Freuds Schriften aus den Jahren 1893-1909 1909-761/1909
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    Freuds Schriften aus den Jahren 1893—1909
    (einschließlich der mit Breuer gemeinsam veröffentlichten Arbeiten).

    Referat von Dr. Karl Abraham, Berlin.

    Vorbemerkung.

    Ein Sammelreferat über Freuds Schriften, das sich, ohne den
    persönlichen Ansichten des Referenten Ausdruck zu verleihen, lediglich
    auf die Wiedergabe des Inhaltes beschränkt, ist bisher nicht gegeben
    worden. Ich sehe hier freilich von der gedrängten Übersicht ab, welche
    Rank seiner Studie: „Der Künstler" vorausgeschickt hat.

    Das nachfolgende Referat soll den Entwicklungsgang der
    Lehren Freuds zur Darstellung bringen. Ich kann mich deswegen
    nicht damit begnügen, die wichtigsten Resultate der einzelnen Arbeiten
    aufzuzåhlen, sondern ich muß die Gedankengänge wiedergeben,
    auf welchen die Anschauungen des Verfassers beruhen. Ich habe
    mich bemüht, die Referate so knapp abzufassen, wie die Kompliziertheit
    des Gegenstandes es erlaubte; ich habe z. B. Wiederholungen vermieden,
    indem ich die einmal gegebenen Erklürungen, Definitionen usw. in den
    späteren Referaten als bekannt voraussetzte.

    Einer, und gerade einer wenig umfangreichen Publikation habe
    ich ein sehr ausführliches Referat zuteil werden lassen: den „Drei Ab-
    handlungen zur Sexualtheorie“. Neue Ideen mit komplizierten
    Zusammenhängen finden sich hier in großer Zahl auf einem engen Raum
    zusammengedrångt. Die Rolle der Sexualität im Leben des gesunden
    Menschen und des Neurotikers wird im vollen Umfange gewürdigt.
    Alle spüteren Schriften Freuds sowie viele Arbeiten seiner Anhänger
    fußen auf den „Drei Abhandlungen”, und für die ferneren Forschungen
    auf den Gebieten der Sexualtheorie und Neurosenlehre werden sie auf

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    Freuds Schriften aus den Jahren 1893—1909. 547

    lange Zeit hinaus die Grundlage bilden miissen. Endlich hat kein anderes
    Werk des Verfassers so wenig Verständnis, eine so ablehnende Aufnahme
    gefunden wie dieses. So erschien mir ein besonderes Eingehen auf die
    „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" nicht nur gerechtfertigt, sondern
    geboten.

    1. Uber den psychischen Mechanismus hysteriseher Phänomene.
    Von Dr. Josef Breuer und Dr. Sigmund Freud in Wien.
    Neurologisches Zentralblatt, 1893, Nr. 1 u. 2; auch ab-

    gedruckt als Einleitung der „Studien über Hysterie‘, 1895.

    Die Symptome der Hysterie stehen in einem psychologischen
    Zusammenhang mit voraufgegangenen Erlebnissen. Oft ist die Ver-
    kniipfung zwischen traumatischem ^ Erlebnis und hysterischem
    Symptom nur symbolischer Art.

    Ein psychisches Trauma äußert sich nur dann durch Krank-
    heitssymptome, wenn der mit ihm verbundene Affekt keine sofortige
    Abfuhr gefunden hat. Später ist diese spontan nicht möglich, weil die
    Reminiszenzen an das Trauma der gewollten Erinnerung entzogen sind.
    Hierin äußert sich die Neigung der Hysterie zur Bewußtseins-
    spaltung. Nur den spontan auftretenden abnormen Bewußtseins-
    zuständen („hy pnoide Zustände“) ist das Gedächtnis für die patho-
    genen Erlebnisse eigen. Letztere behalten ihren vollen Affektwert, weil
    sie vom assoziativen Verkehr ausgeschlossen sind.

    Die Verfasser machten nun die Erfahrung, daß die hysterischen
    Symptome verschwanden, wenn es (besonders in der Hypnose, einem
    den spontanen hypnoiden Zuständen verwandten Bewußtseinszustand)
    gelang, die abgespaltenen Erinnerungen wieder wachzurufen. Durch das
    so ermöglichte Abreagieren findet eine nachträgliche Abfuhr des
    „eingeklemmten“ Affektes statt. Breuer und Freud gründen
    darauf ihr „kathartisches Verfahren“,

    2. Quelques considérations pour une étude comparative des paralysies
    motrices organiques et hystériques.
    Archives de Neurologie, 1893, Nr. 77.

    Von Charcots Lehren ausgehend erörtert Freud die Differenzen
    der organischen und hysterischen Lähmungen. Die Ergebnisse sind
    heute jedem Neurologen geläufig, so daß ein Referat überflüssig erscheint.
    Am Schlusse versucht Freud den psychischen Mechanismus einer

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    hysterisehen Lähmung des Armes aufzuklären. Ist die Vorstellung
    „Arm“ mit einer affektbetonten Reminiszenz verknüpft, so wird sie vom
    Bewußtsein abgespalten und ist nun von anderen Vorstellungen aus auf
    assoziativem Wege nicht erreichbar. Es ist, als wäre der Arm nicht
    vorhanden. Diese Ausschaltung des Armes läßt sich durch das in der
    vorigen Abhandlung beschriebene Verfahren beseitigen.

    3. Die Abwehr-Neuropsychosen. Versuch einer psychologischen
    Theorie der akquirierten Hysterie, vieler Phobien
    und Zwangsvorstellungen und gewisser halluzina-
    torischer Psychosen,

    Neurologisches Zentralblatt, 1894, Nr. ① u. 2.

    Die BewuBtseinsspaltung kann nicht als der primäre Zug der
    hysterischen Veränderung betrachtet werden, wie Janet es versucht.
    Es gibt Fålle, in denen die Spaltung keine wesentliche Rolle spielt. Bei
    diesen ist nur eine geniigende Reaktion auf das psychische Trauma
    unterblieben (,,Retentionshysterie”). Bei einer andern, durch das
    Vorhandensein von Phobien und Zwangsvorstellungen ausgezeichneten
    Form ist die Spaltung vorhanden, aber sie ist nicht die primåre Krank-
    heitserscheinung, sondern sekundår durch einen Willensakt des Patienten
    herbeigeführt. Die Krankheit schließt sich an ein mit dem Bewußtsein
    unvertrågliches Erlebnis (meist sexueller Art!) an. Der Patient sucht
    die Reminiszenz, die er nicht auslôschen kann, durch einen Akt der
    Abwehr unschädlich zu machen. Die unvertrågliche Vorstellung wird
    des ihr anhaftenden Affektes entkleidet; der freigewordene Affekt-
    betrag wird auf eine indifferente Vorstellung „transponiert'. So
    entstehen die der ,Abwehrhysterie“ eigentümlichen Phobien und
    Zwangsvorstellungen.

    Der dritten Gruppe eigentiimlich ist die Fåhigkeit zur Konver-
    sion, d. h. zur Umsetzung des Affektbetrages in körperliche Sym-
    ptome. Diese Fähigkeit 一 nicht die Bewuftseinsspaltung — ist die
    Grundlage der hysterischen Symptome.

    Die Therapie der Zwangsvorstellungen und Phobien hat die
    Symptome auf ihre sexuellen Ursachen zurückzuführen.

    Auch gewisse Zustände von halluzinatorischer Geistesstörung
    stellen eine Abwehr unverträglicher Vorstellungen dar. Der Patient
    glaubt sich in einer von der tatsächlichen verschiedenen Situation. Er
    benimmt sich, als wäre das Erlebnis gar nicht an ihn herangetreten,
    verwirft es also mitsamt seinem Affektbetrag.

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    4. Uber die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten
    Symptomenkomplex als Angstneurose abzutrennen.

    Neurologisches Zentralblatt, 1895, Nr. 2.

    Freud sucht aus dem groBen Sammelbegriffe der Neurasthenie
    einen Symptomenkomplex mit dem Kardinalsymptom der Angst
    herauszuheben. Die wichtigsten Zeichen der ,Angstneurose“ sind
    Reizbarkeit, ångstliche Erwartung, Gewissensangst bis zur Zweifelsucht,
    nächtliches Aufschrecken, Schwindel, Heifhunger, Diarrhoe. Die Angst
    tritt zeitweise in Anfällen auf, die sich körperlich durch beschleunigte
    Atmung, Herzklopfen und SchweiBausbruch äußern. Aus den über-
    triebenen Befürchtungen werden Phobien; unter diesen nimmt die
    Agoraphobie eine Sonderstellung ein, indem sie nicht der gleichen
    Analyse wie die übrigen Zwangserscheinungen zugänglich ist.

    Die wesentliche Ursache der Angstneurose ist mangelnde sexuelle
    Befriedigung. Alle Schädlichkeiten, die in dieser Richtung wirken,
    rufen Angstneurose hervor, so besonders der Coitus interruptus, die
    . frustrane Erregung, erzwungene Abstinenz, Enthaltung von der ge-
    wohnten Masturbation. Die somatische Sexualspannung erfåhrt keine
    Abfuhr und wird in Angst verwandelt. Diese in den allermeisten Fällen
    erweisbaren Schädlichkeiten entfalten ihre Wirkungen manchmal erst
    nach langer Dauer. Beseitigt man die Noxe, so schwinden die Symptome.

    Nicht selten ist die Angstneurose mit einer andern Neurose ver-
    knüpft. Für eine solche gemischte Neurose läßt sich dann eine gemischte
    Ätiologie nachweisen. Eine Minderzahl von Fällen entbehrt der sexuellen
    Ätiologie, hat aber dennoch einen sexuellen Mechanismus. Durch nicht
    sexuelle Noxen kann die Psyche unfähig werden, die vorhandene sexuelle
    Erregung zu bewältigen.

