in
    meiner Seele ruhn, wie die Gestalt einer Geliebten . , .«

    Wir sehen sogleich, daß die zweite Stelle mit Gefühlse
    äußerungen bis zum Rande gefüllt ist, an denen es der ersten
    völlig fehlt. Sie gibt nichts als eine Beschreibung, die fast eine Auf-
    zählung genannt werden kann, allerdings von einziger Anschaulichkeit
    und Unmittelbarkeit, doch nahezu völlig ohne subjektiven Gefühlston.
    Sollte dies etwa bedeuten, daß die gefühlsmäßige Einstellung zur
    Natur bei den Griechen des Homerischen Zeitalters nur schwach
    entwickelt war? Wir wissen, daß das Gegenteil zutrifft. Ihre
    wichtigste Gefühlsäußerung, die Religion, war von Naturgefähl
    durchtränkt, ja zum Teil auf dem Naturgefühl aufgebaut. Die
    Sonne sahen sie als heldenhaften, pfeilbewehrten Bogenschützen, die
    heranbrausenden Wogen als Rossegespann, gelenkt und befeuert
    von einem ungeheuern Greise, in Busch und Baum, Bach und
    Auen lebten verborgen göttliche Wesen. Das Naturgefühl der
    Antike war also nicht minder stark, nur äußerte es Så, nicht in
    Schilderungen und Beschreibungen, nicht in direkter Wiedergabe,
    sondern auf einem Umweg: Durch Personifikation der
    Objekte, denen das Gefühl galt.

    Dieser Mechanismus hat um so größeres Anrecht auf genaue
    und eingehende Würdigung, als er nicht allein der Antike angehört.
    Die eigentimliche Tendenz die unbelebte Natur zu personifizieren
    und die so geschaffenen Gestalten als göttlich anzubeten, finden wir
    bei allen Völkern bis zur Erreichung einer bestimmten Kulturhôhe
    verbreitet und in spateren Zeiten dol höchst bedeutsame Spuren und
    Reste davon bis auf unsere Tage, sie ist bezeichnend für ein Früh-
    stadium der Entwicklungsgeschihte des Mensdiengeistes, das die
    Wissenschaft als die spadł des Animismus« bezeichnet,
    Um eine Erklärung dafür zu finden, werden wir uns nur auf
    absolute, ubiquitire Phänomene beschränken und bis in die früheste
    und dunkelste Zeit zurückgehen müssen.

    Zum Ausgangspunkt dieser Entwicklung nehmen wir den
    Menschen, dem noch die Fähigkeit fehlt, ein anderes Wesen als
    gleichgesetzt, als erkennendes und fühlendes Subjekt, wie er selbst
    eines ist, zu werten. Der Einzelne ist noch allein in der Welt; mit
    anderen Worten ausgedrückt, er ist nicht nur das Subjekt, sondern
    auch das ausschließliche Objekt seiner Sexualität — seine libido
    ist narzisstisch. Das Stadium der Hetero-Erotik (Objektliebe)

  • S.

    122 Dr. Hanns Sachs.

    ist noch nicht erreicht, wenn er bei der Befriedigung seiner Sexualität
    auch die Außenwelt in Anspruch nimmt, so geschieht dies doch ohne
    Libido-Besetzung, d. h. oline psychischen Anteil an den dabei bes
    nützten Gegenständen (die für ihn nod keine Individuen sind). Wie
    und warum dieses Stadium sein Ende fand, können wir nicht ent=
    fernt ahnen. GewiB ist aber, daß die Objektliebe als erster und
    wichtigster Schritt der psychischen Entwicklung, als Grundbedingung
    jeder Külturmöglichkat sobald sie einmal im Seelenleben ihren Platz
    eingenommen und ihre Wirkungen entfaltet hatte, mit allen Mitteln
    bewahrt und gepflegt werden mußte. Der Narzilimus dagegen, der
    die Gefahr des Rückfalles in den früheren Zustand bedeutete, sollte
    fortan unterdrückt und gemieden werden, Wir haben es hier offenbar
    mit dem Urfall der Verdrängung zu tun, der Verdrängung der Ich~
    Liebe und dem Aufstieg zur Libido-Besetzung des Außer-Ich. Diese
    erste Verdrängung macht jeder Einzelne auch en noch ebenso mit,
    wie einst die ganze Menschheit: es ist der Riesensdhritt, den das
    Kind tut, wenn es andere Wesen als seinesgleichen schätzen lernt,
    d. h. ihnen dieselben Empfindungen, die es selber hat, zugesteht,
    oder richtiger ausgedrückt, mit ihnen mitempfindet. Dieses Mit-Leid
    beweist, dab es dem Kinde gelungen ist, sich mit einer anderen
    Person zu identifizieren, sie nach dem glüdli…ien Ausdrucke
    Ferenczis zu »introjizieren«, so wird die Liebe zur Schule der
    Erkenntnis einer fremden Individualität, Der Medanismus der Vers
    drángung ist hier noch keineswegs differenziert und man könnte
    vielleicht ebensogut von einer Sublimierung des NarziBmus
    zur Objektliebe sprechen. Festzuhalten bleibt aber jedenfalls, daß
    damit ein bisher unbekannter Kampf in der Menschenseele beginnt.
    Die alte Befriedigungsweise fordert ihr Recht und muß mit Aufbietung
    sychischer Energie niedergehalten, verdrängt oder sublimiert werden.
    Di Folge dieses endopsychishen Konflikts ist ein Spannungszustand,
    der neu ist und deshalb eine neue Form der Entladung fordert, Ver=
    schärft wird diese sexuelle Spannung noch dadurch, daß der Mensch
    nun ein Objekt suchen muß, um sexuelle Befriedigung zu er=
    langen, also auch eine Zeit lang unbefriedigt bleibt, während er
    bisher dies Objekt stets gegenwartig hatte, so dab ein anhaltendes
    und quålendes Bedürfnis unmöglich war. Um die Form der Ente
    ladung, die sich jene vom Subjekt als endopsychisches Unlust=
    gefühl empfundene Spannung wählte, zu verstehen, müssen wir
    das Verhältnis des primitiven Menschen zu der ihn umgebenden
    Natur untersuchen.

