Bericht über die II. private psychoanalytische Vereinigung in Nürnberg am 30. und 31. März 1910 1910-766/1910.2
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    desselben bis zur Verkehrung in sein Gegenteil, welche Verwandlungsformen im
    sozialen Leben keine künstlerischen Schafften sowie in der Neurose grosse Bedeutung
    zukommen. Schliesslich wird noch auf die Angst als eine Chance des gegen die eigene
    Person gerichteten Aggressionstriebes hervorgehoben; ihre verschiedenen Formen er-
    klären sich daraus, dass der der Angst zugrunde liegende Aggressionstrieb sich ver-
    schiedener Systeme bemächtigen könne. (Ausführliche Publikation in: Fortschritte
    der Medizin. 10. Juli 1909).
    9. S. Ferenczi (Budapest): Psychoanalyse und Pädagogik.
    Referent hob aus den bei der Psychoanalyse gewonnenen Erfahrungen hervor,
    dass in der Pathogenese der Neurosen und Psychosen krankenmachende Erziehungs-
    einflüsse die grösste Rolle spielen. Aber auch den später gesund Bleibenden wird
    durch das unzweckmässige Verhalten der Eltern und Lehrer viel überflüssiges Leiden
    aufgebürdet. Die erzieherischen Einflüsse müssen sich in der Kindheit allein herr-
    schendes Lustprinzip allmählich unter das Herrschaft des Ernstes stellen; statt
    dessen schaffen sie durch hochgespannte Verdrängungen die Quellen späteren sozialen
    Unglücks (Todesfurcht, Hypochondrie, Aberglaube etc.).
    Zur Verhütung all’ dieses Leidens müsste zunächst die Kindheitamnesie der
    Eltern und Lehrer selbst korrigiert werden. Dann wären die rationellen Erziehungs-
    massregeln besonders für die allerersten Lebensjahre festzustellen, da in den ersten
    5 Jahren der menschliche Charakter fürs ganze Leben entscheidend (auch psychisch)
    beeinflusst und bestimmt werde. Die bisher vernachlässigte Kindheitserotik wäre
    genau zu übervachten und zweckmässig zu regeln. Ferner müssten die Prinzipien
    einer der kindlichen Intelligenz angemessenen sukzessiven sexuellen Aufklärung
    festgelegt werden. Damit wäre ein gutes Stück von der erdrückenden Autorität
    der Eltern aufgegeben, andererseits aber nicht in den ebenso schädigenden Gegen-
    satz übertriebener Verzärtelung zu verfallen. Endlich sei der Neigung des Kind
    einer Trieblens zur Sublimierung natürlich stets Vorschub zu leisten, aber doch
    im Auge zu behalten, dass nicht alles sublimiert werden dürfe.


    Bericht über die II. private Psychoanalytische Ver-
    einigung in Nürnberg am 30. und 31. März 1910.

    Referate von Otto Rank (Wien).