    Der normale Angstaffekt ist die Reaktion auf eine äußere Gefahr.
    Die Angst bei der Angstneurose ‚ist die Reaktion auf eine endogene
    Erregung; das von der Angst ergriffene Individuum verhält sich. durch-
    aus, als drohe ihm eine äußere Gefahr. Es verlegt also den Anlaß zur
    Angst in die Außenwelt.

    5. Studien über Hysterie. Von Dr. Josef Breuer und Dr. Sigmund

    Freud in Wien.
    Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1895; 2. Auflage, 1909,

    (Der Inhalt wird hier nur referiert, soweit er von dem der
    früheren Mitteilungen abweicht.)

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    550 Karl Abraham.

    I. Uber den psychischen Mechanismus hysterischer
    Phänomene. (Breuer und Freud.) Abdruck der unter Nr. 1
    referierten 。Vorl&ufigen Mitteilung“.

    II. Krankengeschichten. (Breuer, Freud.)

    Die Verfasser demonstrieren an Hand dieser Krankengeschichten
    die wissenschaftlichen und therapeutischen Ergebnisse des kathartischen
    Verfahrens. Die hysterischen Symptome erweisen sich als deter miniert
    durch Reminiszenzen peinlicher Erlebnisse. Der Bildung der Symptome
    liegt das Motiv der Abwehr, der Mechanismus der Kon-
    version zugrunde. Die erste Krankengeschichte (Breuer) ist durch das
    håufige Auftreten von hypnoiden Zustånden ausgezeichnet.

    111. Theoretisches. (Breuer.)

    Es besteht eine Tendenz zur Konstanterhaltung der intra-
    zerebralen Erregung. Steigerungen derselben werden in der Regel
    durch motorische Reaktion oder auf assoziativem Wege ausgeglichen.
    Geschieht dies nicht, so ist der Boden für die Entstehung hysterischer
    Phänomene geschaffen. Unter den Erlebnissen, auf welche eine befreiende
    Reaktion unterbleibt, nehmen sexuelle einen besonderen Raum ein.

    Breuer legt den hypnoiden Zuständen für die Genese der
    hysterischen Symptome eine große Bedeutung bei. Das Hypnoid er-
    leichtert die Konversion, bedingt die BewuBtseinsspaltung und erklärt
    die Amnesie. Im Gegensatze zu Janet, der die Spaltung auf einen
    geistigen Schwächezustand zurückführt, betont Breuer die Bedeutung
    bewuBtseinsunfähiger Vorstellungen für ihr Zustandekommen.

    IV. Zur Psychotherapie der Hysterie. (Freud.)

    ‘Freud charakterisiert das kathartische Verfahren als eine sympto-
    matische Therapie. Er handhabt die Methode in einer modifizierten
    Form. Er hält die Hypnose nicht für notwendig zur Erweiterung des
    Bewußtseins, legt auch den hypnoiden Zuständen eine geringere Bedeu-
    tung bei. Die Hypnose miBlingt nicht selten; manchmal nützt sie nichts
    zur Analyse. In solchen MiBerfolgen sieht Freud AuBerungen des
    „Widerstandes“. Dieselbe Kraft, welche die pathogenen Vor-
    stellungen abwehrte, stellt sich der Behandlung entgegen. Freud zieht
    es vor, die Patienten in wachem Zustande berichten zu lassen, was
    ihnen zum Thema einfällt, wobei er durch Zureden und Suggestion
    (Handauflegen) den Widerstand zu überwinden sucht. Man gelangt ganz
    allmählich durch verschiedene Schichten zum Kerne der pathogenen

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    Freuds Schriften aus den Jahren 1893—1909. 551

    Erinnerungen, deckt die Motive der Abwehr auf und macht sie dadurch
    wirkungslos. Der Patient wird zur Mitarbeit bei der Behandlung heran-
    gezogen. Sein Widerstand verringert sich allmählich mit dem Fort-
    schreiten der Analyse.

    8. Obsessions et phobies. Leur mécanisme psychique et leur étiologie.
    Revue neurol., III., 1895.

    (In deutscher Übersetzung: Wiener klinische Rundschau,
    1895.)

    Freuds Anschauung von den Zwangsvorstellungen und Phobien
    weicht von der herkömmlichen ab, insofern als er diesen Erscheinungen
    eine gewisse Selbständigkeit, d. h. Unabhängigkeit von der Neurasthenie
    einräumt, und in der „Degeneration“ allein keine ausreichende Ätiologie
    erblickt.

    Die Phobien sind stets mit dem Affekt der Angst verknüpft. Sie
    bedeuten entweder eine krankhafte Steigerung allgemein menschlicher
    Befürchtungen oder sind spezielle Befürchtungen, die nur in bestimmten
    Situationen auftreten (wie z. B. die Agoraphobie).

    Der Affekt der Zwangsidee kann auch ein andrer als ein Angst-
    affekt sein. Er ist an sich berechtigt, nur ist er von der „unvertriiglichen”
    Idee, welcher er ursprünglich anhaftete, auf eine substituierende
    Idee verschoben; daher die scheinbare Absurdität der Zwangsidee. Die
    Idee kann wechseln, während der Affekt bleibt. In einer besonderen
    Gruppe von Fällen (Grübelsucht, Zählzwang u. a.) dient die obsedierende
    Idee dazu, die Beschäftigung mit einer bestimmten andern Idee zu
    verhindern.

    7. Zur Kritik der ,, Angstneurose“!),
    Wiener klinische Rundschau, 1895.

    Die Ursache der Angstneurose låBt sich nicht aus der vom Patienten
    spontan gegebenen Anamnese entnehmen. Er schiebt allerhand nicht
    sexuelle (,,banale“) Schädlichkeiten vor. Genaueres Eingehen wird stets
    den sexuellen Mechanismus und meistens eine sexuelle Ätiologie auf-
    decken Die banalen Schädlichkeiten lösen die Krankheit
    höchstens aus. Die Noxen des Geschlechtslebens müssen sich aber erst
    bis zu einem bestimmten Grade summiert haben, ehe eine banale Schäd-

    1) Replik auf eine Kritik Löwenfelds zu dem ersten Aufsatz über die
    Angstneurose.

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    552 Karl Abraham.

    lichkeit die Krankheit zum Ausbruche bringen kann. Das banale Moment
    bestimmt nie die Form der Neurose; diese hängt von der spezifischen
    sexuellen Ätiologie ab.

    Die Heredität ist nicht die Ursache der Angstneurose; sonst
    müßte ja jede Therapie aussichtslos sein. Die Heredität ist nur die
    wichtigste Bedingung für die Entstehung der Angstneurose, aber
    sie ist nicht unentbehrlich. Heredität und sexuelles Moment ergänzen
    einander; das letztere wirkt meist nur bei hereditär disponierten Per-
    sonen. Als Ursache der Angstneurose haben die in dem früheren Auf-
    satze genannten sexuellen Schädlichkeiten zu gelten.

    8. Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsyehosen.
    Neurologisches Zentralblatt, 1896, Nr. 10.

    Im Gegensatze zu den einfachen Neurosen (Neurasthenie, Angst-
    neurose), die auf aktuellen Schädlichkeiten sexueller Art beruhen, ent-
    stehen die Abwehrneuropsychosen (Hysterie, Zwangsneurose)
    auf infantil-sexueller Basis.

    Die spezifische Ätiologie der Hysterie liegt in sexueller Passi-
    vität während der ersten Kindheitshälfte. Ein sexuelles Trauma,
    das mit Irritation der Genitalien verbunden war, wird in der Zeit der
    Reifung wieder erinnert und entfaltet nun seine pathogenen Wirkungen.
    Etwaige auslösende Momente wirken lediglich dadurch, daß sie die
    Erinnerungsspur an das infantile Trauma erwecken.

    Bei der Zwangsneurose führt die Analyse auf eine mit Lust
    ausgeführte sexuelle Aggression im Kindesalter, welcher ein Fall von
    Passivität (Verführung) vorausgegangen ist. Zwangsvorstellungen sind
    aus der Verdrängung wiederkehrende Selbstvorwiirfe wegen jener
    Aggression. In der Pubertät wird als primäre Abwehr gegen die pein-
    liche Erinnerung ein besonderer Grad von SelbstmiBtrauen, Gewissen-
    haftigkeit und Scham ausgebildet,

    In späterer Zeit kann das Verdrångte in Gestalt von Zwangs-
    vorstellungen ins Bewußtsein eindringen. „Aller neurotische Zwang
    Tibrt von Verdrängung her.“ Die Zwangsvorstellungen sind
    Kompromißbildungen zwischen verdrängenden und verdrängten
    Vorstellungen. Entweder drängt sich der Erinnerungsinhalt der Vorwurfs-
    handlung allein auf oder auch der zugehörige Vorwurfsaffekt. Im
    ersteren Fall entstehen typische Zwangsvorstellungen, die sich mit
    einfacher Unlust verbinden; im letzteren die Zwangsaffekte (Ver-
    suchungsangst, soziale und hypochondrische Angst usw.). Außerdem

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    Freuds Schriften aus den Jahren 1893—1909. 553

    sind noch Symptome der sekundåren Abwehr zu unterscheiden,
    welche nicht von sexueller Aggression herrühren, sondern Schutz-
    maßregeln gegen die sich aufdringenden Zwangsvorstellungen darstellen.
    Hierher gehören Griibelzwang und Zweifelsucht, Zwangshandlungen
    und mannigfache Maßregeln der Buße und Vorbeugung.

    Ein verwandter psychischer Mechanismus der Abwehr läßt sich
    in Fällen von Paranoia nachweisen. Auch hier richtet sich die Abwehr
    gegen ein verdrängtes Kindererlebnis, Als primäre Abwehr finden wir
    hier das Mißtrauen gegen andere; es entspricht dem Selbstmißtrauen
    bei der Zwangsneurose. Die Wiederkehr des Verdrängten äußert sich in
    Halluzinationen, die sekundäre Abwehr in kombinatorischer Wahn-
    bildung.
    NB. In diesem Aufsatze wird zum ersten Male der „Verdrängung“
    die volle Bedeutung zugemessen. Ferner findet sich dier die erste An-
    wendung der Bezeichnung „Psychoanalyse“ für das modifizierte
    Breuersche Verfahren.