    Ein Teil der Eindrücke, die er von dort empfing, war gewiß
    angenehm und lustvoll. Das Licht und die Wärme der Sonne, der
    Kiblende Schatten und das erquidende Wasser wurden von ihm als
    wohltåtige Mächte empfunden,

    Es ist ohneweiters verständlich, daß er, der das dringende
    Bedürfnis hatte, seine Spannung los zu werden d. h. sexuell zu
    empfinden, diesen Lustgefühlen seine bereitliegende libido beimischte

  • S.

    Uber Naturgefühl. 123

    und sie als erotische Poe die von einem unsichtbaren
    Spender ihm gesandt wurde, auffabte, d. h. sie sexualisierte.

    Unverstandlich scheint es hingegen, wie der Mensch die un-
    lustvollen Sensationen, die ihm von der Natur zugingen und die
    offenbar die weit überwiegende Mehrzahl waren, zu Lustzwecken
    verwenden konnte; daß dies aber doch, wenigstens teilweise, möglich
    war, werden wir sogleich sehen. Aus der Gruppe der Unlust-
    Empfindungen scheiden wir den (kérperlichen) Schmerz völlig aus.
    Er entzieht sich der Behandlung in diesem Zusammenhange vielleicht
    schon deshalb, weil er kein rein psychisches Phänomen ist. Jedenfalls
    blieb er für die Beseitigung der Sexualspannung ohne Bedeutung.
    Uns bleiben jetzt noch jene Sensationen übrig, die ein nicht gegen“
    wártiges, sondern nur drohendes Übel, also die Gefahr, Schmerz
    oder Tod zu erleiden, hervorruft. Diese Gefahr kann nun real
    gegenwártig, oder mit solder Lebhaftigkeit vorgestellt sein, als ob
    sie gegenwärtig wire, dann sprechen wir von Furcht oder Schrecken ;
    sie kann aber auch in einer bloßen Überlegung bestehen, die eine
    entfernte oder unsichtbare Gefahr in Rechnung zieht. Die Fähigkeit,
    eine solche Überlegung anzustellen ist es, die hauptsächlich den
    Menschen vom Tiere, das nur der Gegenwart gehorcht, unterscheidet
    und ihn zum Beherrscher der Erde, zum homo sapiens macht. Diese
    warnende Überlegung, die den Menschen dazu antrieb, lustvolle
    Tätigkeiten zu unterlassen, unlustvolle aufzunehmen, um einer
    künftigen Gefahr zu entgehen, hatte wenig Aussicht, sich durch=
    zusetzen, denn im Kampfe zwischen Überlegung und Affekt sind
    die Waffen sehr ungleich; um ihn auszufechten, wäre auf der
    einen Seite eine Aufbietung von Energie notwendig gewesen, die
    das Gleichgewicht des psychischen Haushaltes völlig aufgehoben
    hätte, Es hieß also nach einer Verstärkung suchen, wenn diese für Be=
    stand und Entwicklung der Menschheit so wichtige Hemmungsvor=
    stellung ihre Funktion erfüllen sollte, Wo aber war ein solcher
    Affekt zur Verstärkung einer Hemmung verfügbar? Es wäre wohl
    als die willkommenste Lösung anzusehen, wenn der zu bändigende
    Trieb sich selbst entgegenwirkt, gestaut und auf diese Weise die
    gewünschte Regulierung herbeigefúbre hatte.

