S.
Über Naturgefühl.
Von Dr. HANS SACHS.
Das ist das Gefühl, womit wir an der
Natur hängen, dem Gefühle, so nahe verwandt,
womit wir an der Natur des Kindes, an der
kindlichen Unschuld beklagen.SCHILLER: Über naive
und sentimentalische Dichtung.
Einem gelang es – er hob das Siegel vor der
Göttin zu Salis –
Aber was sah er, sah – Wunder, ach Wunders,
sich selbst.NOVALIS, Die Lehrlinge zu Sais.
Wenn wir die von Freud aufgestellten zwei Prinzipien des
psychischen Geschehens auf das Verhältnis des Menschen
zur umgebenden Natur anwenden, müssen wir zu zwei
Möglichkeiten der Einstellung gelangen: im Dienste des Realitäts-
prinzips sucht der Mensch sich vor den Gefahren der Natur zu
sichern, sie zu beherrschen und seinen Bedürfnissen nutzbar zu
machen. Das ursprüngliche Lustprinzip lässt ihn hier wie überall
versuchen, unmittelbar Lust zu gewinnen, ohne den Gedanken an
spätere Folgen und Zwecke. Das Organ solcher Lust, die uns die
Natur ohne Rücksicht auf Kleidung und Nahrung, ja sogar in ihrer
wildesten Entfesselung, mit der sie uns das Leben zu graffen droht,
gewährt, nennen wir Naturgefühl. Allerdings gibt es noch eine
dritte Möglichkeit der Stellungnahme: die Naturwissenschaft, diese
ist aber für unsere Untersuchung minder geeignet, da sie ein Ver-
mittlungsprodukt jener ersten beiden darstellt. Das Begehren nach
Bändigung der Naturgewalt vermählt sich mit dem aus ursprünglichen
Lustquellen stammenden Forschungsbetrieb. Unser Objekt bleibt die
von keinem Zweckgedanken berührte „Naturlust“; wir versuchen also
psychologische Betrachtung eines ästhetischen Problems. Für die Ästhetik
stünde das Naturgefühl des Künstlers und der Ausdruck, den er
ihm in seinem Werke schafft, im Mittelpunkte; nicht so für uns, die
im Kunstwerk neben dem Problem des Naturgefühls noch ein zweites
sehen, das jener erste, verderb- und undeutlich macht, nämlich die
drei Fragen nach der Psychologie des Künstlers. Welche Not schafft
ihm das gesteigerte Bedürfnis nach Ausdruck? Welche Weisung läßt
ihn die Form seines Ausdrucks finden? Und welches Gesetz zwingt
uns, das mitzuerleben, was er in Ausdruck, nicht Erkenntnis, gefunden
hat? Wir werden diesen Fragen aus und bleiben bei dem allen
meinen Phänomen stehen, wie es zu allen Zeiten und bei allen
Völkern nicht bloß bei ausgezeichneten Einzelnen, sondern bei jedem
Durchschnittsmenschen, wenn auch in sehr verschiedener Form und
Intensität zu finden ist. Unsere Beispiele werden wir natürlich bei den
Künstlern suchen müssen; wir wollen sie aber nur als die gedräng-
teste und gelungenste Wiedergabe dessen, was alle Menschen der
Epoche empfanden, verwerten.*Jahrbuch III/I, S. 1 ff.
S.
120 Dr. Hanns Sachs.
Wenn wir nun darangehen, zum Einzelnen hinabzusteigen,
verwirrt die Vielzahl und buntscheckige Mannigfaltigkeit der i
scheinungen unseren Blick. So viel Völker und Stämme, so viel
Verschiedenheiten. Und innerhalb der Völker noch der Wechsel,
wie ihn die Wandlungen der Geschichte, das steigende und sinkende
Niveau der Kultur hervorbringt! Und innerhalb jeder Epoche die
Verschiedenheit der sozialen, religiösen, ästhetischen Gruppen und
Verbände! Um Überblick und Ordnung zu gewinnen, liegt es uns
ob, Typen zu bilden, wenn es uns auch bewußt bleiben muß, daß
es dabei ohne Entstellung und Einseitigkeit nicht abgehen kann.
Sollen uns die Typen lehrreih sein, so werden wir von ihnen
dreierlei fordern: Klare Abgrenzung von einander, hinreichende Ver-
schiedenheit des Inhaltes, damit, was von einigen gefolgert wurde,
mit Wahrscheinlichkeit als für alle giltig angenommen werden kann,
und Bekanntheit ihrer wesentlichen Züge, um unnötigen Ballast an
Erklärungen und Zitaten zu vermeiden. Da bieten sich uns zwei,
die diesen Bedingungen genügen, fast von selbst an. Das Natur=
efühl des frühen Griechentums, wie es in den Homerischen Epen
аи dica wurde, und jenes unserer Gegenwart, das, wo nicht
scharf umrissen, uns doch unmittelbar verständlich ist. Nur zur un=
zweideutigen Fixierung sei der Hauptpunkt seines historischen
Werdens (nad J. Ва genannt: Petrarca und seine Besteigung
des Mont Ventouse, und mit einigen Namen seine Umgrenzung ab=
gesteckt: J. J. Rousseau, Goethe, Eichendorff, Bódilin, Verlaine.Um uns die Lebhaftigkeit unmittelbarer Anschauung zu sichern,
wollen wir für jede der beiden Typen ein Musterbeispiel wählen.