    9. L'hérédité et l'étiologie des Névroses.
    Revue neurologique, IV., 1896.

    Dieser Aufsatz vertritt die gleichen Anschauungen über die
    sexuelle Ätiologie der Neurosen und über die Bedeutung der Heredität,
    wie sie in den beiden vorhergehenden Arbeiten zur Darstellung kamen.

    10. Zur Ätiologie der Hysterie.
    Wiener Klinische Rundschau, 1896, Nr. 22 bis 26.

    Die spontane Autoanamnese des Patienten ist ungenügend. Die
    Psychoanalyse lehrt uns in den Symptomen der Hysterie Erinnerungs-
    symbole an traumatisch wirksame Erlebnisse erblicken. Dem zuerst
    aufgedeckten Trauma fehlt es oft an traumatischer Kraft und an qualita-
    tiver determinierender Eignung.‘ Breuers Annahme hypnoider Zustände
    ist entbehrlich. Auch ohne solche wird die traumatische Wirkung eines
    unbedeutenden Erlebnisses erklärlich. Es wirkt, weil es Erinnerungen
    weckt. Die Suche nach den determinierenden Erlebnissen im Vorleben
    führt stets auf sexuelle Erlebnisse. Man gelangt bis auf Eindrücke der
    Pubertätszeit und weiter auf infantile Sexualszenen.

    Der Annahme, der Untersucher werde hier vom Patienten ge-
    täuscht, widerspricht schon die Regelmäßigkeit des Befundes, sodann
    der Widerwillen des Patienten, sich an jene Vorgänge erinnern zu lassen.

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    554 Karl Abraham.

    Ferner wird jedesmal erst durch das infantile Trauma das gesamte
    Gefüge der Neurose verständlich. Auch der therapeutische Erfolg ist
    dauernd nur dann, wenn die Analyse sich auf die Kindheit erstreckte.
    In gewissen Fillen konnen Personen, welche an dem Erlebnis Anteil
    nahmen, eine Bestätigung liefern, so besonders, wenn die traumatische
    Szene zwischen Geschwistern stattfand.

    Freilich bleiben viele Personen trotz erlittener Sexualtraumen
    gesund. Dies ist aber kein ernstlicher Einwand gegen die Theorie. Gewisse
    Hilfsursachen — Konstitution, Schwere oder Håufung der Traumen,
    sexuelle Friihreife usw. — müssen hinzukommen, um eine neurotische
    Erkrankung herbeizuführen.

    Die frühesten sexuellen Erlebnisse, deren unbewußte Erinne-
    rung den Keim der Krankheit bildet, ereignen sich vor dem achten
    Lebensjahre. Die ersten Symptome der Krankheit können vom
    achten Lebensjahre an auftreten; noch früheres Erscheinen dürfte
    auf abnormer Frühreife beruhen.

    Alle Symptomen der Hysterie sind überdeterminiert. Die
    Reaktionen der Hysterischen erscheinen uns nur so lange übertrieben,
    als wir nur einen Teil ihrer Motive kennen. Die Psychoanalyse deckt die
    vielfachen Zusammenhänge jedes Symptomes auf.

    11. Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen.
    Wiener Klinische Rundschau, 1898, Nr. 2, 4, ⑤ u. 7.

    Die Psychoanalyse erfordert ein intimes Eingehen auf die Sexua-
    lität des Kranken. Die gegen die Methode vorgebrachten moralischen
    Bedenken halten der Kritik nicht stand. Im Gegenteil ist die Erforschung
    der Vita sexualis des Patienten eine Pflicht des Arztes. Sie allein er-
    möglicht ihm das Verständnis der Neurosen und damit eine kausale
    Therapie. Die Faktoren nicht sexueller Natur, welche man als Ursachen
    der Neurosen anschuldigt, sind unzulånglich, namentlich, weil wir in
    ihrer Wirkung vergeblich nach etwas Konstantem suchen.

    Der Arzt, welcher dem Sexualleben seiner Patienten Aufmerksam-
    keit schenkt, wird den Geschlechtstrieb des Neurasthenikers von der
    Masturbation auf normale Ziele lenken, wird in Fållen von Angstneurose
    die Noxen beseitigen, die dem Patienten die volle sexuelle Befriedigung
    rauben, ja er wird das Auftreten solcher Erkrankungen verhiiten können.

    Zum Verständnis und zur Behandlung der Psychoneurosen bedarf
    es der Erforschung des Unbewußten mit Hilfe der Psychoanalyse, deren

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    Freuds Schriften aus den Jahren ⑱⑨⑧ 一 ⑲0⑨. 555

    Indikationen jedoch begrenzt sind. Die Methode eignet sich nicht fiir
    kindliche und zu alte Personen. Sie setzt ferner beim Patienten eine gute
    Intelligenz voraus sowie einen Geisteszustand, der einen geniigenden
    Rapport zwischen Arzt und Patienten ermöglicht.

    12. Zum psychischen Mechanismus der VergeBlichkeit.

    Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Band 4, 1898,
    S. 436.

    Eigennamen werden besonders leicht vergessen. Trotz aller
    Anstrengung kann man sich des vergessenen Namens nicht entsinnen.
    Falsche Ersatznamen drängen sich auf. Nach Ablenkung der Aufmerk-
    samkeit kehrt der gesuchte Name plötzlich zurück. Dieses Vergessen ist
    tendenziôser Natur; es ist die Folge der Verdrängung solcher Vor-
    stellungen, an welchen ein Unlustaffekt haftet.

    13. Uber Deckerinnerungen.
    Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Band 6,
    1899, 8. 215£.

    Deckerinnerungen sind Erinnerungen, welchen trotz ihres
    gleichgültigen Inhaltes ein großer Gedächtniswert zukommt. Sie ver-
    danken diesen Gedächtniswert jedoch nicht ihrem eigenen Inhalt,
    sondern seinen Beziehungen zu einem andern, verdrängten Inhalte.
    Die Deckerinnerung ist etwa ein losgerissenes Stück einer wichtigen
    Erinnerung oder sie vertritt symbolisch eine solche.

    Erinnerungen aus der frühen Kindheit, die uns durch viele Jahre
    nicht eingefallen waren, werden plötzlich einmal erweckt und stehen nun
    mit großer Lebhaftigkeit vor uns. Vorstellungen, welche uns zur Zeit der
    „Erweckung” beherrschen, die aber wegen ihres peinlichen Inhaltes
    nicht bewußt werden dürfen, werden in die Kindheit zurückverlegt;
    sie verbergen sich hinter einer scheinbar harmlosen. Kinderszene.

    14, Die Traumdeutung,
    Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1900; 2. Auflage 1909.

    Der „manifeste Inhalt“ eines Traumes, wie wir ihn nach dem
    Erwachen erinnern, erscheint unserem Bewußtsein meist befremdend und
    unverständlich, ja verworren; er bedarf daher der Deutung. Das
    Deutungsverfahren Freuds ist dem psychoanalytischen nachgebildet.

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    556 Karl Abraham.

    Man verfolgt von jedem Element des manifesten Trauminhaltes aus die
    Assoziationsfiden, indem man unter Ausschaltung bewuBter Ziel-
    vorstellungen oder kritischer Einwände Einfälle produzieren läßt.
    Unbewußte Zielvorstellungen führen so zu den latenten Traum-
    gedanken. Die Deutung geht den umgekehrten Weg wie die Traum-
    arbeit, welche aus den Traumgedanken durch Entstellung den
    manifesten Inhalt hergestellt hatte.

    Die Träume der Kinder bieten die einfachsten Verhältnisse.
    Der infantile Traum stellt einen im Wachen nicht erledigten Wunsch
    als erfüllt dar. Im Kindesalter kann jeder Wunsch zum Traumerreger
    werden. Die Egozentrizitåt des Traumes tritt hier unverhüllt zutage.
    In den Träumen Erwachsener ist ein verdrångter Wunsch der
    Traumerreger oder doch ein solcher, der aus dem UnbewuBten Ver-
    stärkung bezieht. Fast immer ist die Wunscherfüllung durch die Traum-
    entstellung unkenntlich gemacht.

    Der Traum vereinigt Material aus sehr verschiedenen Quellen
    zu einer Einheit. Vorstellungen respektive Wünsche rezenter Natur
    sind als Traumquellen leicht nachweisbar. Das Deutungsverfahren er-
    weist aber, daß die aktuellen Wünsche eine Wiederholung infantiler
    darstellen. In gewissen, den meisten Menschen gemeinsamen Träumen
    („typische Träume‘, z. B. Nacktheitstriume, Träume vom Tode naher
    Angehöriger) ist dieser Sachverhalt eklatant. Die somatischen
    Reize gehen zwar als rezentes Material in den Traum ein, sind aber für
    sich allein als Traumerreger unzulänglich.