    Nun wissen wir, daß es tatsächlich Triebe gibt, die nach zwei
    entgegengesetzten Richtungen strömen, also mit negativen und posi-
    tiven Vorzeichen, wie der elektrische Strom, wirken können. Diese
    »doppelsinnigen« Triebe nennen wir ambivalente (Bleuler) oder polare
    (Stekel). Die Erfahrung hat gezeigt, daß alle oder beinahe alle der
    Sexualitát angehórenden oder untergeordneten Triebe ein Element der
    Ambivalenz an sich haben. So gibt es aktive und passive Agressions-
    libido (Sadismus und Masochismus), der sexuellen Schaulust entspricht
    die EntblóBungslust (Exhibitionismus), der Lust an der Defákation und
    den Fåkalien (Anal-Erotik) der Ekel. Es wire sehr verlockend, den
    Satz umzukehren und zu behaupten, daf ebenso alle ambivalenten
    Triebe sexuellen Anteil haben müssen, dodi ist dies derzeit noch

  • S.

    124 Dr. Hanns Sachs.

    keineswegs sichergestellt und zu unserer Beweisfithrung auch nicht
    notwendig. Uns genügt es, einzusehen, daß diese im Interesse der
    psychischen Ökonomie gelegene Selbststauung nur durch ambivalente
    Triebe herbeigeführt werden konnte, daß darum die Sexualtriebe,
    welche mit der Eigenschaft der Ambivalenz ausgestattet sein müssen,
    zu dieser Leistung besonders befähigt waren. Auf der einen Seite
    sehen wir also das Bedürfnis nach der Entladung objekthungriger
    sexueller Triebe, welches die Folge der Sexualspannung ist, auf der
    anderen das Bedürfnis zur Heranziehung sexueller Triebe, weil der
    durch die Vereinigung mit ihnen ambivalent gewordene Trieb in
    Stand gesetzt würde, die ihm entgegenstehende Hemmung mit Affekt
    zu besetzen und so ohne Störung des psychischen Gleichgewichtes
    wirksam zu machen. Das Interesse der psychischen Ökonomie hat
    die Verschmelzung dieser einander entgegenkommenden Bedürfnisse
    bewirkt und so wurde die Überlegung; welche wegen einer künftigen
    Gefahr einer gegenwärtigen Lustbefriedigung entgegenwirkte, sexua=
    lisiert — es wurde aus ihr ein Adelinhanemen: Die Angst.

    Von der durch keinen äußeren Anlaß gerechtfertigten neuroti=
    schen Angst wissen wir*, daß sie aus verdrángter libido entspringt.

    ier wie sonst zeigt die Neurose uns ein Zerrbild des normalen
    Seelenlebens. Denn auch der normalen, berechtigten Angst darf der
    Zusatz des Sexuellen, wie wir eben gesehen haben, nicht fehlen. Es
    ist dabei hervorzuheben, daB gerade die Angst ein Grenzgebilde
    ist, in das sich auch bei sonst Normalen leicht neurotische Züge
    mischen, so findet man oft die Angst vor einem Ereignisse nicht
    unbereditigt, aber doch inadáquat. Es bemächtigen sich dann eben
    verdrángte sexuelle Impulse der Hemmungsvorstellung und geben
    dieser eine an und für sich unverstándliche Affektbetonung. Daß
    ein solcher sachlich unberechtigter Affektaufwand nur dort statt-
    findet, wo ambivalente Triebe ins Spiel kommen, làft sich durch
    Beobachtung leicht bestätigen. Ein im Käfig hinreichend sicher ver-
    wahrtes Raubtier betrachtet der Normale ganz affektlos, die durch
    den Selbsterhaltungstrieb veranlaDte Furcht ist weggefallen und da=
    mit jeder Anlaß zur Erregung. Fäkalien aber werden die meisten
    Menschen nicht ganz ohne Affektregung betrachten kónnen, wenn
    auch keine nähere Berührung zu befürchten ist, denn der Ekel
    entspringt aus exquisit ambivalenten Trieben.

    Dem Angst-Problem selber, d. h. der Frage, wie die Ver-
    wandlung von libido in Angst vor sich geht, sind wir damit nicht
    näher gerückt, für uns war nur die Untersuchung von Interesse,
    ob auch die unlustbetonten Sensationen der Außenwelt zur Abfuhr
    der sexuellen Spannung verwendet werden kónnen und wir haben
    gesehen, daß dies auf dem Umweg über die Angst ermöglicht wird.
    Es wurden also einem großen Teil der Natur, da die von dort
    ausgehenden Sensationen sexualisiert worden waren, sexuelle Affekte

    * Siehe Freud, »Die Traumdeutung«, III. Aufl, S. 171, und Stekel, »Ner-
    vóse Angstzustindes.

  • S.

    Über Naturgefühl, 125

    entgegengebracht. Bleibt noch das Problem zu erledigen, warum der
    Mechanismus der Personifikation, der Animismus, als Ausdruck dieser
    Affekte gewählt wurde.