Für die erste die Beschreibung der Insel der Kalypso, vielleicht die
Shien und schönste Naturschilderung bei AM «Odysseeir 03 15:
0m de 67805 apu TEQULEL て ①Aeooow
xAndon イ alyewos TE NAL edwdnę xcasoSaoo
und weiterxonvar Об его toupes feov Обала Jeune
TANGO CANNADY TETOXU џема wdc an
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⑨yeoy, žydo x'enerra xa 0000006 пер вле) Фу
⑨ymoxrro Sov xa Teppdern фресту Now,
Dicht um die Hóhfung wuchs ein Wald verschwisterter Kronen,
Erlen und Zitterpappeln und duftende schwarze Zypressen,Quellen lauteren Wassers entsprangen viere beisammen,
Eine der andern nah und wandten sich hierhin und dorthin,
Rings von schwellender Wiese umblüht mit Veilhen und Eppid,
Daß ein Unsterblicher selbst, der je des Weges daherkåm,
Stünd' und weilte verwunderten Aug's und freudigen Herzens.
(Ubersetzt von Rudolf Alexander Schroder.)Und daneben eine Stelle aus »Werthers Leiden< :
S.
Über Naturgefåhl. 121
»Wenn das liebe Tal um mich dampft und die hohe Sonne
an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes
ruht und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen,
ich dann im hohen Grase am fallenden Bach liege, und näher an
der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden,
wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen den Halmen, die
unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen
näher an mein Herz fühle... wenn’s dann um meine Augen
dämmert und die Welt um mich her und der Himmel ganz in
meiner Seele ruhn, wie die Gestalt einer Geliebten . , .«Wir sehen sogleich, daß die zweite Stelle mit Gefühlse
äußerungen bis zum Rande gefüllt ist, an denen es der ersten
völlig fehlt. Sie gibt nichts als eine Beschreibung, die fast eine Auf-
zählung genannt werden kann, allerdings von einziger Anschaulichkeit
und Unmittelbarkeit, doch nahezu völlig ohne subjektiven Gefühlston.
Sollte dies etwa bedeuten, daß die gefühlsmäßige Einstellung zur
Natur bei den Griechen des Homerischen Zeitalters nur schwach
entwickelt war? Wir wissen, daß das Gegenteil zutrifft. Ihre
wichtigste Gefühlsäußerung, die Religion, war von Naturgefähl
durchtränkt, ja zum Teil auf dem Naturgefühl aufgebaut. Die
Sonne sahen sie als heldenhaften, pfeilbewehrten Bogenschützen, die
heranbrausenden Wogen als Rossegespann, gelenkt und befeuert
von einem ungeheuern Greise, in Busch und Baum, Bach und
Auen lebten verborgen göttliche Wesen. Das Naturgefühl der
Antike war also nicht minder stark, nur äußerte es Så, nicht in
Schilderungen und Beschreibungen, nicht in direkter Wiedergabe,
sondern auf einem Umweg: Durch Personifikation der
Objekte, denen das Gefühl galt.Dieser Mechanismus hat um so größeres Anrecht auf genaue
und eingehende Würdigung, als er nicht allein der Antike angehört.
Die eigentimliche Tendenz die unbelebte Natur zu personifizieren
und die so geschaffenen Gestalten als göttlich anzubeten, finden wir
bei allen Völkern bis zur Erreichung einer bestimmten Kulturhôhe
verbreitet und in spateren Zeiten dol höchst bedeutsame Spuren und
Reste davon bis auf unsere Tage, sie ist bezeichnend für ein Früh-
stadium der Entwicklungsgeschihte des Mensdiengeistes, das die
Wissenschaft als die spadł des Animismus« bezeichnet,
Um eine Erklärung dafür zu finden, werden wir uns nur auf
absolute, ubiquitire Phänomene beschränken und bis in die früheste
und dunkelste Zeit zurückgehen müssen.Zum Ausgangspunkt dieser Entwicklung nehmen wir den
Menschen, dem noch die Fähigkeit fehlt, ein anderes Wesen als
gleichgesetzt, als erkennendes und fühlendes Subjekt, wie er selbst
eines ist, zu werten. Der Einzelne ist noch allein in der Welt; mit
anderen Worten ausgedrückt, er ist nicht nur das Subjekt, sondern
auch das ausschließliche Objekt seiner Sexualität — seine libido
ist narzisstisch. Das Stadium der Hetero-Erotik (Objektliebe)S.
122 Dr. Hanns Sachs.
ist noch nicht erreicht, wenn er bei der Befriedigung seiner Sexualität
auch die Außenwelt in Anspruch nimmt, so geschieht dies doch ohne
Libido-Besetzung, d. h. oline psychischen Anteil an den dabei bes
nützten Gegenständen (die für ihn nod keine Individuen sind). Wie
und warum dieses Stadium sein Ende fand, können wir nicht ent=
fernt ahnen. GewiB ist aber, daß die Objektliebe als erster und
wichtigster Schritt der psychischen Entwicklung, als Grundbedingung
jeder Külturmöglichkat sobald sie einmal im Seelenleben ihren Platz
eingenommen und ihre Wirkungen entfaltet hatte, mit allen Mitteln
bewahrt und gepflegt werden mußte. Der Narzilimus dagegen, der
die Gefahr des Rückfalles in den früheren Zustand bedeutete, sollte
fortan unterdrückt und gemieden werden, Wir haben es hier offenbar
mit dem Urfall der Verdrängung zu tun, der Verdrängung der Ich~
Liebe und dem Aufstieg zur Libido-Besetzung des Außer-Ich. Diese
erste Verdrängung macht jeder Einzelne auch en noch ebenso mit,
wie einst die ganze Menschheit: es ist der Riesensdhritt, den das
Kind tut, wenn es andere Wesen als seinesgleichen schätzen lernt,
d. h. ihnen dieselben Empfindungen, die es selber hat, zugesteht,
oder richtiger ausgedrückt, mit ihnen mitempfindet. Dieses Mit-Leid
beweist, dab es dem Kinde gelungen ist, sich mit einer anderen
Person zu identifizieren, sie nach dem glüdli…ien Ausdrucke
Ferenczis zu »introjizieren«, so wird die Liebe zur Schule der
Erkenntnis einer fremden Individualität, Der Medanismus der Vers
drángung ist hier noch keineswegs differenziert und man könnte
vielleicht ebensogut von einer Sublimierung des NarziBmus
zur Objektliebe sprechen. Festzuhalten bleibt aber jedenfalls, daß
damit ein bisher unbekannter Kampf in der Menschenseele beginnt.