    1. Prof. Dr. S. Freud: Die zukünftigen Chancen der psychoana-
    lytischen Therapie. (Vollständig in Heft II erschienen.)
    2. Dr. K. Abraham (Berlin): Psychoanalyse eines Falles von
    Schau- und Koprophilie-Fetischismus.
    Der Fetischist begnügt sich mit der Betätigung des Schautriebes, der je-
    doch in eigentümlicher Weise spezialisiert ist auf eine bestimmte Körpergegend,
    vergrößern vom nackten Körper auf dessen Bekleidung und idealisiert. Diese
    Umwandlung kommt durch einen eigentartigen Verdrängungsmechanismus zu-
    zustande, von dem besonders die sadistischste Komponente des Schautriebes, die
    Schaulust und die Koprophilie Riechlust betroffen werden. (Eine ausführliche
    Mitteilung folgt im „Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische For-
    schungen“.)
    3. Dr. Marcinowsky (Haus Sielbeck in Holstein): Sejunktive Prozesse
    als Grundlage der Psychoneurosen.
    Ohne die Tatsache des Bestehens ausgesprochen infantiler Sexualität bei den
    Psychoneurosen in Zweifel zu ziehen, kann Referent im sexuellen Trauma weder
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    den krankmachenden Faktor noch selbst immer das krankheitsauslösende Moment
    sehen. Die Sexualität ist vielmehr nur das von der Neurose ergriffene Gebiet,
    weil sie den natürlichsten Tummelplatz für jene angeborene Neigung zu Empfindungs-
    konflikten und Zwiespältigkeiten (Sejunktionen) abgibt, in denen das eigentliche
    Wesen der Neurose erblickt werden muss.
    4. Dr. A. Stegmann (Dresden): Psychoanalyse und andere Behand-
    lungsmethoden in der nervenärztlichen Praxis.
    Vortragender bespricht die Hindernisse, die sich oft genug der psychoanaly-
    tischen Behandlung durch ungenügende Schulung des Arztes, aber auch durch falsche
    Vorteile der Patienten und durch mangelndes Vertrauen der Angehörigen entgegen-
    stellen. Er betont für viele Fälle die Notwendigkeit unterstützender Kurmittel
    neben der eigentlichen Psychotherapie und glaubt auch die Hypnose therapeutisch
    höher einschätzen zu sollen, als Freud es tut.
    5. Dr. J. Honegger (Zürich): Über paranoide Wahnbildung.
    Die psychoanalytische Betrachtung des Wahnsystems eines paranoiden Demenz
    ergibt die Entstehung desselben durch eineinzige Präzisierung der eigenen Komplexe
    auf die nächste Umgebung und auf das ganze Weltall, wobei sich eine ganze Reihe
    von Neuschöpfungen uralter mythologischer und philosophischer Vorstellungen nach-
    weisen lassen. Das entscheidende Wiederauftreten derselben spielt sich als eine
    Regression dar, die bis auf die Kindheit der ganzen Rasse zurückgeht. Ursache
    dieser Regression ist die Introversion der Libido. (Eine ausführliche Darstellung des
    Falles wird demnächst im „Jahrbuch“ erscheinen).
    6. Dr. R. Löwenfeld (München): Über Hypnotherapie.
    Ungeachtet mancher Schwierigkeiten, welche eine richtige Beurteilung der
    Leistungen der Hypnotherapie bei den Neurosen erschweren, glaubt Referent auf
    Grund seiner 24jährigen an einem reichen Material gesammelten Erfahrung be-
    haupten zu können, dass dieselbe uns doch nicht berechtigt, die Hypnotherapie neben
    der aufsteigenden Entwicklung der Psychoanalyse gänzlich zu vernachlässigen.
    Eine Kombination beider Methoden werde sich für die Zukunft notwendig erweisen.
    7. Dr. C. G. Jung (Zürich): Bericht über Amerika.
    Vortragender sieht in der psychologischen Eigenart des Amerikaners Züge,
    die auf organische Sexualverdrängungen hinden. Die Gründe dafür sind vornehm-
    lich im Zusammenleben mit dem Neger zu suchen, das suggestiv auf die mühsam
    gebändigten Instinkte der weissen Rasse wirkt. Daher sind stark entwickelte Ab-
    wehrmassregeln nötig, die in den Besonderheiten des Amerikanertums zutage treten.
    8. Dr. Alf. Adler (Wien): Über psychischen Hermaphroditismus.
    Vortragender sieht das Kernproblem der Neurose in der infantilen Unsicher-
    heit der zukünftigen Geschlechtsrolle und schildert eingehend die Erscheinungen
    des psychischen Hermaphroditismus. Dieselben gehen meist von körperlichen Min-
    derwertigkeitserscheinungen aus, welche Anlass zu einem subjektiven Gefühl der
    Minderheit geben, wodurch sich die Kinder unmöglich in der infantilen Wertung
    geschlechtsreif mit weiblich vorkommen. Diese Wertung führt bei Verstärkung
    durch zwangsweise erfolgende Überkompensation zu einem männlichen Protest,
    aus dem jede Form inneren Zwanges bei Normalen wie Neurotikern abzuleiten ist.
    Die Neurose setzt ein durch das Scheitern des männlichen Protestes auf einer Haupt-
    linie. (Ausführliche Publikation in „Fortschritte der Medizin“ 1910, Nr. 16.)
    9. Dr. R. Mader (Bad Kreuzlingen): Zur Psychologie der Paraneiden.
    Referent beschränkt sich auf die Aufzeigung des Zusammenhanges der Wahn-
    ideen in einem Falle von paranoider Demenz mit dem Elternkomplex. Der
    Grössenwahn enthält zunächst eine genealogische Pat., dann seine Schilderung