    Eine nicht leicht überwindbare Schwierigkeit bei den ersten
    Schritten seelischer Entwicklung, die der Mensch zu tun versuchte,
    war die Aufgabe, die Grenzen zwischen dem Ich und der Aufen-
    welt festzulegen und dann die Außenwelt als solche zu erkennen
    und ihren Inhalt festzustellen. Mit anderen Worten, der Mensch
    mußte von Wirkungen auf äußere Ursachen schließen und ime
    stande sein, die Ursachen als vom Ich getrennte, selbständige Ob=
    jekte vorzustellen. Diejenige Art der Vorstellung nun, die am
    mühelosesten und mit dem geringsten Denkaufwand verknüpft ist,
    müssen wir für die ursprūnglichste, zuerst gewählte halten. Es muß
    sich auch feststellen lassen, daß der Mead nach Erreichung eines
    höheren geistigen Niveaus auf eben diese Vorstellungsart zurück=
    greift, wenn er »spielt«, d. h. den psychischen Mechanismus nur auf
    unmittelbare Lustgewinnung einstellt, denn durch sie kann er die
    Lust, die mit der Ersparung an psychishem Aufwand, der Rückkehr
    zur infantilen Denkweise, verbunden ist, erreichen. Da nun das eigene
    Ich dem Menschen unmittelbar bekannt ist und ohne Denkanstren=
    gung bewußt wird, bestand jene müheloseste Methode darin, sich
    als die Ursache jeder von außen kommenden Wirkung etwas dem
    eigenen Ich Analoges zu denken — also den Gegenstand, von dem
    jene Wirkung ausging, zu anthropomorphisieren oder zu personi=
    fizieren. Das Kind und der primitive Mensch nehmen den Stein,
    über den sie stolpern, den Baum, an den sie sich stoßen, sogleich
    als ebenbürtigen Gegner an, weil sie bis zu der Vorstellung unbe=
    seelter, d. h. dem Ich ganz ungleicher Objekte nicht gelangt sind.
    So wichtig diese Denkvereinfahung ist, kann sie doch nicht als die
    eigentliche Urheberin des von uns untersuchten Phänomens gelten,
    da wir fiir ein psychisches Gebilde, das so viele und so starke
    Affekte zur Entfaltung brachte, wie der Animismus, hinter der intel-
    lektuellen eine rein affektive Ursache suchen müssen. Die Denk=
    erleichterung spielt dabei wohl nur die sekundäre Rolle der V or lust,
    d. h. sie gibt eine leicht gewinnbare Lustpråmie ab, um den Trieb
    zur Erreichung des wichtigeren Zieles anzuspornen. Diese Funktion
    der Vorlust kommt gerade der Ersparung an psychischem Aufwand
    durch die Rückkehr zur infantilen Denkweise auch bei anderen, nicht
    hieher gehörigen Phänomenen zu, z. B. beim Witz und Reim, so
    daß wir dies vielleicht für ihre typische Verwendung im entwickelten
    Seelenleben halten diirfen*.

    Wollen wir nun die affektive, also unserer Ansicht nach die
    Hauptgrundlage der Personifikationstendenz untersuchen, so müssen
    wir uns erinnern, aus welchem Konflikt die Spannung entstand, die
    zur Affektbesetzung der Natur führte. Es war die Verdrängung

    “ Diese Ausführungen gründen sich auf 6. Freud, »Der Witz und seine
    Beziehung zum Unbewufiten«.

  • S.

    126 Dr. Hanns Sachs.

    des NarziBmus, der Beschäftigung mit dem eigenen Ih als Sexual=
    Objekt. Es ist nun ein wesentliches. Kennzeichen der Verdrängung,
    daß sie den Affekt, gegen den sie sich wendet, nur scheinbar vi
    hebt. In Wirklichkeit existiert er, unter einer Verhüllung und Maske,
    welche ihm von der Verdrängung, in dieser Funktion »Widerstands=
    zensur« genannt, aufgezwungen wird, weiter, und zwischen seiner
    neuen Form und der alten bestehen enge assoziative Zusammen=
    hänge. Auf diesem Grundsatze beruht ja die Möglichkeit der psycho=
    analytischen Therapie. Auch der verdrångte Narzißmus ist also nicht
    spurlos verschwunden und die Beziehung zur sexuellen Ich-Liebe
    muß der Ersatzbildung noch irgendwie anhaften. Diese Bedingungen
    erfüllt aber der Animismus auf das vollkommenste. Die Phantasie~
    personen, mit denen die ganze Natur erfüllt wird, sind zunächst
    nichts anderes, als Wiederholungen des eigenen Ich, die nach dem
    Mechanismus der Projektion in die Außenwelt versetzt werden.
    Diese Projektion ermöglicht es, die Zensur zu umgehen und die
    von den Ansprüchen eines höheren seelischen Niveaus verpönte
    narzißtische Befriedigung wenigstens teilweise zu erreichen. Mit dieser
    Vorstellung aller fibidinós besetzten Gegenstände als »Ich«, die als
    Folge der untersagten direkten libidinôsen Befriedigung am »Ich«
    auftritt, vollzieht sich die Wiederkehr des Verdrängten
    aus der Verdrängung. Daß diese Wiederkehr gerade aus der
    im Dienste der Verdrängung geschaffenen Ersatzbildung erfolgt, ist
    uns als wesentliches Moment des Verdrängungsmechanismus schon
    lange geläufig.