Die alte Befriedigungsweise fordert ihr Recht und muß mit Aufbietung
sychischer Energie niedergehalten, verdrängt oder sublimiert werden.
Di Folge dieses endopsychishen Konflikts ist ein Spannungszustand,
der neu ist und deshalb eine neue Form der Entladung fordert, Ver=
schärft wird diese sexuelle Spannung noch dadurch, daß der Mensch
nun ein Objekt suchen muß, um sexuelle Befriedigung zu er=
langen, also auch eine Zeit lang unbefriedigt bleibt, während er
bisher dies Objekt stets gegenwartig hatte, so dab ein anhaltendes
und quålendes Bedürfnis unmöglich war. Um die Form der Ente
ladung, die sich jene vom Subjekt als endopsychisches Unlust=
gefühl empfundene Spannung wählte, zu verstehen, müssen wir
das Verhältnis des primitiven Menschen zu der ihn umgebenden
Natur untersuchen.Ein Teil der Eindrücke, die er von dort empfing, war gewiß
angenehm und lustvoll. Das Licht und die Wärme der Sonne, der
Kiblende Schatten und das erquidende Wasser wurden von ihm als
wohltåtige Mächte empfunden,Es ist ohneweiters verständlich, daß er, der das dringende
Bedürfnis hatte, seine Spannung los zu werden d. h. sexuell zu
empfinden, diesen Lustgefühlen seine bereitliegende libido beimischteS.
Uber Naturgefühl. 123
und sie als erotische Poe die von einem unsichtbaren
Spender ihm gesandt wurde, auffabte, d. h. sie sexualisierte.Unverstandlich scheint es hingegen, wie der Mensch die un-
lustvollen Sensationen, die ihm von der Natur zugingen und die
offenbar die weit überwiegende Mehrzahl waren, zu Lustzwecken
verwenden konnte; daß dies aber doch, wenigstens teilweise, möglich
war, werden wir sogleich sehen. Aus der Gruppe der Unlust-
Empfindungen scheiden wir den (kérperlichen) Schmerz völlig aus.
Er entzieht sich der Behandlung in diesem Zusammenhange vielleicht
schon deshalb, weil er kein rein psychisches Phänomen ist. Jedenfalls
blieb er für die Beseitigung der Sexualspannung ohne Bedeutung.
Uns bleiben jetzt noch jene Sensationen übrig, die ein nicht gegen“
wártiges, sondern nur drohendes Übel, also die Gefahr, Schmerz
oder Tod zu erleiden, hervorruft. Diese Gefahr kann nun real
gegenwártig, oder mit solder Lebhaftigkeit vorgestellt sein, als ob
sie gegenwärtig wire, dann sprechen wir von Furcht oder Schrecken ;
sie kann aber auch in einer bloßen Überlegung bestehen, die eine
entfernte oder unsichtbare Gefahr in Rechnung zieht. Die Fähigkeit,
eine solche Überlegung anzustellen ist es, die hauptsächlich den
Menschen vom Tiere, das nur der Gegenwart gehorcht, unterscheidet
und ihn zum Beherrscher der Erde, zum homo sapiens macht. Diese
warnende Überlegung, die den Menschen dazu antrieb, lustvolle
Tätigkeiten zu unterlassen, unlustvolle aufzunehmen, um einer
künftigen Gefahr zu entgehen, hatte wenig Aussicht, sich durch=
zusetzen, denn im Kampfe zwischen Überlegung und Affekt sind
die Waffen sehr ungleich; um ihn auszufechten, wäre auf der
einen Seite eine Aufbietung von Energie notwendig gewesen, die
das Gleichgewicht des psychischen Haushaltes völlig aufgehoben
hätte, Es hieß also nach einer Verstärkung suchen, wenn diese für Be=
stand und Entwicklung der Menschheit so wichtige Hemmungsvor=
stellung ihre Funktion erfüllen sollte, Wo aber war ein solcher
Affekt zur Verstärkung einer Hemmung verfügbar? Es wäre wohl
als die willkommenste Lösung anzusehen, wenn der zu bändigende
Trieb sich selbst entgegenwirkt, gestaut und auf diese Weise die
gewünschte Regulierung herbeigefúbre hatte.Nun wissen wir, daß es tatsächlich Triebe gibt, die nach zwei
entgegengesetzten Richtungen strömen, also mit negativen und posi-
tiven Vorzeichen, wie der elektrische Strom, wirken können. Diese
»doppelsinnigen« Triebe nennen wir ambivalente (Bleuler) oder polare
(Stekel). Die Erfahrung hat gezeigt, daß alle oder beinahe alle der
Sexualitát angehórenden oder untergeordneten Triebe ein Element der
Ambivalenz an sich haben. So gibt es aktive und passive Agressions-
libido (Sadismus und Masochismus), der sexuellen Schaulust entspricht
die EntblóBungslust (Exhibitionismus), der Lust an der Defákation und
den Fåkalien (Anal-Erotik) der Ekel. Es wire sehr verlockend, den
Satz umzukehren und zu behaupten, daf ebenso alle ambivalenten
Triebe sexuellen Anteil haben müssen, dodi ist dies derzeit nochS.