    Die Traumgedanken entspringen unbewußter Denktätigkeit im
    Wachen. Die Traumarbeit formt nur aus ihnen den Traum. Sie ist sehr
    verschieden von der wachen Denkarbeit. Ihre Aufgabe ist, eine als
    Zensur zu bezeichnende psychische Instanz zu umgehen. Die Zensur
    steht den unbewußten Regungen feindlich gegenüber. Im Wachen hält
    sie sie vom Eindringen ins Bewußtsein zurück, im Schlaf lågt sie sie nur
    bedingungsweise zu. Die Zensur verlangt in der Regel eine Unterdrückung
    oder Umkehrung der den Traumgedanken zugehörigen Affekte und
    namentlich eine weitgehende Entstellung der Traumgedanken. Zu diesem
    Zwecke nimmt die Traumarbeit mit den Traumgedanken eine aus-
    giebige Verdichtung vor, welche wahrscheinlich die Herstellung
    größerer Intensitäten bezweckt. Infolge der Verdichtung ist jedes Ele-
    ment des manifesten Trauminhaltes überdeterminiert. Die Traum-
    arbeit wirkt zweitens durch Verschiebung der psychischen Intensi-
    täten; auf diesem Wege wird der Traum anders zentriert, seine psychi-

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    Freuds Schriften aus den Jahren 1893—1909. 557

    schen Werte erfahren eine Umwertung. Drittens muB die Traumarbeit
    die Gedanken zur Darstellbarkeit umwandeln. Der Traum gleicht
    einer dramatischen Szene. Die logischen Relationen sind ihm als solche
    nicht darstellbar. Die Traumarbeit ersetzt daher z. B. eine Ahnlichkeit
    durch eine Identifikation. Sie macht ausgiebigen Gebrauch von einer
    anspielenden, symbolisehen Darstellungsweise. Eine vierte, nicht
    konstante Form der Traumarbeit, die sekundåre Bearbeitung,
    weist auf eine Beteiligung der Zensur an der Traumarbeit hin. Die sekun-
    dire Bearbeitung entstellt nachträglich, was in ungenügender Ent-
    stellung etwa bereits die Zensur passiert hatte. Sie greift z. B. in Gestalt
    kritischer Bemerkungen in den Traum ein; sie dauert auch nach dem
    Erwachen fort, indem sie beim Versuche der Reproduktion des Traumes
    eine nochmalige Verschiebung der Intensitåten vornimmt.

    Das Vergessen der Träume ist nur ein Zeichen des Widerstandes
    des BewnBtseins gegen die Traumgedanken. Die Eindringlinge aus dem
    UnbewuBten fallen der Verdrångung wieder zum Opfer.

    Die Funktion des Traumes ist der Schutz des Schlafes. Die
    unerledigten Tagesreste wiirden den Schlaf storen, wenn nicht eine Um-
    wandlung mit ihnen geschåhe. Der Tagesrest wird ins UnbewuBte ver-
    setzt, der Entstellung durch die Traumarbeit unterworfen und endlich
    durch den ProzeB der Regression in sinnliche (halluzinatorische)
    Wahrnehmung umgesetzt.

    Die Regression vollzieht eine doppelte Aufgabe: die Darstellung
    eines Wunsches als gegenwärtige Situation und die Umsetzung der
    Traumgedanken in Wahrnehmungen. Durch letzteren Vorgang unter-
    scheidet sich der Traum vom Tagtraum.

    Nehmen wir einen aus verschiedenen Systemen zusammengesetzten
    psychischen Apparat an, so befindet sich am nächsten zu dessen moto-
    rischem Ende das Vorbewußte. Um ins Bewußtsein zu dringen,
    muß ein Element des Vorbewußten eine genügende Intensität erlangt
    haben; außerdem muß die Aufmerksamkeit auf es gerichtet sein. Dagegen
    ist das UnbewuBte nicht bewußtseinsfähig. Die Zensur verhindert seine
    Elemente, vorbewußt zu werden. Diese versuchen im Schlafe, im Zu-
    stande der Entstellung gegen das Bewußtsein hin vorzudringen,
    treffen aber auch jetzt auf die Zensur, die im Schlafe zwar herabgesetzt,
    aber nicht aufgehoben ist. Nun entsteht eine rückläufige Bewegung‘
    in der Richtung nach dem sensiblen Ende des psychischen Apparates.
    Die Gedanken werden in sinnliche Wahrnehmungen verwandelt. Im
    Traume wird also derselbe Weg rückwärts durchlaufen („Regression”),

  • S.

    558 Karl Abraham.

    auf welchem sich viele psychische Prozesse in progredienter Richtung
    bewegen.

    Den Grundstock des UnbewuBten bilden die Erinnerungen
    infantiler Befriedigungssituationen (vorzugsweise sexueller
    Art). Das Unbewufte drängt nach Wiederholung jener Situationen.
    Der Traum gibt einen Ersatz für die wirkliche Wiederholung, indem er
    die verdrångten Wünsche als erfüllt darstellt.

    Ein Tagesrest kann nur dann zum Traumerreger werden, wenn er,
    ins Unbewufite versenkt, einen ihm verwandten unbewuDten Wunsch
    weckt. Der eigentliche Traum wunsch ist stets ein infantiler.
    Anderseits kann ein unbewuBter Wunsch nur dann einen Traum bilden,
    wenn er an einen harmlosen, vorbewuBten anknüpfen kann, wenn seine
    Intensität auf dem Wege der „Ubertragung” auf jenen übergeht.

    Das UnbewuBte kennt kein anderes Arbeitsziel als Wunsch-
    erfüllung. Der mit vielen Tráumen verkniipfte Angstaffekt bildet nur
    einen scheinbaren Widerspruch gegen diese Anschauung. Die Angst
    stammt hier wie bei den Neurosen von verdrångter Libido. Die Er-
    füllung gewisser infantiler Wünsche kann infolge der Verdrängung für
    das Bewußtsein nur peinliche Gefühle (neurotische Angst) hervorrufen.

    15. Über den Traum.

    Wiesbaden, J. Е. Bergmann, 1901. (,, Grenzfragen des Nerven-
    und Seelenlebens“, herausgegeben von Lö wenfeld und Kurella.)

    In dieser kleinen, für weitere Kreise bestimmten Schrift werden

    die Grundzüge der „Traumdeutung” in gemeinverståndlicher Form
    behandelt.

    16. Zur Psychopathologie des Alltagslebens. (Über Vergessen, Ver-
    sprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum.)

    Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Band 10, 1901.

    (In Buchform: Berlin, Verlag von S. Karger, 1904; 2. ver-
    mehrte Auflage, 1907.)

    Die Wirkungen der Verdrüngung machen sich beim gesunden
    Menschen nicht nur im Traume, sondern auch im Wachen bemerkbar.
    Gewisse Reminiszenzen stehen uns nicht zur Verfügung, wenn wir sie
    erinnern wollen; andere Male mengt sich ohne unserem Willen verdrångtes
    Material in unser Reden und Handeln. Das tendenzióse Vergessen betrifft

  • S.

    Freuds Schriften aus den Jahren 1893—1909. 559

    besonders Eigennamen und fremdsprachliche Wörter und ist oft mit
    Fehlerinnern verbunden. In den Ersatzwörtern läßt sich der Mecha-
    nismus der Verdichtung nachweisen. — Eine besondere Form der
    Fehlerinnerungen sind die Deckerinnerungen.

    Wenn wir uns versprechen, verlesen, verschreiben, wenn wir
    Gegenstände verlegen, uns vergreifen, überhaupt wenn wir Irrtümer
    begehen, so geschieht die Einmengung unbewußter Motive
    unter dem Deckmantel der Ungeschicklichkeit. In gleicher Weise kommen
    viele scheinbar zufällige Selbstbeschädigungen und Unfälle zustande.
    Eine andere Art unbewußt motivierter Handlungen (Symptom-
    oder Zufallshandlungen) verbirgt sich durch scheinbare Zweck-
    und Belanglosigkeit. Endlich gibt es auch kombinierte Fehl-
    leistungen.

    Keine psychische Leistung ist zufällig. Auch die Ein-
    fälle von Wörtern, Zahlen u. dgl. sind psychisch determiniert. Viele
    Erscheinungen, die im Volksglauben als Wunder gelten oder sonstwie
    dem Aberglauben Nahrung geben, dürfen nicht als zufällig abgetan
    werden. Sie sind einer Erklärung durch die Erforschung der unbewußt-
    psychischen Funktionen zugänglich.

    17. Die Freudsche psychoanalytische Methode.
    In: L6wenfeld, Psychische Zwangserscheinungen, 1904.

    Dieses in Lö wenfelds Buch eingeschaltete Kapitel gibt eine kurze
    Übersicht über die Entwicklung der psychoanalytischen Methode, ihre
    Indikationen, Aufgaben und Wirkungsweise. Unter anderem weist
    Freud auf das Deutungsverfahren zur Aufklärung der Träume,
    Symptomhandlungen usw. und sein Eingreifen in die psychische Be-
    handlung hin. Durch Ablösung von der Hypnose ist das Verfahren jetzt
    frei von allem psychischen Zwang; die Einfälle des Patienten ver-
    schaffen dem Arzte den erwünschten Einblick in das Unbewußte.

    18. Über Psychotherapie.
    Wiener medizinische Presse, 1905, Nr. 1.

    Die Psychoanalyse wirkt in einer vom Wirken der Hypnose sehr
    verschiedenen Weise. Letztere sucht durch die Macht der Suggestion
    die Äußerung der pathogenen Vorstellung zu verhindern, verstärkt also
    die Verdrängung. Die Psychoanalyse räumt die pathogene Idee weg,
    indem sie ihrer Entstehung nachforscht.

    Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. 1.

    36

  • S.

    560 Karl Abraham.

    Zu den schon 1898 genannten Bedingungen fiir die Anwendung des
    Verfahrens fügt Freud jetzt noch einige neue. Ein Patient mit ange-
    borenen Charakterdefekten ist kein giinstiges Objekt der Therapie,
    weil er nicht erziehbar ist. — In Fällen, die ein rasches Eingreifen ver-
    langen, tut man gut, zuerst auf anderem Wege vorzugehen, bis der Zustand.
    des Patienten ein systematisches Eingehen ermöglicht.

    Am Schlusse des Aufsatzes — der im übrigen früher Gesagtes
    wiederholt — weist Freud auf die Widerstände des Kranken gegen die
    Behandlung hin. Die Psychoanalyse ist eine Erziehung zur Uberwindung
    innerer Widerstände.

    19. Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten.
    Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1905.