    DiePersonifikationstendenz, die der animisti-
    schen Weltanschauung zugrunde liegt, ist also die

    "Projektion des verdrängten Narzißmus auf die
    oi] čajo e welche infolge der aus dem Verdrán-
    gungskampf resultierenden Spannung teils direkt,
    teils auf dem Umwege über die Angst, libidinós
    besetzt worden war.

    Die ontogenetische Parallele zu unserem Phänomen läßt sich
    leicht erweisen. Die Tatsache, daB Kinder die ganze unbelebte
    Natur personifizieren, die Einrichtungsstücke der Kinderstube ver=
    menschlichen und etwa verlangen, daß man den bösen Tisch
    schlage, an den sie sich gestoßen haben, ist allgemein bekannt.
    Nichts gewáhrt dem Kinde eine intensivere Lust, als wenn ein leb-
    loser Gegenstand durch die Menschengestalt, die ihm gegeben wor-
    den ist, der Personifikationstendenz entgegenkommt und das Fest=
    halten der animistischen Auffassung erleichtert, deshalb ist die Puppe
    von jeher das begehrteste Spielzeug gewesen und wird es immer
    bleiben.

    Daß jene Phantasiewesen, mit denen die Natur bevölkert wird,
    nichts anderes seien, als Abspaltungen des eigenen Ich, gilt natür-
    lich nur für den Ur-Anfang der seelischen Entwicklung, solange
    nämlich nur der einzige Konflikt: Narzibmus — Objektliebe be=

  • S.

    Über Naturgefúhl. 127

    steht. Die später auf dem Wege zur höheren Kultur auftauchen«
    den Konflikte, vor allem also die Verdrängung der Inzestliebe
    <Ödipus-Complex), machen dann von dem bereits vorhandenen
    Mechanismus für ihre Zwecke Gebrauch. Die ursprüngliche Ich=
    Projektion wird nun überlagert von neuen Gestalten, die den späteren,
    verdrängten Affekten zum Ausdruck dienen, Damit kommt ein
    völlig neuer Zug in diese ganze Phantasiewelt. Während nämlich
    bisher die Phantasiegestalten nur alle Wiederholungen desselben und
    deshalb wenig differenziert waren, erhalten sie jetzt, wo sie zur
    Darstellung der verschiedenen Affekteinstellungen gegen mehrere
    Personen dienen müssen, individuelles Gepråge. Dann sind aber
    auch nicht mehr alle Naturerscheinungen schlechthin und gleich=
    mäßig verwendbar, sondern für jeden Affektausdruck nur diejenigen,
    deren Wirkung mit dem Inhalt des Affektes eine gewisse Analogie
    aufweist. So macht der Südländer die sengende und verzehrende
    Sonne, der Nordmann den Wettersturm und den niederfahrenden
    Blitz zum Symbol seiner Gefühle gegen den übergewaltigen, strengen
    Vater und Herrscher, in dessen Hand sein Leben steht. Die Erde,
    die ihn mit ihren Früchten nährt, den Quell, der ihn tränkt, kann
    der Mensch, der sich liebevoll erinnert, wie ihn einst die Mutter
    genährt und getränkt hat, nur mit dem Bilde der Mutter beleben.
    Durch solche stets hinzukommende Überlagerungen entsteht aus
    dem primitiven Totem- und Fetischkult jene Mythologie, die der
    antike Ausdruck des Naturgefiihles ist. Nie dürfen aber die Natur=
    eindriicke als Entstehungsgrund jener Mythologie aufgefabt
    werden. Sie sind nur die Ausdrucksmittel für die psycho=sexuellen
    Konflikte, welche Sonne und Meer, Wind und Sterne, je nach
    ihrer Bignung, får diese oder jene Rolle ausersehen. Im letzten
    Grunde sind dann alle diese fúrchterlichen und liebreizenden, drohen=
    den und anziehenden Gestalten nichts anderes als Abspaltungen und
    Projektionen des eigenen Ichs ihrer Anbeter. Aufgabe der Mythen=
    forscher wird es sein, alle diese Überlagerungen abzutragen und ihre
    Verursachung nachzuweisen, bis zurück zu dem ersten mytholo=
    gischen Prozeß — der Verdrängung des Narzifmus.

    Wir sind es schon gewohnt, für die Seelenzustánde des pris
    mitiven Menschen Analogien bei den Psychosen und Psycho=
    neurosen zu suchen. In unserem Falle liegt der Gedanke besonders
    nahe, da Freud in seiner tiefgriindigen Arbeit über die Schrebersche
    Autobiographie * nachgewiesen hat, daß eine bedeutende Gruppe
    von Geistesktankheiten, nåmlich die Paranoia und die Paraphrenie
    (nach dem von Freud vorgeschlagenen Ausdruck, nach Bleuler:
    Schizophrenie und nach Kråpelin: Dementia praecox) Produkte des
    Verdrångungskampfes zwischen Objektliebe einerseits und NarziDmus,
    respektive Auto=Erotik andererseits sind, Tatsåchlich haben wir den

    * 8. Freud, Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch

    beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides) Jahrbuch, ШЛ, siehe be=
    sonders S. 64—68.