124 Dr. Hanns Sachs.
keineswegs sichergestellt und zu unserer Beweisfithrung auch nicht
notwendig. Uns genügt es, einzusehen, daß diese im Interesse der
psychischen Ökonomie gelegene Selbststauung nur durch ambivalente
Triebe herbeigeführt werden konnte, daß darum die Sexualtriebe,
welche mit der Eigenschaft der Ambivalenz ausgestattet sein müssen,
zu dieser Leistung besonders befähigt waren. Auf der einen Seite
sehen wir also das Bedürfnis nach der Entladung objekthungriger
sexueller Triebe, welches die Folge der Sexualspannung ist, auf der
anderen das Bedürfnis zur Heranziehung sexueller Triebe, weil der
durch die Vereinigung mit ihnen ambivalent gewordene Trieb in
Stand gesetzt würde, die ihm entgegenstehende Hemmung mit Affekt
zu besetzen und so ohne Störung des psychischen Gleichgewichtes
wirksam zu machen. Das Interesse der psychischen Ökonomie hat
die Verschmelzung dieser einander entgegenkommenden Bedürfnisse
bewirkt und so wurde die Überlegung; welche wegen einer künftigen
Gefahr einer gegenwärtigen Lustbefriedigung entgegenwirkte, sexua=
lisiert — es wurde aus ihr ein Adelinhanemen: Die Angst.Von der durch keinen äußeren Anlaß gerechtfertigten neuroti=
schen Angst wissen wir*, daß sie aus verdrángter libido entspringt.ier wie sonst zeigt die Neurose uns ein Zerrbild des normalen
Seelenlebens. Denn auch der normalen, berechtigten Angst darf der
Zusatz des Sexuellen, wie wir eben gesehen haben, nicht fehlen. Es
ist dabei hervorzuheben, daB gerade die Angst ein Grenzgebilde
ist, in das sich auch bei sonst Normalen leicht neurotische Züge
mischen, so findet man oft die Angst vor einem Ereignisse nicht
unbereditigt, aber doch inadáquat. Es bemächtigen sich dann eben
verdrángte sexuelle Impulse der Hemmungsvorstellung und geben
dieser eine an und für sich unverstándliche Affektbetonung. Daß
ein solcher sachlich unberechtigter Affektaufwand nur dort statt-
findet, wo ambivalente Triebe ins Spiel kommen, làft sich durch
Beobachtung leicht bestätigen. Ein im Käfig hinreichend sicher ver-
wahrtes Raubtier betrachtet der Normale ganz affektlos, die durch
den Selbsterhaltungstrieb veranlaDte Furcht ist weggefallen und da=
mit jeder Anlaß zur Erregung. Fäkalien aber werden die meisten
Menschen nicht ganz ohne Affektregung betrachten kónnen, wenn
auch keine nähere Berührung zu befürchten ist, denn der Ekel
entspringt aus exquisit ambivalenten Trieben.Dem Angst-Problem selber, d. h. der Frage, wie die Ver-
wandlung von libido in Angst vor sich geht, sind wir damit nicht
näher gerückt, für uns war nur die Untersuchung von Interesse,
ob auch die unlustbetonten Sensationen der Außenwelt zur Abfuhr
der sexuellen Spannung verwendet werden kónnen und wir haben
gesehen, daß dies auf dem Umweg über die Angst ermöglicht wird.
Es wurden also einem großen Teil der Natur, da die von dort
ausgehenden Sensationen sexualisiert worden waren, sexuelle Affekte* Siehe Freud, »Die Traumdeutung«, III. Aufl, S. 171, und Stekel, »Ner-
vóse Angstzustindes.S.
Über Naturgefühl, 125
entgegengebracht. Bleibt noch das Problem zu erledigen, warum der
Mechanismus der Personifikation, der Animismus, als Ausdruck dieser
Affekte gewählt wurde.Eine nicht leicht überwindbare Schwierigkeit bei den ersten
Schritten seelischer Entwicklung, die der Mensch zu tun versuchte,
war die Aufgabe, die Grenzen zwischen dem Ich und der Aufen-
welt festzulegen und dann die Außenwelt als solche zu erkennen
und ihren Inhalt festzustellen. Mit anderen Worten, der Mensch
mußte von Wirkungen auf äußere Ursachen schließen und ime
stande sein, die Ursachen als vom Ich getrennte, selbständige Ob=
jekte vorzustellen. Diejenige Art der Vorstellung nun, die am
mühelosesten und mit dem geringsten Denkaufwand verknüpft ist,
müssen wir für die ursprūnglichste, zuerst gewählte halten. Es muß
sich auch feststellen lassen, daß der Mead nach Erreichung eines
höheren geistigen Niveaus auf eben diese Vorstellungsart zurück=
greift, wenn er »spielt«, d. h. den psychischen Mechanismus nur auf
unmittelbare Lustgewinnung einstellt, denn durch sie kann er die
Lust, die mit der Ersparung an psychishem Aufwand, der Rückkehr
zur infantilen Denkweise, verbunden ist, erreichen. Da nun das eigene
Ich dem Menschen unmittelbar bekannt ist und ohne Denkanstren=
gung bewußt wird, bestand jene müheloseste Methode darin, sich
als die Ursache jeder von außen kommenden Wirkung etwas dem
eigenen Ich Analoges zu denken — also den Gegenstand, von dem
jene Wirkung ausging, zu anthropomorphisieren oder zu personi=
fizieren. Das Kind und der primitive Mensch nehmen den Stein,
über den sie stolpern, den Baum, an den sie sich stoßen, sogleich
als ebenbürtigen Gegner an, weil sie bis zu der Vorstellung unbe=
seelter, d. h. dem Ich ganz ungleicher Objekte nicht gelangt sind.