    Die Lustwirkungen des Witzes sind an seine Technik und seine
    Tendenzen gebunden,

    Für den Wortwitz ist das hauptsächliche technische Darstellungs-
    mittel die Verdichtung. Der Gedankenwitz lenkt den Gedanken-
    gang vom Wesentlichen auf Nebensächliches ab („Verschiebung“)
    oder er stellt unerwartete Beziehungen zwischen heterogenen Vor-
    stellungen her („Unifizierung”); er benutzt ferner die verschieden-
    artigen Denkfehler sowie die indirekte Darstellung durch
    Anspielung, Gleichnis usw.

    Dem Ziele nach hat man zwischen dem harmlosen und dem
    tendenziösen Witze zu unterscheiden; die wichtigsten Unterarten des
    letzteren sind der aggressive und der obszöne Witz.

    Die Lust an Witz entspringt aus der Ersparung an psychi-
    schem Aufwande. Durch die Verdichtung z. Br werden psychische
    Elemente wie durch einen KurzschluB in Verbindung gebracht, wobei
    die Ersparnis an Gedankenweg zur Lustquelle wird. Oder wir weichen
    im Witze in einer sonst unerlaubten Weise von den Gesetzen der Logik
    ab; dann ziehen wir wiederum Lustgewinn aus einer Arbeitsersparnis.
    Beim tendenziösen Witze dient die Witzeslust nur als Vorlust, um
    durch Aufhebung von Hemmungen gréBere Lust zu entbinden. Der
    tendenziöse Witz ermöglicht die Befriedigung einer psychischen Tendenz,
    Welche im allgemeinen unterdrückt, verdrängt werden muß, Der zur
    Verdrängung erforderliche psychische Aufwand wird erspart, und mit

    dem Durchbrechen der unterdrückten Tendenz verbindet sich ein Gefühl
    der Erleichterung.

  • S.

    Freuds Schriften aus den Jahren 1893—1909. 561

    Weichen wir im Witze von den Gesetzen der Logik ab, so stellen
    wir dadurch eine in der Kindheit genossene Freiheit wieder her. Der
    VerdringungsprozeB, der etwa mit dem vierten Lebensjahre einsetzt,
    wird durch den Witz momentan aufgehoben. Die Psychogenese des
    Witzes führt auf das Spielen des Kindes mit Worten zurück. Die
    allmählich erwachende Kritik verbietet dieses Spiel; doch hat das ältere
    Kind das Bediirfnis, manchmal die Vernunft auszuschalten. Es freut
    sich am Unsinn; so entsteht der Scherz, die zweite Vorstufe des Witzes.
    Der harmlose Witz, als dritte Stufe, verleiht unter Ausschaltung der
    Kritik einem bestimmten wertvollen Gedanken Ausdruck. Der tenden-
    ziöse Witz endlich, mit seinem komplizierteren Mechanismus, kommt
    großen, mit der Verdrängung kämpfenden Tendenzen zu Hilfe.

    Der Witz ist ein sozialer Vorgang. Die den Witz produzierende
    Person bedarf einer andern, für den Witz empfänglichen Person, der
    sie ihn mitteilt. Sie selbst lacht nicht über den Witz (wahrscheinlich
    wegen der Witzarbeit), macht dagegen bei der andern Person Hem-
    mungen überflüssig und bringt das Verdrängte durch Lachen zur Abfuhr.

    Mit dem Traum hat der Witz wichtige technische Mittel (Ver-
    dichtung, Verschiebung, Darstellung durch das Gegenteil) gemeinsam.
    Ferner entstammt das Material des Witzes wie das des Traumes dem
    Unbewußten. Der Witz ist ein Einfall, kein Produkt bewußter
    Arbeit. Auch dem Witz steht eine — der Traumzensur analoge —
    hemmende Macht entgegen. Zum Unterschied von dem durchaus
    asozialen Traume ist der Witz sozial. Während der Traum der Unlust-
    verhütung dient, tendiert der Witz nach Lustgewinnung. 4

    Unter den Arten des Komischen unterscheidet sich das Naive
    vom Witz dadurch, daß es frei von hemmenden Einflüssen und ohne
    technische Bemühungen produziert wird. Hemmungen beseitigt es
    nur bei der anhörenden Person. Das Komische entsteht durch einen
    Vergleich zwischen unserem eigenen Verhalten und dem des uns komisch
    erscheinenden andern. Ein Zuviel an körperlichem oder ein Zuwenig
    an geistigem Aufwand bei dem andern gibt uns ein lustvolles Uber-
    legenheitsgefühl. Die Differenz zwischen dem „Einfiihlungsaufwand”
    und dem eigenen ist die Quelle der komischen Lust. Die Situations-
    komik entsteht aus dem Vergleiche wechselnder psychischer Besetzungen
    bei einem andern Menschen. Das Komische entspringt nicht — wie der
    Witz — dem UnbewuBten. Der Humor endlich ist eine Abwehr gegen
    Peinliches. Aus der Abfuhr der sonst zur Unlustentbindung gebrauchten

    Energie wird Lust gewonnen.

    36*

  • S.

    562 Karl Abraham.

    Der Witz erspart Hemmungsaufwand, die Komik Vorstellungs-
    aufwand, der Humor Gefühlsaufwand. Alle drei versetzen uns in einen
    Zustand unserer Kindheit zuriick, ,in dem wir das Komische nicht
    kannten, des Witzes nicht fähig waren und den Humor nicht brauchten,
    um uns im Leben glücklich zu fühlen“.

    20. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie.
    Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1905.

    I. Die sexuellen Abirrungen.

    Wenn wir die Person, von welcher die geschlechtliche Anziehung
    ausgeht, als Sexualobjekt und die Handlung, nach welcher die Libido
    drängt, als Sexualziel bezeichnen, so lassen sich die sexuellen Ab-
    irrungen in zwei Gruppen sondern.

    Unter den Abweichungen bezüglich des Sexualobjektes
    bietet die Inversion (Homosexualität) die größte Mannigfaltigkeit
    und daher die schwierigsten Probleme. Eine befriedigende Erklärung der
    Inversion gibt nur die Annahme einer allen Menschen eigenen urspriing-
    lichen Bisexualität. Die normale Entwicklung führt von der Bisexua-
    litåt zur Herrschaft des heterosexuellen Triebes. Die Inversion beruht
    auf einer Störung dieses Entwicklungsganges.

    Die Abweichungen in bezug auf das Sexualziel sind zum
    Teil anatomische Überschreitungen. Der Mensch, welcher seine
    Libido auf ein Objekt übertragen hat, überschätzt dessen körperliche
    und psychische Eigenschaften. Die Sexualiiberschåtzung ist ein
    Charakteristikum der Verliebtheit. Außer der Vereinigung der Genitalien
    werden noch andere Vornahmen zu Sexualzielen erhoben, z. B. der KuB.
    Anderen anatomischen Überschreitungen dagegen stehen Ekelgefühle
    im Wege. Durchbricht die Libido eine solche Schranke, so erblicken
    wir darin eine Perversion. Auch der Fetischismus ‚reiht sich den
    Überschreitungen an.

    Das Beschauen und Betasten des Sexualobjektes gehôrt in das
    Bereich des Normalen, wenn es den eigentlichen Geschlechtsakt vor-
    bereitet. Treten jedoch diese Präliminarien an Stelle des Aktes, so
    liegt eine Abweichung von der Norm in bezug auf das Sexualziel vor.
    Wir lernen hiermit die zweite Gruppe dieser Abweichungen kennen,
    welche durch Fixierung vorläufiger Sexualziele gekennzeichnet
    ist. Zu den Zeichen krankhafter Schaulust gehört es auch, wenn das

  • S.

    Freuds Schriften aus den Jahren 1893—1909. 563

    Interesse sich auf den Anblick der Genitalien oder des Defäkationsaktes
    beschränkt. Mit der Schaulust ist erfahrungsgemäß stets die Exhibitions-
    lust verbunden. Beiden steht beim normalen Menschen die Scham
    hemmend entgegen. Aktive und passive Perversion finden sich auch im
    Sadismus und Masochismus stets eng beieinander. Der Sadismus beruht
    hauptsächlich auf einer Übertreibung der aggressiven Komponente
    des Triebes; die Unterordnung des Masochisten unter sein Sexualobjekt
    erklärt sich aus der exzessiven Überschätzung desselben. Mitleid und
    Schmerz sind die Hemmnisse dieses Paares von Perversionen.

    Der Sexualtrieb der Neurotiker hat viele Berührungs-
    punkte mit den Perversionen. Im Hysterischen besteht ein Widerstreit
    zwischen der abnormen Intensität seiner Libido und den uns bekannten
    Widerständen (Scham, Ekel usw.). Die in diesen Widerstånden zum
    Ausdruck kommende Verdrängung wendet sich besonders gegen die
    normale Sexualbetätigung und drängt so die Libido aus dem normalen
    Strombett in kollaterale Bahnen, d. h. Perversionen hinein. Wir finden
    mit Hilfe der Psychoanalyse bei der Hysterie eine starke homo-
    sexuelle Komponente, das gleiche Gemisch der Perversionen, dieselben
    Gegensatzpaare der Partialtriebe wie bei den manifest Perversen, nur
    alle diese Regungen in verdrängter Form, Die Hysterie ist so das
    Negativ der Perversionen. In den Symptomen kommen mit Hilfe der
    Konversion die verdrängten normalen und perversen Regungen zum
    Ausdruck. Die Symptome sind die Sexualbetåtigung des Neurotischen.
    Der Ausbruch der hysterischen Krankheitserscheinungen erfolgt, wenn
    die reale Sexualforderung an das neurotisch veranlagte Individuum
    herantritt, wenn der Konflikt zwischen Libido und Verdrängung
    akut wird.

    Neben dem Ausgang in die normale heterosexuelle Liebe und
    in Perversion ist der Ausgang in Neurose die dritte Möglichkeit der
    Sexualentwicklung. Der Sexualtrieb des Neurotikers bewahrt durch
    das Erhaltensein der Partialtriebe eine Seite des infantilen Sexual-

    lebens.