  • S.

    128 Dr. Hanns Sachs.

    in der Paranoia vorwaltenden Projektionsmechanismus, das Hinaus=
    verlegen des Verdrångten, als wichtigsten Hebel am Werke gefunden.
    Den vollkommenen Parallelismus zwischen den mythologischen Vor=
    stellungen primitiver Volker und den Wahngebilden der Paraphreniker
    hat eine auf dem Boden der Jungschen Lehre fortarbeitende For-
    scherin, Dr. Spielrein *, auf das scharfsinnigste nachgewiesen. Ins=
    besondere die Tendenz zur Spaltung der Persönlichkeit, die bei den
    Geisteskrankheiten vorwaltet, macht sich bei jeder Fortentwicklung
    der Mythologie stets aufs Neue geltend. So wie vor den Kranken
    seine verdrångten Affekte als vermeintliche Realitåten der AuBenwelt
    hintreten, werden aus diesen oder jenen Eigenschaften eines Gottes
    neue Götter geschaffen, deren ursprüngliche Bedeutung zunächst noch
    angedeutet wird, etwa dadurch, daß sie als Kinder des ersten
    gelten, die aber mit der Zeit ganz selbständig werden und nun
    ihrerseits wieder Abspaltungen erleiden. Daraus erklärt sich die
    ungeheure Fülle der cheer in allen antiken Religionen, vor
    allem im vedischen Pantheon. Der Unterschied zwischen der An-
    betung der Naturmåchte durch die primitiven Völker und den
    Wahnbildungen der Geisteskranken liegt vor allem darin, daß jene
    nur ein Notventil war, um die psychische Spannung zu ent=
    lasten, im übrigen aber die praktische Einstellung zur Außenwelt
    nicht störte, während diese das ganze Seelenleben ausfüllen und
    »keine Götter neben sich dulden«.

    Wenn wir nun darangehen, die wesentlichen Ziige, durch die
    sich unser modernes Naturgefiihl von dem antiken unterscheidet,
    herauszufinden, miissen wir uns erinnern, daB wir gleich im Anfang
    konstatieren konnten, daß der moderne Mensch seine affektive
    Stellungnahme zur unbelebten Natur mit allem Nachdruck aus-
    spricht, der antike sie nahezu völlig verschweigt. Je mehr Material
    wir zum Vergleich heranziehen, desto deutlicher wird die Erkennt=
    nis, daB der moderne Mensch das Naturgefiihl, die Affekteinstellung
    als solche, recht hoch bewertet: er bekennt sich ohne Zögern dazu,
    schildert es gerne und liebevoll und bemüht sich, jene Seite seines
    Gefiihlslebens auszubilden. Nicht selten wird das Naturgefühl über=
    haupt zum Wertmesser der kulturellen Entwicklung der Persónlich=
    keit gemacht. Von einer solchen Hochschåtzung weiß die Antike
    — wenigstens bis zur Zeit ihrer höchsten Blüte — nahezu gar
    nichts. Dagegen kennt sie der Natur gegentiber eine andere
    strenge Wertung, die uns wiederum abhanden gekommen ist. Der
    antike Mensch wurde nur von jenen Naturschauspielen ergriffen,
    die durch die heroische Gewalt ihres Auftretens oder durch ihre
    vollendete Schönheit aus der übrigen Menge hervortreten. Der Flocken=
    schaum der stürmischen Brandung, die edlen Linien eines Ge-
    birges, die harmonische Form eines Olbaumes und åhnliehe Dinge
    zwangen ihn in ihren Bann. Für die Renaissance gilt noch fast das

    * Dr. С. С. Jung, "Zur Psychologie der Dementia praecox<. Spielrein,
    »Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie«. Jahrbuch III/I.

  • S.