So wichtig diese Denkvereinfahung ist, kann sie doch nicht als die
eigentliche Urheberin des von uns untersuchten Phänomens gelten,
da wir fiir ein psychisches Gebilde, das so viele und so starke
Affekte zur Entfaltung brachte, wie der Animismus, hinter der intel-
lektuellen eine rein affektive Ursache suchen müssen. Die Denk=
erleichterung spielt dabei wohl nur die sekundäre Rolle der V or lust,
d. h. sie gibt eine leicht gewinnbare Lustpråmie ab, um den Trieb
zur Erreichung des wichtigeren Zieles anzuspornen. Diese Funktion
der Vorlust kommt gerade der Ersparung an psychischem Aufwand
durch die Rückkehr zur infantilen Denkweise auch bei anderen, nicht
hieher gehörigen Phänomenen zu, z. B. beim Witz und Reim, so
daß wir dies vielleicht für ihre typische Verwendung im entwickelten
Seelenleben halten diirfen*.Wollen wir nun die affektive, also unserer Ansicht nach die
Hauptgrundlage der Personifikationstendenz untersuchen, so müssen
wir uns erinnern, aus welchem Konflikt die Spannung entstand, die
zur Affektbesetzung der Natur führte. Es war die Verdrängung“ Diese Ausführungen gründen sich auf 6. Freud, »Der Witz und seine
Beziehung zum Unbewufiten«.S.
126 Dr. Hanns Sachs.
des NarziBmus, der Beschäftigung mit dem eigenen Ih als Sexual=
Objekt. Es ist nun ein wesentliches. Kennzeichen der Verdrängung,
daß sie den Affekt, gegen den sie sich wendet, nur scheinbar vi
hebt. In Wirklichkeit existiert er, unter einer Verhüllung und Maske,
welche ihm von der Verdrängung, in dieser Funktion »Widerstands=
zensur« genannt, aufgezwungen wird, weiter, und zwischen seiner
neuen Form und der alten bestehen enge assoziative Zusammen=
hänge. Auf diesem Grundsatze beruht ja die Möglichkeit der psycho=
analytischen Therapie. Auch der verdrångte Narzißmus ist also nicht
spurlos verschwunden und die Beziehung zur sexuellen Ich-Liebe
muß der Ersatzbildung noch irgendwie anhaften. Diese Bedingungen
erfüllt aber der Animismus auf das vollkommenste. Die Phantasie~
personen, mit denen die ganze Natur erfüllt wird, sind zunächst
nichts anderes, als Wiederholungen des eigenen Ich, die nach dem
Mechanismus der Projektion in die Außenwelt versetzt werden.
Diese Projektion ermöglicht es, die Zensur zu umgehen und die
von den Ansprüchen eines höheren seelischen Niveaus verpönte
narzißtische Befriedigung wenigstens teilweise zu erreichen. Mit dieser
Vorstellung aller fibidinós besetzten Gegenstände als »Ich«, die als
Folge der untersagten direkten libidinôsen Befriedigung am »Ich«
auftritt, vollzieht sich die Wiederkehr des Verdrängten
aus der Verdrängung. Daß diese Wiederkehr gerade aus der
im Dienste der Verdrängung geschaffenen Ersatzbildung erfolgt, ist
uns als wesentliches Moment des Verdrängungsmechanismus schon
lange geläufig.DiePersonifikationstendenz, die der animisti-
schen Weltanschauung zugrunde liegt, ist also die"Projektion des verdrängten Narzißmus auf die
oi] čajo e welche infolge der aus dem Verdrán-
gungskampf resultierenden Spannung teils direkt,
teils auf dem Umwege über die Angst, libidinós
besetzt worden war.Die ontogenetische Parallele zu unserem Phänomen läßt sich
leicht erweisen. Die Tatsache, daB Kinder die ganze unbelebte
Natur personifizieren, die Einrichtungsstücke der Kinderstube ver=
menschlichen und etwa verlangen, daß man den bösen Tisch
schlage, an den sie sich gestoßen haben, ist allgemein bekannt.
Nichts gewáhrt dem Kinde eine intensivere Lust, als wenn ein leb-
loser Gegenstand durch die Menschengestalt, die ihm gegeben wor-
den ist, der Personifikationstendenz entgegenkommt und das Fest=
halten der animistischen Auffassung erleichtert, deshalb ist die Puppe
von jeher das begehrteste Spielzeug gewesen und wird es immer
bleiben.Daß jene Phantasiewesen, mit denen die Natur bevölkert wird,
nichts anderes seien, als Abspaltungen des eigenen Ich, gilt natür-
lich nur für den Ur-Anfang der seelischen Entwicklung, solange
nämlich nur der einzige Konflikt: Narzibmus — Objektliebe be=S.