    II. Die infantile Sexualität.

    Die infantile Sexualität ist der introspektiven Erforschung schwer
    zugänglich infolge unserer Amnesie für die ersten Kinderjahre. Der
    Psychoanalyse gelingt es aber, diese keineswegs ausgelöschten, sondern
    nur verdrängten Reminiszenzen wieder zu erwecken. Die infantile
    Amnesie ist ein neuer Vergleichspunkt zwischen Kindheit und Neurose;

  • S.

    564 Karl Abraham.

    die hysterische Amnesie, welche ebenfalls der Verdrängung dient, benutzt
    nur das Vorbild der infantilen.

    Die Zeit vor der Pubertät ist eine sexuelle , Latenzzeit" (Flie В)
    insofern, als die Fortpflanzungsfunktion aufgeschoben ist; nicht jedoch
    in dem Sinne, daß sie der sexuellen Regungen ganz entbehre. Ein Teil
    der sexuellen Energien wird in der Latenzperiode von der sexuellen
    Verwendung abgelenkt und sozialen Zielen zugeführt. Dieser Prozeß,
    der als Sublimierung bezeichnet wird, richtet die uns bekannten
    Schranken des Sexualtriebes (Ekel, Scham, Schmerz, Mitleid, moralische
    Gefühle) auf. Ein anderer Teil der sexuellen Energien wird dagegen
    schon jetzt zur Lustgewinnung benutzt. Der Säugling, der beim Saugen
    die ersten Lustgefühle gespürt hat, strebt nach ihrer Wiederholung und
    verschafft sie sich durch das Lutschen. Vom Lutschen führen un-
    merkliche Übergänge zur Säuglingsonanie. Die Erreichung des Sexual-
    zieles ist hier an eine erogene Zone, die Lippen, gebunden. Das Kind
    kennt noch kein Sexualobjekt außer sich selbst, sein Sexualtrieb ist
    autoerotisch. Die erogene Zone kann wechseln, besonders die Genital-
    und Aftergegend gewinnen große Bedeutung. Ersterer werden bei der
    Körperpflege, letzterer beim Defikationsakte immer wiederholte Reize
    zugeführt. Neurotisch veranlagte Kinder zeigen die abnorme Stärke
    ihrer Libido, indem sie zum Zwecke vermehrten Lustgewinnes den Stuhl
    zurückhalten.

    Die masturbatorische Reizung erogener Zonen ersetzt
    einen zentral bedingten, nach der erogenen Zone projizierten Reiz
    durch einen äußeren Reiz, ersetzt die vorhandene Reizempfindung durch
    eine Empfindung der Befriedigung. Die frühe autoerotische Betäti-
    gung fällt der Verdrängung anheim; sie kann aber später erneut zum
    Durchbruche gelangen, was besonders in der zweiten Hälfte der Latenz-
    periode geschieht. Der Reizzustand der Genitalzone führt dann, besonders
    bei neuropathischen Kindern, zu erneuter Masturbation, macht solche
    Kinder aber auch der Verführung durch ältere Kinder oder Erwachsene
    besonders zugänglich. Daher die Häufigkeit sexueller Traumen in der
    zweiten Hälfte der Latenzzeit. Solche Erlebnisse werden nach dem Muster
    der frühesten autoerotischen Sexualbetätigung verdrängt, vermögen aber
    die Symptombildung in einer später ausbrechenden Neurose in weitem
    Umfange zu beeinflussen. Die Verführung von Kindern wird in dieser
    Periode noch dadurch erleichtert, daß die Schranken des Sexualtriebes
    erst im Entstehen sind. Äußere Einflüsse vermögen der Sexualität in
    diesem Alter die Richtung fürs Leben zu erteilen. Die sexuelle Anlage

  • S.

    Freuds Schriften aus den Jahren 1893—1909. 565

    des Kindes begreift eben alle Partialtriebe in sich; sie ist polymorph
    pervers.

    Außer den schon erwähnten stehen der infantilen Sexualität noch
    andere Quellen der Erregung zu Gebote. Die passive mechanische
    Bewegung des Wiegens, des Schaukelns und des Riittelns beim Fahren,
    die aktive Muskelanstrengung beim Spielen oder Ringen wirken in diesem
    Sinne. Jede intellektuelle Arbeitsleistung hat eine psychosexuelle Mit-
    erregung zur Folge. Affektvorgänge, und ganz besonders der Angst-
    affekt greifen auf die Sexualität über. Die Erregbarkeit ist individuell
    variabel; am größten ist sie bei den neurotisch veranlagten Kindern.

    Umgekehrt kann auf den nåmlichen Wegen die sexuelle Erregung
    andere körperliche Funktionen beeinflussen. Wahrscheinlich geht auch
    die Sublimierung sexueller Triebkråfte auf diesen Bahnen vor sich.

    Ш. Die Umgestaltungen der Pubertät.

    Der Trieb, der bisher nur die Erzielung von Lust durch Reizung
    erogener Zonen angestrebt hatte, erfåhrt in der Pubertåt Umwandlungen
    nach allen Richtungen. Die Partialtriebe, soweit sie nicht sublimiert
    werden, ordnen sich dem heterosexuellen Triebe unter, um zur Erreichung
    des nunmehrigen Sexualzieles mitzuwirken. Die erogenen Zonen ordnen
    sich dem Primat der Genitalzone unter. Ihre Funktion besteht von
    jetzt an darin, daB die sie treffenden Reize sexuelle Erregung
    hervorrufen. Die niichste Folge bilden die Bereitschaftsverånde-
    rungen bei beiden Geschlechtern, welche die Vereinigung ermöglichen.
    Mit der Erregung der erogenen Zonen und mit den Bereitschafts-
    veränderungen ist ein gewisser Grad von Lust verbunden, welche als
    Vorlust zur Gewinnung größerer Lust drängt. Die geringere Lust wirkt
    gleichsam als Verlockungsprämie zur Gewinnung größerer Lust. Es ist
    der gleiche Vorlustmechanismus, wie ihn Freud in der Technik des
    Witzes entdeckt hat. Die sexuelle Erregung enthält aber auch eine
    Unlustkomponente, ein Spannungsgefühl, das nach Entspannung
    drängt. Die höchste Lust, welche als Befriedigungslust zugleich das
    Spannungsgefühl löst, wird am Schluß des Geschlechtsaktes mit der
    Entleerung der Geschlechtsprodukte erreicht.

    Für das Zustandekommen der se xuellen Erregung dürften
    im Körper gebildete Stoffe von Bedeutung sein; sie sind uns jedoch
    noch unbekannt. Die Anhäufung der eigentlichen Geschlechtsprodukte
    kommt als Entstehungsursache nicht in Betracht, denn sonst wäre die
    geschlechtliche Erregung beim Kinde, beim Weibe und beim männlichen

    Kastraten unverständlich.

  • S.

    566 Karl Abraham.

    Mit der Pubertät findet die scharfe körperliche und psychische
    Differenzierung von Mann und Weib statt. Vorher war die auto-
    erotische und masturbatorische Sexualbetätigung beiden Geschlechtern
    gemeinsam. Vielleicht darf man richtiger sagen: vor der Pubertät sind
    die Sexualäußerungen des weiblichen Geschlechtes von männlichem
    Charakter, Mit der Pubertät erfolgt beim Weib ein mächtiger Ver-
    drängungsschub, der jenes Stück männlicher Sexualität unter-
    drückt. Einzig die Annahme der Bisexualität vermag uns diesen
    Zustand begreiflich zu machen.

    Beim Weibe ist ursprünglich die Klitoris die leitende erogene Zone;
    sie entspricht ja entwicklungsgeschichtlich dem männlichen Gliede.
    Während der Mann diese Leitzone beibehält, findet beim Weibe auch
    hier in der Pubertät eine Verschiebung statt, indem der Scheiden-
    eingang allmählich die Rolle der Leitzone übernimmt.

    Der Verdrängungsschub der Pubertät und der Wechsel der Leit-
    zone sind die Ursache für die größere Neigung des Weibes zur Neurose.

    Mit den körperlichen Veränderungen der Pubertät geht der
    psychische Prozeß der Objektfindung einher. Er wurde schon in der
    autoerotischen Periode vorbereitet. Durch die Zärtlichkeit der Eltern
    werden beim Kinde erogene Zonen erregt; neurotisch veranlagte Kinder
    sind oft unersättlich für Zärtlichkeiten und zeigen dadurch die abnorme
    Stärke ihrer Libido. Der Geschlechtstrieb wird durch Verzärtelung
    anspruchsvoll, verlangt die beständige Gegenwart der geliebten Person,
    und geht, sobald diese einmal fehlt, leicht in Angst über. Daher rührt
    die Furcht erwachsener Neurotischer vor dem Alleinsein.

    Die durchaus natürliche Übertragung der kindlichen Libido auf
    den andersgeschlechtlichen Teil der Eltern wird durch die Aufrichtung
    der Inzestschranke eingedimmt. Die sexuelle Komponente dieser
    Zuneigung wird verdrängt. Blutsverwandte werden von der Objektwahl
    ausgeschlossen, Die verdrängten inzestuôsen Regungen bleiben normaler-
    weise in den Gebilden der Phantasie (Traum, Sage usw.) erhalten. Bei
    manchen Neurotischen sind sie durchs ganze Leben deutlich nachweisbar
    in Form einer kindlichen Verliebtheit und Unterordnung, während unter
    normalen Verhältnissen eine mehr oder weniger weitgehende Ablösung
    von der elterlichen Autorität stattfindet.

    Die infantile Übertragung auf Vater oder Mutter bleibt vorbildlich
    für die Objektwahl im späteren Leben.

    Die ersten Pubertätsneigungen gehen oft irre, indem sie homo-
    sexuellen Charakter tragen. Doch gelangt die Libido bald in normale

  • S.