    Über Naturgefühl. 129

    Gleiche, Eine große Änderung trat mit jener Epoche ein, die einen
    Umschwung fast auf jedem Gebiet der Geistestätigkeit des gebildeten
    Europa bedeutet und mit dem Namen en Jacques Rousseau ge-
    kennzeichnet ist, Das Gebiet der mit Gefühl betrachteten Natur=
    dinge wurde an zwei Stellen erweitert. Die Alpengipfel, die bisher
    in ihrer strengen und menschenfeindlichen Majestät gemieden
    worden waren, wurden nun bewundert und besucht. Und
    die einfache, durch nichts ausgezeichnete Landschaft, Feld
    und Wald, Wiesen und Au wie sie sich ebenso schon
    oder schöner an jedem anderen Orte finden kann, weckte jetzt
    shwármende Begeisterung. Man muß nicht mehr in die Ferne
    ziehen, um die Natur im Prachtgewande zu suchen, ein Gang vor
    das Tor genügt, um alle Gefühistône anklingen zu lassen. Von da an
    besteht die Tendenz, das Naturgefühl auf immer mehr und mehr
    Objekte auszudehnen. Den letzten Schritt hat die von Frankreich
    in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ausgegangene Be=
    wegung, die sich den Namen SN ni beilegte, getan. Ja,
    es scheint fast, als ob dies das wesentliche und dauernde Verdienst
    jener Bewegung gewesen wire, daß sie auch die letzten Schranken
    der verschiedenen Bewertung der Naturobjekte niedergerissen hat.
    Uns Gegenwartmenschen scheint die Natur 一 subjektive Unterschiede
    ungerechnet — in allen Gestalten gleich liebenswert. In uns kann
    die rauchig=triibe Atmosphäre, die einen Fabriksschiot umgibt, ein
    Stück staubiger Straße, auf das die blendende Sommersonne strahlt,
    die ganze Skala unserer Empfindungen wachrufen, Passen wir das
    Gesagte zusammen: Die Antike wertet das Objekt, dem das
    Naturgefühl gilt, nicht das Gefühl, die Moderne wertet das Gefühl
    während das Objekt ihr fast indifferent ist. Dieses seltsame Gegen=
    satzverhältnis bildet die vollkommene Ergänzung des Ak о
    des Sexualtriebes, wie es Freud" geschildert hat: »Der eingreifendste
    Unterschied zwischen dem Liebesleben der Alten Welt und dem
    unsrigen liegt wohl darin, daß die Antike den Akzent auf
    den Trieb selbst, wir aber auf dessen Objekt verlegen. Die
    Alten feierten den Trieb und waren bereit, auch ein minderwertiges
    Objekt durch ihn zu adeln, während wir die Triebbetåtigung an
    sich geringshátzen und sie nur durch die Vorzüge des Objekts
    entschuldigen lassen.« Es ist klar, daß dieser Umschwung ein
    Erfolg der erhöhten Verdrängung war. Dem anstófigen Sexual-
    trieb, von dem so wenig als möglich die Rede sein darf, wird die
    Wertung entzogen. Dem Sexualobjekt, das jetzt, nachdem der Trieb
    in der Versenkung verschwunden ist, le zu sein scheint, darf
    diese herrenlos gewordene Wertschätzung angeheftet werden — in
    Wirklichkeit drückt diese Schätzung und Uberschåtzung des Objektes
    nichts anderes aus als die Rückkehr des verdrångten Triebes aus
    der Verdrängung. Jedenfalls können wir daraus, daß Naturgefühl

    * Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 2. Aufl, S. 14. Anm.

  • S.

    130 Dr. Hanns Sachs.

    und Sexualtrieb in einem komplementåren Verhältnis stehen, einen
    Schluß ziehen, der uns darüber belehrt, was denn wenigstens aus
    einem Teil der Energien des verdrångten Sexualtriebes geworden
    ist. Sie haben sich offenbar in die starke Betonung und hohe Be-
    wertung des Naturgefiihls umgesetzt und diese Verstärkung aus der
    Quelle der erhöhten Verdrängung hat das Naturgefúhl so objekthungrig
    gemacht, daB es seinen Kreis immer weiter und weiter ausdehnte,
    gleich einem Manne, der sich einst nur von erlesener Speise nåhrte und
    nun von seinem stets wachsenden Appetit zur Vorliebnahme mit der ein=
    fachsten Kost gezwungen wird. Daß dieses Hintibershieben von
    Affektmengen auf das Naturgefúhl am eifrigsten betrieben wurde,
    als das «galante» Zeitalter, das aud das Zeitalter der religidsen
    Orthodoxie und des Fürstendienstes war, versank, und die Men-
    schen lernen mußten, tugendhaft, atheistish und frei zu sein, ist
    unschwer einzusehen. Denn dadurch wurden große Libido-Quanti=
    täten, die bisher an bestimmte Objekte gebunden gewesen waren,
    mit einem Male entfesselt und mußten anderweitige Verwendung
    finden, wenn sie nicht den ganzen Kulturmechanismus zerstören sollten.
    Als typisch für das Naturgefühl der Alten haben wir die
    Personifikationstendenz kennen gelernt, diese kann sich bei dem
    modernen Menschen in der alten Form nicht mehr durchsetzen,
    denn die objektive Erkenntnis der realen Verhältnisse ist in unserem
    Geiste so stark geworden, daß eine Auflehnung dagegen nicht mehr
    möglich ist, An die Stelle der Personifizierung, welche dem Gegen-
    wartsmenschen keine Lust mehr verschaffen würde, ist eine andere
    Technik der «Naturbeseelung» getreten, die unseren Erfahrungen
    minder grell widerspricht. Wir verzichten darauf, aus den hinaus=
    rojizierten Affekten selbständige, menschenähnliche Gestalten zu
    Bilder, aber wir fahren mit der Projektion selbst noch immer fort.
    Wenn wir die Trauer des herbstlichen Waldes und das Lachen
    des Friihlingshimmels empfinden, schieben wir der Natur, deren
    wechselnde Bilder in unserem Innern mit Assoziationen verknüpft
    sind, unsere Affekte zu, die durch jene Assoziationen geweckt
    wurden. Diese Loslósung der Affekte vom Subjekt macht das
    Festhalten eines individuellen Objektes unmöglich. Dadurch bekommen
    jene in die Natur hinausprojizierten Affekte einen Charakter der
    Allgemeinheit, der sie von den direkt geäußerten unterscheidet, wenn
    dann mehrere Menschen von nur einigermaßen ähnlicher Affektlage
    demselben Naturschauspiel gegenüberstehen, werden sie sich, da
    ihre in die Natur projizierten Empfindungen die individuellen
    Züge abgestreift haben, in der gleichen Gefühlseinstellung finden.
    Diese Objektivierung der Empfindungen nennen wir »S timm u "ae
    sie ist das eigentliche Merkmal des modernen Naturgefiihls, das
    geheime Zeichen, an dem sich die verwandten Gemüter erkennen,
    der letzte Rest jener Phantasietätigkeit, die einst die Natur=
    mythen und -Religionen aufgebaut hat. Was einst dem Menschen“
    geschlecht wesentlicher erschien als jede Realität, was ihm höher