Über Naturgefúhl. 127
steht. Die später auf dem Wege zur höheren Kultur auftauchen«
den Konflikte, vor allem also die Verdrängung der Inzestliebe
<Ödipus-Complex), machen dann von dem bereits vorhandenen
Mechanismus für ihre Zwecke Gebrauch. Die ursprüngliche Ich=
Projektion wird nun überlagert von neuen Gestalten, die den späteren,
verdrängten Affekten zum Ausdruck dienen, Damit kommt ein
völlig neuer Zug in diese ganze Phantasiewelt. Während nämlich
bisher die Phantasiegestalten nur alle Wiederholungen desselben und
deshalb wenig differenziert waren, erhalten sie jetzt, wo sie zur
Darstellung der verschiedenen Affekteinstellungen gegen mehrere
Personen dienen müssen, individuelles Gepråge. Dann sind aber
auch nicht mehr alle Naturerscheinungen schlechthin und gleich=
mäßig verwendbar, sondern für jeden Affektausdruck nur diejenigen,
deren Wirkung mit dem Inhalt des Affektes eine gewisse Analogie
aufweist. So macht der Südländer die sengende und verzehrende
Sonne, der Nordmann den Wettersturm und den niederfahrenden
Blitz zum Symbol seiner Gefühle gegen den übergewaltigen, strengen
Vater und Herrscher, in dessen Hand sein Leben steht. Die Erde,
die ihn mit ihren Früchten nährt, den Quell, der ihn tränkt, kann
der Mensch, der sich liebevoll erinnert, wie ihn einst die Mutter
genährt und getränkt hat, nur mit dem Bilde der Mutter beleben.
Durch solche stets hinzukommende Überlagerungen entsteht aus
dem primitiven Totem- und Fetischkult jene Mythologie, die der
antike Ausdruck des Naturgefiihles ist. Nie dürfen aber die Natur=
eindriicke als Entstehungsgrund jener Mythologie aufgefabt
werden. Sie sind nur die Ausdrucksmittel für die psycho=sexuellen
Konflikte, welche Sonne und Meer, Wind und Sterne, je nach
ihrer Bignung, får diese oder jene Rolle ausersehen. Im letzten
Grunde sind dann alle diese fúrchterlichen und liebreizenden, drohen=
den und anziehenden Gestalten nichts anderes als Abspaltungen und
Projektionen des eigenen Ichs ihrer Anbeter. Aufgabe der Mythen=
forscher wird es sein, alle diese Überlagerungen abzutragen und ihre
Verursachung nachzuweisen, bis zurück zu dem ersten mytholo=
gischen Prozeß — der Verdrängung des Narzifmus.Wir sind es schon gewohnt, für die Seelenzustánde des pris
mitiven Menschen Analogien bei den Psychosen und Psycho=
neurosen zu suchen. In unserem Falle liegt der Gedanke besonders
nahe, da Freud in seiner tiefgriindigen Arbeit über die Schrebersche
Autobiographie * nachgewiesen hat, daß eine bedeutende Gruppe
von Geistesktankheiten, nåmlich die Paranoia und die Paraphrenie
(nach dem von Freud vorgeschlagenen Ausdruck, nach Bleuler:
Schizophrenie und nach Kråpelin: Dementia praecox) Produkte des
Verdrångungskampfes zwischen Objektliebe einerseits und NarziDmus,
respektive Auto=Erotik andererseits sind, Tatsåchlich haben wir den* 8. Freud, Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch
beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides) Jahrbuch, ШЛ, siehe be=
sonders S. 64—68.S.
128 Dr. Hanns Sachs.
in der Paranoia vorwaltenden Projektionsmechanismus, das Hinaus=
verlegen des Verdrångten, als wichtigsten Hebel am Werke gefunden.
Den vollkommenen Parallelismus zwischen den mythologischen Vor=
stellungen primitiver Volker und den Wahngebilden der Paraphreniker
hat eine auf dem Boden der Jungschen Lehre fortarbeitende For-
scherin, Dr. Spielrein *, auf das scharfsinnigste nachgewiesen. Ins=
besondere die Tendenz zur Spaltung der Persönlichkeit, die bei den
Geisteskrankheiten vorwaltet, macht sich bei jeder Fortentwicklung
der Mythologie stets aufs Neue geltend. So wie vor den Kranken
seine verdrångten Affekte als vermeintliche Realitåten der AuBenwelt
hintreten, werden aus diesen oder jenen Eigenschaften eines Gottes
neue Götter geschaffen, deren ursprüngliche Bedeutung zunächst noch
angedeutet wird, etwa dadurch, daß sie als Kinder des ersten
gelten, die aber mit der Zeit ganz selbständig werden und nun
ihrerseits wieder Abspaltungen erleiden. Daraus erklärt sich die
ungeheure Fülle der cheer in allen antiken Religionen, vor
allem im vedischen Pantheon. Der Unterschied zwischen der An-
betung der Naturmåchte durch die primitiven Völker und den
Wahnbildungen der Geisteskranken liegt vor allem darin, daß jene
nur ein Notventil war, um die psychische Spannung zu ent=
lasten, im übrigen aber die praktische Einstellung zur Außenwelt
nicht störte, während diese das ganze Seelenleben ausfüllen und
»keine Götter neben sich dulden«.Wenn wir nun darangehen, die wesentlichen Ziige, durch die
sich unser modernes Naturgefiihl von dem antiken unterscheidet,
herauszufinden, miissen wir uns erinnern, daB wir gleich im Anfang
konstatieren konnten, daß der moderne Mensch seine affektive
Stellungnahme zur unbelebten Natur mit allem Nachdruck aus-
spricht, der antike sie nahezu völlig verschweigt. Je mehr Material
wir zum Vergleich heranziehen, desto deutlicher wird die Erkennt=
nis, daB der moderne Mensch das Naturgefiihl, die Affekteinstellung
als solche, recht hoch bewertet: er bekennt sich ohne Zögern dazu,
schildert es gerne und liebevoll und bemüht sich, jene Seite seines
Gefiihlslebens auszubilden. Nicht selten wird das Naturgefühl über=
haupt zum Wertmesser der kulturellen Entwicklung der Persónlich=
keit gemacht. Von einer solchen Hochschåtzung weiß die Antike
— wenigstens bis zur Zeit ihrer höchsten Blüte — nahezu gar
nichts. Dagegen kennt sie der Natur gegentiber eine andere
strenge Wertung, die uns wiederum abhanden gekommen ist. Der
antike Mensch wurde nur von jenen Naturschauspielen ergriffen,
die durch die heroische Gewalt ihres Auftretens oder durch ihre
vollendete Schönheit aus der übrigen Menge hervortreten. Der Flocken=
schaum der stürmischen Brandung, die edlen Linien eines Ge-
birges, die harmonische Form eines Olbaumes und åhnliehe Dinge
zwangen ihn in ihren Bann. Für die Renaissance gilt noch fast das* Dr. С. С. Jung, "Zur Psychologie der Dementia praecox<. Spielrein,
»Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie«. Jahrbuch III/I.S.