    Freuds Schriften aus den Jahren 1893—1909. 567

    Bahnen, teils durch die anziehende Kraft der entgegengesetzten Eigen-
    schaften des andern Geschlechtes, teils unter dem Einflusse der gesell-
    schaftlichen Autorität, teils durch die Erinnerung an die infantile Uber-
    tragung auf den andersgeschlechtlichen Teil der Eltern.

    Der geschilderte komplizierte Entwicklungsgang des Sexual-
    triebes bietet reichlich Gelegenheit zu Abweichungen von der normalen
    Richtung. Als solche haben wir Perversion und Neurose kennen
    gelernt. Perverse und Neurotiker zeigen noch eine wichtige psycho-
    sexuelle Eigentümlichkeit, nämlich eine erhöhte Haftbarkeit oder
    Fixierbarkeit der Eindrücke des Sexuallebens.

    Ein dritter möglicher Ausgang ist derjenige in Sublimierung.
    Der Sublimierungsprozef führt überstarke Erregungen aus einzelnen
    Sexualitätsquellen anderweitiger Verwendung zu. Hier stehen wir an
    einer der Quellen für das künstlerische Schaffen. „Je nachdem
    solche Sublimierung eine vollständige oder unvollständige ist, wird die
    Charakteranalyse hochbegabter, insbesondere künstlerisch veranlagter
    Personen jedes Mengungsverhältnis zwischen Leistungsfähigkeit, Per-
    version und Neurose ergeben." Eine Unterart der Sublimierung ist als
    Reaktionsbildung zu bezeichnen. Sozial schädliche Triebe werden
    nicht nur verdrángt, sondern in entgegengesetzte Tendenzen umgewandelt;
    z. B. werden die feindseligen Tendenzen gegen den gleichgeschlechtlichen
    Teil der Eltern in Gefühle der Ehrfurcht und Pietät übergeführt. Sexuelle
    Energien helfen zu einem wesentlichen Teile den „Charakter“ des
    Menschen aufbauen.

    21. Bruehstüek einer Hysterieanalyse.
    Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Band 18,
    Heft 4 und 5, 1905.

    Die Krankengeschichte demonstriert in ausgezeichneter Weise
    das Eingreifen der Traumdeutung in die Psychoanalyse und damit
    den praktischen Nutzen der ersteren. Sie zeigt ferner die ganzen Wider-
    stände der Hysterischen gegen die Aufklärung ihrer unbewubten
    Regungen. Diese Widerstände äußern sich in der Unfähigkeit, die eigene
    Geschichte richtig zu erzählen; sie treten hier wie auch sonst im Laufe
    der Analyse: als bewufte und unbewufte Unaufrichtigkeit, als Ge-
    dåchtnisliicken und -tåuschungen, als zeitliche Verschiebungen und
    als abschwåchende Äußerungen des Zweifels bei wirklichen Ge-
    ståndnissen hervor. Der Arzt, der das UnbewuBte des Patienten

  • S.

    568 Karl Abraham.

    erforscht, darf nie ein klares Ja erwarten; das beståndige Nein des
    Patienten ist für ihn nur ein Maß des Widerstandes.

    Jedes Symptom wird als vieldeutig erwiesen. Es kann gleichzeitig
    mehreren verdrängten Wunschphantasien Ausdruck geben oder zuerst
    diesen, später einen andern Wunsch vertreten.

    Die Konversion wird auf das „somatische Entgegen-
    kommen“ zurückgeführt. Es ist der psychosexuellen Konstitution der
    Hysterischen in hervorragendem Maße eigen, zum Unterschiede von den
    Zwangsneurotikern. Von diesem Faktor hängen die Krankheits-
    möglichkeiten der Hysterie ab. Zu unterscheiden von den Krankheits-
    möglichkeiten sind die Krankheitsmotive; diese sind sekundärer
    Natur. Hat sich der hysterische Krankheitszustand dem Individuum
    einmal nützlich erwiesen, so findet sich bald eine neue Gelegenheit zu
    seiner Verwendung, ein Motiv zur Wiedererkrankung. Diese kann, wenn
    das somatische Entgegenkommen groß genug ist, zu den alten neue
    Symptome hinzufügen.

    Während die Psychoanalyse die verdrängten Regungen ins Bewußt-
    sein zurückführt, beobachtet man bei dem Patienten ein neues Phänomen
    von pathologischem Charakter: die Übertragung. Der Patient über-
    trägt seine verdrängt gewesenen Wünsche — Liebe wie Haß — auf den
    Arzt, welchem er sich anvertraut. Für den Arzt ist es eine wichtige
    Aufgabe, den Patienten über das Wesen dieses Vorganges aufzuklären,
    die Übertragung ganz wie ein anderes Krankheitssymptom auf ihre
    Quellen zurückzuführen. Die Übertragung findet bei jedem psycho-
    therapeutischen Verfahren statt; die Psychoanalyse unterscheidet sich
    von den übrigen dadurch, daß sie diesen Vorgang dem Patienten bewußt
    macht. Die Übertragung verursacht die schwersten Widerstände gegen
    die Analyse, aber ihre Lösung ist auch ein besonders wichtiger Faktor
    der Behandlung. Erst nach Lösung der Übertragung entfaltet die Analyse
    ihre volle Heilkraft. Erst jetzt versteht der Patient die Zusammenhänge,
    welche der Arzt nachgewiesen hat, im vollen Umfange und wird nun frei
    von der Herrschaft der verdrängten Vorstellungen.

    Freud ist somit zu einer neuen Auffassung vom Wesen der
    Psychoanalyse gelangt. Auch die Technik hat Änderungen erfahren.
    Eine derselben ist noch zu erwähnen. Die Auflösung der Krankheits-
    erscheinungen geschieht nicht mehr symptomweise, sondern der Patient
    erhält in gewissem Sinne die Führung. Was dem Patienten als nächst-
    liegender Gegenstand einfällt, bildet in jeder Sitzung das Thema der
    Analyse.

  • S.

    Freuds Schriften aus den Jahren 1893—1909. 569

    22. Meine Ansichten iiber die Rolle der Sexualitit in der Atiologie der
    Neurosen.

    In Lówenfeld, „Sexualleben und Nervenleiden", 4. Auf-
    lage, 1906.

    Freud weist auf die Wandlungen seiner ätiologischen An-
    schauungen hin. Er betrachtet sexuelle Erlebnisse der Kindheit nicht
    mehr als Ursache der späteren Krankheit. Durch jene Erlebnisse erhält
    nur die Entwicklung der Sexualität eine bestimmte Richtung. Die
    Symptome sind ihm nicht mehr direkte Abkömmlinge der verdrängten
    Erinnerungen an sexuelle Kindheitserlebnisse, sondern auf den Kind-
    heitserinnerungen bauen sich Phantasien auf, die sich direkt in
    Symptome umsetzen. Diese Phantasien sind nahe verwandt mit den
    Träumen sowie mit den Wahnbildungen der Geisteskranken.

    Das akzidentelle Moment verliert in der Ätiologie der Neurosen
    seine Bedeutung zugunsten eines konstitutionellen. Dieses bezeichnet
    Freud als „sexuelle Konstitution“. (Vgl. die „Drei Abhand-
    lungen“.) Dem neurotisch veranlagten Kinde ist eine besondere Neigung
    zur Sexualverdrängung eigen, vermöge deren es auf sexuelle Ein-
    drücke in einer abnormen Weise reagiert. An Stelle des Begriffes der
    „Abwehr“ ist derjenige der „Verdringung” getreten. Nahe Beziehungen
    bestehen zwischen Neurose und Perversion. Die Neurose ist das
    „Negativ“ der Perversionen; sie enthält die perversen Regungen in
    verdrängter Form.

    Sexualität und Infantilismus haben infolge dieser Änderung
    der Betrachtungsweise ihre Bedeutung nicht etwa verloren; die Lehre
    hat vielmehr eine neue und breitere Grundlage erhalten.

    23. Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre aus den Jahren
    1893 bis 1906.
    Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1906.
    Die Sammlung enthält — außer einem Nachruf auf Charcot
    (1893) — die unter Nr. 1, 2, 3, 4, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 17, 18, 22 referierten
    Schriften.

    24. Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse.
    Archiv für Kriminalanthropologie von GroB, Band 26, 1906.

    Besprechung der gemeinsamen Züge in der Tatbestandsdiagnostik
    (mit Hilfe des Assoziationsexperiments) und in der Psychoanalyse. Die

  • S.

    570 Karl Abraham.

    „Komplexmerkmale”, wie sie beim Experiment hervortreten,
    machen sich auch bei der Psychoanalyse bemerkbar.

    25. Zwangshandlungen und Religionsiibung.
    Zeitschrift fiir Religionspsychologie, Band I, Heft 1, 1907.

    Der Zwangsneurotiker führt gewisse anscheinend bedeutungs-
    und sinnlose Handlungen („Zeremoniell”) mit zwangsmiBiger
    Gewissenhaftigkeit aus; daneben sind ihm bestimmte andere Hand-
    lungen verboten. Jede Abweichung vom Zeremoniell verursacht ihm
    Angst. Ganz Ähnliches gilt für die Befolgung des religiösen Zere-
    moniells.

    Das neurotische Zeremoniell hat einen nachweisbaren Sinn. Es
    dient anfänglich als Abwehrmabregel gegen befürchtetes Unheil, sodann
    gegen die von einem unvollkommen unterdriickten Triebe ausgehenden
    Versuchungen. Die Religion verlangt ebenfalls die Unterdriickung von
    Trieben. Die Zwangsneurose ist eine private Religion von krankhaftem
    Charakter, wåhrend man die Religion als eine universelle Zwangsneurose
    bezeichnen könnte. Auch in der Religion kann das Zeremoniell zur
    Hauptsache werden, wie es in der Zwangsneurose durch den Ver-
    schiebungsvorgang regelmäßig geschieht.