  • S.

    Uber Naturgefühl. 181

    und heiliger galt als irdisches Hassen und Lieben, das ist heute zu
    einem Spielzeug herabgesunken, nach dem die Seele erst greifen
    darf, wenn die Sorgen des Tages erledigt worden sind. Einzig
    bei den Künstlern — das Wort hier im weitesten Sinne дея
    nommen — kann die Stimmung noch den Herrscherplatz behaupten,
    denn der Kiinstler ist nach dem Ausspruche Schopenhauers® in den
    Hauptziigen seines Geistes dem Kinde verwandt und bewahrt, da
    ontogenetische und phylogenetische Vergangenheit zusammenfallen,
    vieles, was dem heutigen Geschlecht verloren gegangen ist.

    Es steht in seltsamem Gegensatz zu der Wertschätzung des
    Naturgefühles, daß ihm alle wichtigen sozialen Funktionen entzogen
    wurden ; zwischen der offiziellen Bewertung eines Affektes in einem
    bestimmten Kulturmilieu und seiner wirklichen Bedeutung dafür be-
    steht eben gar kein Zusammenhang. Gewiß ist, daß mit dem Weg=
    fall der Personifizierung die Möglichkeit der gründlichen Abreagie=
    rung sehr beeinträchtigt wurde. Denn an jene Gestalten konnte
    man wirklich und voll glauben und sich im Verhältnis zu ihnen
    darum auch ‚vollständig ausleben — besser als im Verhältnis zu
    den wirklichen Menschen. Die Affekte hingegen, die wir in die
    Natur hinausprojizieren, sind ihr nur geliehen und wir werden
    immer wieder daran gemahnt, daß sie nicht wirklich der Land-
    schaft, sondern uns selbst angehören; wir können es uns nicht
    lange verhehlen, daß nicht der Herbstwald trauert, sondern wir, daß
    wir zornig und gewaltsam sind, nicht das Gewitter. Wenn wir
    also den Wer, den unser Naturgefühl hat, gegen jenen des antiken
    abschätzen — den wirklichen, nicht jenen, den die allgemeine
    Schátzung ihm zuteilt, so kónnen wir es nicht übersehen, dab ihm
    keine wichtige Leistung im Seelenleben mehr zukommt. Es ist
    nicht der einzige Fall, daß eine Einrichtung, der einmal die höchste
    Bedeutung zukam, nachdem sie überflüssig geworden war, nicht ab=
    geschafft wurde, sondern weiterbestand, aber nun als ein zu ernstem
    Gebrauche unverwendbares Spiel galt. Ähnlich gehen manche un-
    verständlichen Volkssitten und Feste auf die wichtigsten Betáti=
    gungen unserer Ahnen zurück.

    Aber auch jene geringere Lustbefriedigung vermag das
    heutige Naturgefühl nicht mehr in derselben Intensität zu gewähren.
    Unsere Erkenntnis, unser ausgebildetes begrifflich=logisches Denken,
    unsere zahlreichen Affektkonfiikte setzen einer vollen Befriedigung
    zu viele Hemmungen entgegen. Darin gibt uns das Naturgefühl
    einen kleinen Ausschnitt aus dem Bilde unserer Zeit, die sich in der
    Pflege und Bewunderung des Gefiihlslebens nicht genug tun kann
    und ihm doch kaum irgendwo freien Spielraum gewährt.

    evo

    * Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Drittes Buch,
    Kapitel 31.