Über Naturgefühl. 129
Gleiche, Eine große Änderung trat mit jener Epoche ein, die einen
Umschwung fast auf jedem Gebiet der Geistestätigkeit des gebildeten
Europa bedeutet und mit dem Namen en Jacques Rousseau ge-
kennzeichnet ist, Das Gebiet der mit Gefühl betrachteten Natur=
dinge wurde an zwei Stellen erweitert. Die Alpengipfel, die bisher
in ihrer strengen und menschenfeindlichen Majestät gemieden
worden waren, wurden nun bewundert und besucht. Und
die einfache, durch nichts ausgezeichnete Landschaft, Feld
und Wald, Wiesen und Au wie sie sich ebenso schon
oder schöner an jedem anderen Orte finden kann, weckte jetzt
shwármende Begeisterung. Man muß nicht mehr in die Ferne
ziehen, um die Natur im Prachtgewande zu suchen, ein Gang vor
das Tor genügt, um alle Gefühistône anklingen zu lassen. Von da an
besteht die Tendenz, das Naturgefühl auf immer mehr und mehr
Objekte auszudehnen. Den letzten Schritt hat die von Frankreich
in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ausgegangene Be=
wegung, die sich den Namen SN ni beilegte, getan. Ja,
es scheint fast, als ob dies das wesentliche und dauernde Verdienst
jener Bewegung gewesen wire, daß sie auch die letzten Schranken
der verschiedenen Bewertung der Naturobjekte niedergerissen hat.
Uns Gegenwartmenschen scheint die Natur 一 subjektive Unterschiede
ungerechnet — in allen Gestalten gleich liebenswert. In uns kann
die rauchig=triibe Atmosphäre, die einen Fabriksschiot umgibt, ein
Stück staubiger Straße, auf das die blendende Sommersonne strahlt,
die ganze Skala unserer Empfindungen wachrufen, Passen wir das
Gesagte zusammen: Die Antike wertet das Objekt, dem das
Naturgefühl gilt, nicht das Gefühl, die Moderne wertet das Gefühl
während das Objekt ihr fast indifferent ist. Dieses seltsame Gegen=
satzverhältnis bildet die vollkommene Ergänzung des Ak о
des Sexualtriebes, wie es Freud" geschildert hat: »Der eingreifendste
Unterschied zwischen dem Liebesleben der Alten Welt und dem
unsrigen liegt wohl darin, daß die Antike den Akzent auf
den Trieb selbst, wir aber auf dessen Objekt verlegen. Die
Alten feierten den Trieb und waren bereit, auch ein minderwertiges
Objekt durch ihn zu adeln, während wir die Triebbetåtigung an
sich geringshátzen und sie nur durch die Vorzüge des Objekts
entschuldigen lassen.« Es ist klar, daß dieser Umschwung ein
Erfolg der erhöhten Verdrängung war. Dem anstófigen Sexual-
trieb, von dem so wenig als möglich die Rede sein darf, wird die
Wertung entzogen. Dem Sexualobjekt, das jetzt, nachdem der Trieb
in der Versenkung verschwunden ist, le zu sein scheint, darf
diese herrenlos gewordene Wertschätzung angeheftet werden — in
Wirklichkeit drückt diese Schätzung und Uberschåtzung des Objektes
nichts anderes aus als die Rückkehr des verdrångten Triebes aus
der Verdrängung. Jedenfalls können wir daraus, daß Naturgefühl* Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 2. Aufl, S. 14. Anm.
S.
130 Dr. Hanns Sachs.
und Sexualtrieb in einem komplementåren Verhältnis stehen, einen
Schluß ziehen, der uns darüber belehrt, was denn wenigstens aus
einem Teil der Energien des verdrångten Sexualtriebes geworden
ist. Sie haben sich offenbar in die starke Betonung und hohe Be-
wertung des Naturgefiihls umgesetzt und diese Verstärkung aus der
Quelle der erhöhten Verdrängung hat das Naturgefúhl so objekthungrig
gemacht, daB es seinen Kreis immer weiter und weiter ausdehnte,
gleich einem Manne, der sich einst nur von erlesener Speise nåhrte und
nun von seinem stets wachsenden Appetit zur Vorliebnahme mit der ein=
fachsten Kost gezwungen wird. Daß dieses Hintibershieben von
Affektmengen auf das Naturgefúhl am eifrigsten betrieben wurde,
als das «galante» Zeitalter, das aud das Zeitalter der religidsen
Orthodoxie und des Fürstendienstes war, versank, und die Men-
schen lernen mußten, tugendhaft, atheistish und frei zu sein, ist
unschwer einzusehen. Denn dadurch wurden große Libido-Quanti=
täten, die bisher an bestimmte Objekte gebunden gewesen waren,
mit einem Male entfesselt und mußten anderweitige Verwendung
finden, wenn sie nicht den ganzen Kulturmechanismus zerstören sollten.