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    als Held; er entsteht durch Introversion der Libido, wodurch es zu einer Regression
    kommt, die das Infanttile des Wahns erklärt. Der Verfolgungswahn lässt sich sich
    auf den Vater zurückführen, das physikalische Verfolgungssystem ist homosexuellen
    Ursprungs.
    Neben dem Freudschen Mechanismus der Verfolgung durch Projektion des
    eigenen negativistischen Wunsches wird eine andere Form skizziert, wo es die An-
    lehnung an animistische Vorstellungen, das Hineinleben und Erlebtwerden eines Objektes
    besagt, unterstützt wird. (Ausführliche Mitteilung im „Jahrbuch“ II. Bd., 1. Hälfte.)
    10. Dr. Wilh. Stekel (Wien): Vorschläge zur Symbolforschung im
    Gebiete der Symbolik und der typischen Träume.
    Referent belegt die Notwendigkeit einer genauen Kenntnis der Symbolik an
    zahlreichen Traumbeispielen, die auf die Symbolik des Tarnen, der Erde (kosmische
    Symbolik), des Fusses und des Gehens, der Eisenbahn etc. neues Licht werfen. Dabei
    wird zum ersten Mal das Prinzip des symbolischen Gleichungen des Neuro-
    tikers erwähnt und einige Beispiele davon gegeben, aus denen zu ersehen ist, dass
    für den Neurotiker oft die verschiedensten Begriffe adäquat getauscht werden.
    Beiträge zur Sammelforschung auf dem Gebiete der Traum- und Neurosen-
    symbolik werden zur Einsendung an das dreigliedrige internationale Komitee erbeten:
    Dr. Wilhelm Stekel, Wien I, Gonzagagasse 21,
    Dr. Karl Abraham, Berlin W, Rankestrasse 24,
    Dr. Alphonso Maeder, Konstanz, Bellevue.
    11. Dr. S. Ferenczi (Budapest): Referat über die Notwendigkeit
    einer engeren Zusammenfassung der Anhänger der Freudschen
    Lehre und Vorschläge zur Gründung einer ständigen internatio-
    nalen Organisation.
    Auf Grund eines summarischen Überblicks über den bisherigen Entwicklungs-
    gang der Psychoanalyse hält Referent die Zeit zur Gründung einer „Internationalen
    psychoanalytischen Vereinigung“ für gekommen und unterbreitet dem Kongress einen
    diesbezüglichen Vorschlag sowie den Entwurf zu einem Statut.
    In der anschliessenden Diskussion wird der Vorschlag von der Mehrheit mit
    Prinzipien gebilligt, den Statutenentwurf mit einzelnen Modifikationen akzeptiert und
    die „Internationale psychoanalytische Vereinigung“ konstituiert. Zum Präsidenten
    wird Doz. Dr. C. G. Jung (Zürich-Küsnacht) gewählt, der als Sekretär Dr. Franz
    Riklin (Zürich) nominiert.


    Sitzungsberichte der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung.

    1. Vortragsabend, am 5. Oktober 1910:

    Zur Psychologie des einzelnen und des Lieblingskindes.
    Referent Dr. J. Sadger hob eingangs hervor, dass der Titel seines heutigen
    Themas zu enge gefasst sei, da die Psychologie des Lieblingskindes bei der Psycho-
    logie der betreffenden Eltern beginne. Jene Kinder seien nämlich buchstäblich die
    Geliebten ihrer Eltern, zumal des andersgeschlechtlichen Teils (aber auch des gleich-
    geschlechtlichen, mitunter sogar beider), wobei die Knaben besonders exponiert er-
    scheinen.
    Ref. bespricht dann den individuellen Einfluss, den jeweils Vater oder Mutter
    auf ihr Lieblingskind ausüben und geht dabei ausführlich auf das bei weitem inten-
    sivere und folgenreichere Verhältnis zwischen Mutter und Sohn ein. Der Kindes-
     

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