    26. Zur sexuellen Aufklärung der Kinder.
    „Soziale Medizin und Hygiene“, Band II, 1907.

    Der populär gehaltene Artikel wendet sich gegen die verbreitete
    Auffassung von der Asexualität des Kindesalters und gegen die Geheim-
    tuerei in sexuellen Dingen.

    27. Der Wahn und die Träume in W. Jensens „Gradiva“.
    Schriften zur angewandten Seelenkunde, herausgegeben
    von Professor Dr. Sigmund Freud, I. Heft. Leipzig und Wien,
    Franz Deuticke, 1908. (Hugo Heller & Cie., 1907.)

    Die aus der Psychoanalyse und Traumdeutung gewonnenen Er-
    fahrungen lassen sich auch auf Wahngebilde und Triume, wie sie
    Dichter bei ihren Helden schildern, zur Anwendung bringen. Freud
    erweist die Bedeutung der Verdringung und des Unbewuften, des
    Konfliktes und Kompromisses zwischen bewuBten und verdrängten
    Wünschen fiir die Entstehung von Wahn und Träumen des Helden der
    Jensenschen Dichtung. Verschiebung, Verdichtung, Doppelsinn,

  • S.

    Freuds Schriften aus den Jahren 1893—1909. 571

    Uberdeterminierung, symbolische Darstellung usw. lassen sich hier
    ganz wie in den Wahn- und Traumbildungen der Wirklichkeit fest-
    stellen.

    28. Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur Bisexualität.
    Zeitschrift fiir Sexualwissenschaft, Jahrgang I, Heft 1, 1908.

    Tagtråume sind uns am besten bei Kindern bekannt. Ähnliche
    Phantasien finden sich bei erwachsenen Neurotikern. Diejenigen Phan-
    tasien, welche dem Individuum bewußt sind, werden streng geheim ge-
    halten. Die übrigen verdrångten sexuellen Phantasien können auf dem
    Wege der Konversion in hysterische Symptome umgewandelt werden.
    Jedes Symptom ist aber mehrfach determiniert; es entstammt ver-
    schiedenen Phantasien. Es ist ein Kompromiß zweier entgegengesetzter
    Triebrichtungen, einer libidinösen und einer Verdrängungsregung.
    Es kann gleichzeitig aber auch der Ausdruck zweier libidinöser
    Phantasien von entgegengesetztem Geschlechtscharakter sein, also
    einer männlichen und einer weiblichen unbewufiten sexuellen
    Phantasie. Bezüglich der Allgemeingültigkeit dieser letzteren Er-
    fahrung drückt Freud sich mit Reserve aus. Er weist zum Schluß
    auf ihre praktische Bedeutung hin; bei der Psychoanalyse dürfe man
    nie die mögliche bisexuelle Bedeutung eines Symptoms aus dem

    Auge verlieren.

    29. Charakter und Analerotik.
    Psychiatrisch - neurologische Wochenschrift, 9. Jahrgang,
    Nr. 52, 1908,

    Gewisse menschliche Charakterzüge verdanken der Umwandlung
    sexueller Partialtriebe ihre Entstehung. Diese Umwandlung erfolgt durch
    Sublimierung oder durch Reaktionsbildung. (Vgl. die „Drei Abhand-
    lungen“.) Es gibt Personen, in deren Kindheit die Afterzone in abnormem
    Grade der Lustgewinnung diente. Bei solchen Personen scheinen sich
    durch Sublimierung der analerotischen Komponente ihres Sexual-
    triebes bestimmte Charaktereigentümlichkeiten zu entwickeln, nämlich
    Sparsamkeit, die sich bis zum Geize steigern kann, Eigensinn, der
    sich zum Trotze steigert und Rachsucht nach sich zieht, und ein ins
    Kleinliche übergehender Zug zum Ordentlichen. Der an dritter
    Stelle genannte Zug ist der am wenigsten konstante des Syndroms. —

  • S.

    572 Karl Abraham.

    Es gilt fiir diese kleine Mitteilung ganz besonders, daB zu ihrem vollen
    Verständnis die Kenntnis der „Drei Abhandlungen” erforderlich ist.

    30. Die „kulturelle“ Sexualmoral und die moderne Nervosität.

    Sexualprobleme. Der Zeitschrift „Mutterschutz” neue Folge,
    4. Jahrgang, 3. Heft, 1908.

    Man sucht die Ursachen fiir die Nervosität unserer Zeit in der
    Regel nur in der Unruhe und Hast des modernen Lebens. Diese Erklärung
    ist jedoch unzulinglich; sie berücksichtigt nicht das sexuelle Moment
    in der Atiologie der Neurosen. Unsere Kultur beruht auf der Unter-
    driickung von Trieben. Die kulturelle Moral verlangt vom Individuum
    eine weitgehende Einschränkung seiner Sexualbetåtigung. Sehr viele
    Individuen suchen fiir die von ihnen geleistete Verdrängung normaler
    und perverser Triebe eine Ersatzbefriedigung in den Symptomen der
    Neurose. Die kulturelle Sexualmoral ist für viele Personen eine Quelle
    der Krankheit. Freud wirft die Frage auf, ob nicht der kulturelle Nutzen
    unserer Moral durch diesen Schaden mehr als aufgewogen werde.

    31. Der Dichter und das Phantasieren.
    Neue Revue, 1. Jahrgang, 2. Märzheft, 1908.

    Die dichterische Tätigkeit bietet Analogien mit anderen Formen
    der Phantasietätigkeit. Im Spiele des Kindes, im Tagtraume und im
    nächtlichen Traume des Erwachsenen, in den krankhaften Phantasien der
    Neurosen und Psychosen, in den Produkten der Massenphantasie (Sagen,
    Märchen) ist stets das Ich der Held. Die Welt wird den Wünschen des Ich
    entsprechend umgeformt. Auch in der Dichtung ist das Ich des Dichters
    der Mittelpunkt; auch hier findet eine Wunscherfüllung statt. Ein
    aktueller Anlaß ruft beim Dichter infantile Reminiszenzen wach; die
    an diese anknüpfenden Wünsche werden in der Dichtung realisiert —
    ganz wie im Traume. — Das Zustandekommen der Effekte der Dichtung
    bedarf noch der Aufklärung. Freud nimmt hier wie in der Psychologie
    des Witzes einen Vorlustmechanismus an. Der Endeffekt eines
    Dichtwerkes ist die Befreiung des Lesers von inneren Spannungen.

    32. Über infantile Sexualtheorien.
    ,Sexualprobleme", 4. Jahrgang, 1908.

    Da die Kinder über Zeugung, Geburt usw. nicht wie über andere
    Vorgänge von ihrer Umgebung Aufklärung erhalten, so bilden sie sich

  • S.

    Freuds Schriften aus den Jahren 1893—1909. 573

    eigene, verkehrte Theorien. Diese ähneln einander bei allen Kindern in
    auffallender Weise. Die Anregung zur Bildung solcher Anschauungen
    geben dem Kinde zum Teil Vorkommnisse, die ihm unerklärlich
    bleiben (z. B. dem bisher einzigen Kinde die Ankunft eines zweiten),
    zum Teil aber auch die Sensationen, welche sich an seinen erogenen
    Zonen abspielen.

    Die typische Theorie des Knaben schreibt auch dem weiblichen
    Geschlecht einen Penis zu. Eine gewöhnliche Theorie ist ferner, daß das
    Kind aus der Darmöffnung der Mutter (statt aus der noch unbekannten
    Vagina) wie ein Exkrement entleert wird. (Kloakentheorie.) Kinder,
    die den Verkehr ihrer Eltern beobachten konnten, fassen ihn als einen
    gewalttätigen Akt des Vaters gegen die Mutter auf. (Sadistische Theorie.)

    Diese infantilen Anschauungen verfallen der Verdrängung. Sie
    kehren gelegentlich in den Träumen des späteren Lebens wieder. Thr
    psychopathologisches Interesse beruht darauf, daß sie auf neurotische
    Symptome oft einen determinierenden Einfluß ausüben.

    33. Allgemeines über den hysterischen Anfall.

    Zeitschrift fiir Psychotherapie und medizinische Psycho-
    logie, 1. Jahrgang, 1909.

    Der hysterische Anfall dient der motorischen Abfuhr verdrångter
    Libido. Er bildet den Ersatz einer in der Kindheit geübten autoerotischen
    Befriedigung und stellt ein Äquivalent des Koitus dar. Die einzelnen Er-
    scheinungen und Phasen des Anfalles sind pantomimisch dargestellte
    Phantasien. Das eigentliche Wesen des Anfalles ist durch einen der
    Traumentstellung analogen Vorgang unkenntlich gemacht. Auch im
    hysterischen Anfalle 1886 sich die Verdichtung verschiedener Wunsch-
    phantasien nachweisen, ebenso die mehrfache Identifikation, die Um-
    kehrung in der Zeitfolge und endlich — der im Traume häufigen Dar-
    stellung durch das Gegenteil entsprechend — die antagonistische Ver-
    kehrung der Innervation. Die ,,Absence“ im hysterischen Anfall ent-
    spricht dem BewuBtseinsentgang, wie er auf der 6 jedes starken
    sexuellen Erregungsvorganges bemerkbar ist.

    34. Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. Zweite Folge.
    Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1909.
    Die „zweite Folge“ enthält die unter Nr. 21, 24, 25, 26, 28, 29, 30,
    31, 32, 33 referierten Schriften.

  • S.

    574 Karl Abraham.

    35. Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben.
    Dieses Jahrbuch, I. Band, 1. Hälfte.

    Die Annahmen vom Wesen der kindlichen Sexualität, zu denen
    Freud auf Grund seiner Psychoanalysen Erwachsener gelangt ist,
    finden durch die Analyse, welche bei einem fiinfjåhrigen Knaben
    vorgenommen wurde, ihre Beståtigung. Speziell der innige Zusammen-
    hang zwischen den infantilen sexuellen Wiinschen und den neurotischen
    Symptomen tritt aufs deutlichste zutage.