Als typisch für das Naturgefühl der Alten haben wir die
Personifikationstendenz kennen gelernt, diese kann sich bei dem
modernen Menschen in der alten Form nicht mehr durchsetzen,
denn die objektive Erkenntnis der realen Verhältnisse ist in unserem
Geiste so stark geworden, daß eine Auflehnung dagegen nicht mehr
möglich ist, An die Stelle der Personifizierung, welche dem Gegen-
wartsmenschen keine Lust mehr verschaffen würde, ist eine andere
Technik der «Naturbeseelung» getreten, die unseren Erfahrungen
minder grell widerspricht. Wir verzichten darauf, aus den hinaus=
rojizierten Affekten selbständige, menschenähnliche Gestalten zu
Bilder, aber wir fahren mit der Projektion selbst noch immer fort.
Wenn wir die Trauer des herbstlichen Waldes und das Lachen
des Friihlingshimmels empfinden, schieben wir der Natur, deren
wechselnde Bilder in unserem Innern mit Assoziationen verknüpft
sind, unsere Affekte zu, die durch jene Assoziationen geweckt
wurden. Diese Loslósung der Affekte vom Subjekt macht das
Festhalten eines individuellen Objektes unmöglich. Dadurch bekommen
jene in die Natur hinausprojizierten Affekte einen Charakter der
Allgemeinheit, der sie von den direkt geäußerten unterscheidet, wenn
dann mehrere Menschen von nur einigermaßen ähnlicher Affektlage
demselben Naturschauspiel gegenüberstehen, werden sie sich, da
ihre in die Natur projizierten Empfindungen die individuellen
Züge abgestreift haben, in der gleichen Gefühlseinstellung finden.
Diese Objektivierung der Empfindungen nennen wir »S timm u "ae
sie ist das eigentliche Merkmal des modernen Naturgefiihls, das
geheime Zeichen, an dem sich die verwandten Gemüter erkennen,
der letzte Rest jener Phantasietätigkeit, die einst die Natur=
mythen und -Religionen aufgebaut hat. Was einst dem Menschen“
geschlecht wesentlicher erschien als jede Realität, was ihm höherS.
Uber Naturgefühl. 181
und heiliger galt als irdisches Hassen und Lieben, das ist heute zu
einem Spielzeug herabgesunken, nach dem die Seele erst greifen
darf, wenn die Sorgen des Tages erledigt worden sind. Einzig
bei den Künstlern — das Wort hier im weitesten Sinne дея
nommen — kann die Stimmung noch den Herrscherplatz behaupten,
denn der Kiinstler ist nach dem Ausspruche Schopenhauers® in den
Hauptziigen seines Geistes dem Kinde verwandt und bewahrt, da
ontogenetische und phylogenetische Vergangenheit zusammenfallen,
vieles, was dem heutigen Geschlecht verloren gegangen ist.Es steht in seltsamem Gegensatz zu der Wertschätzung des
Naturgefühles, daß ihm alle wichtigen sozialen Funktionen entzogen
wurden ; zwischen der offiziellen Bewertung eines Affektes in einem
bestimmten Kulturmilieu und seiner wirklichen Bedeutung dafür be-
steht eben gar kein Zusammenhang. Gewiß ist, daß mit dem Weg=
fall der Personifizierung die Möglichkeit der gründlichen Abreagie=
rung sehr beeinträchtigt wurde. Denn an jene Gestalten konnte
man wirklich und voll glauben und sich im Verhältnis zu ihnen
darum auch ‚vollständig ausleben — besser als im Verhältnis zu
den wirklichen Menschen. Die Affekte hingegen, die wir in die
Natur hinausprojizieren, sind ihr nur geliehen und wir werden
immer wieder daran gemahnt, daß sie nicht wirklich der Land-
schaft, sondern uns selbst angehören; wir können es uns nicht
lange verhehlen, daß nicht der Herbstwald trauert, sondern wir, daß
wir zornig und gewaltsam sind, nicht das Gewitter. Wenn wir
also den Wer, den unser Naturgefühl hat, gegen jenen des antiken
abschätzen — den wirklichen, nicht jenen, den die allgemeine
Schátzung ihm zuteilt, so kónnen wir es nicht übersehen, dab ihm
keine wichtige Leistung im Seelenleben mehr zukommt. Es ist
nicht der einzige Fall, daß eine Einrichtung, der einmal die höchste
Bedeutung zukam, nachdem sie überflüssig geworden war, nicht ab=
geschafft wurde, sondern weiterbestand, aber nun als ein zu ernstem
Gebrauche unverwendbares Spiel galt. Ähnlich gehen manche un-
verständlichen Volkssitten und Feste auf die wichtigsten Betáti=
gungen unserer Ahnen zurück.Aber auch jene geringere Lustbefriedigung vermag das
heutige Naturgefühl nicht mehr in derselben Intensität zu gewähren.
Unsere Erkenntnis, unser ausgebildetes begrifflich=logisches Denken,
unsere zahlreichen Affektkonfiikte setzen einer vollen Befriedigung
zu viele Hemmungen entgegen. Darin gibt uns das Naturgefühl
einen kleinen Ausschnitt aus dem Bilde unserer Zeit, die sich in der
Pflege und Bewunderung des Gefiihlslebens nicht genug tun kann
und ihm doch kaum irgendwo freien Spielraum gewährt.evo
* Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Drittes Buch,
Kapitel 31.
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