Varia [Dezember 1910] /1910
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    Zum Thema des „einzigen Kindes“, dürfte ein reizendes Gedicht von Eduard
    Mörike weiteres Interesse verdienen,

    Selbstgestündnis.

    Ich bin meiner Mutter einzig Kind,
    Und weil die andern ausblieben sind,
    Was weiss ich wieviel, die sechs oder sieben,
    Ist eben alles an mir hängen blieben;
    Ich hab’ müssen die Liebe, die Treue, die Güte,
    Für ein ganz halb’ Dutzend allein aufessen,
    Ich wills mein Lebtag nicht vergessen.
    Es hätte mir aber noch wohl mögen frommen,
    Hått' ich nur auch Schlüg' für sechse bekommen.

    Der Begründer der Homöopathie, über. Ursachen der Neurose. Was an
    der psychoanalytischen Behandlung. als ganz besonders wertvoll zu empfinden ist,
    liegt an dem menschlichen Verhalten von Patienten und Arzt. Die Psychoanalyse
    hat uns gezwungen, den Neurotiker nieht mehr als unangenehmen, widersetzlichen
    Menschen, als Narren zu behandeln, sondern vóllige Gleichberechtigung herzustellen
    und uns der Autorität zu entschlagen. Oft zum ersten Male in seinem Leben hat
    der Patient das Gefühl, hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein. Seine Mitarbeit
    wird unentbehrlich. Er leistet káum weniger als der Arzt, der nur die Anleitung gibt.

    Von den homüopathischen Ärzten ging die Behauptung, dass sie das wissen-
    schaftliche Defizit dadurch auszugleichen ver stünden, indem Sie ein freundschaftliches
    Verhältnis zu dem Patienten anzubahnen 'wiissten, kurz, dass sie psychisch
    wirkten. Der folgende Brief Hahnemanns zeigt uns diese Behauptung als gerecht-
    fertigt. Dass aus solchen Beziehungen Einsichten zu schüpfen sind, wie sie den
    anderen Ärzten oft lange geheim blieben, ist leicht zu begreifen.: Verf. spricht mit
    grosser Sicherheit eine Behauptung aus, die wir im wesentlichen bestütigen kónnen:
    Die Gefahr der Askese. : Dass er in der Entsagung das Heil sieht, mag ein Zug der
    Zeit, vielleicht Anschmiegsamkeit und Autorititsglauben verschuldet haben. Aber
    er sieht die Zusammenhänge und hált sie der Patientin vor. Noch mehr, er deutet
    an, dass die Anfånge eines seelischen Leidens bis in die Kindheit
    zurückreichen und dort aus kórperlichem Un wohlsein entsprungen
    sind. Er trainiert auf Unterwerfung, stattet aber diese mit solehen Lobeshymnen
    aus, dass sie fast wie ein Triumph gewertet werden kann. Der Brief ist an Jenny
    von Pappenheim gerichtet, stammt aus dem Jahre 1827 und findet sich in dem Buche:
    ,Unter dem Schatten der Titanen* von Lilly Braun.

    »Die pünktliche Folgsamkeit, mit der Sie meinen Wünschen nachkommen
    und die Offenheit in Darlegung Ihres kórperlichen Gemütszustandes in Ihrem
    Berichte verdienen meinen ganzen Beifall Seyn Sie versichert, dass ich den
    innigsten Theil an Ihrem Wohle nehme, dass ich alles thun werde, Sie herzu-
    stellen. Auch Ihre trüben Ideen sind bloss Folgen Ihres körperlichen Uuwohl-
    seyns, was bei Ihnen schon in zartester Kindheit begonnen haben muss. Mit
    der Gesundheit Ihres Korpers weichen aber jene niederschlagenden Vor-
    stellungen gänzlich.

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    Bis hierher hatte diese melancholische Gemiitsverstimmung doch den
    grossen Vorteil fiir Ihre Sittlichkeit, Sie vor dem Leichtsinn zu bewahren,
    welcher so oft junge Frauenzimmer Ihres Alters von dem edelen Ziele ihres
    Daseyns entfernt und der modigen Frivolität Preis gibt. So hat der Allgiitige
    selbst durch dieses Seelenleiden Ihnen eine Wohltat erwiesen in Sicherstellung
    Ihrer Moralitåt, deren Reinheit mehr als alle Güter der Welt wert ist“,

    C. B.
    In dem Buche von Otto Weininger „Über die letzten Dinge'* findet sieh
    folgende interessante Stelle: ,Jede Krankheit ist Schuld und Strafe; alle Medizin
    muss Seelsorge werden. Es ist irgend etwas Unmoralisches, d. h. Unbewusstes, das
    zur Krankheit führt und jede Krankheit ist geheilt, sobald sie vom Kranken selbst
    innerlich erkannt und verstanden ist.“
    Für die Psychoneurosen kónnen wir diese Ausführungen bedingungslos be-
    stütigen. De WERE.

    Das geringe Verständnis eines alten Arztes für der pavor nocturnus
    Kinder brandmarkt Thomas Mann in „die Buddenbrooks*:

    „Dr. Grabow weiss es und alles, was er tut, ist, dass er uns sagt, was es
    ist, uns einen lateinischen Namen nennt: pavor nocturnus. Er ist ein lieber Mann,
    ein guter Hausfreund, alles, aber ein Licht ist er nicht.

    La Bruyére (1645—1696) war ein grosser Menschenkenuer; man
    höre nur:

    „Eine unempfindliche Frau ist eine solche, die denjenigen noch nicht erblickt
    hat, den zu lieben sie gezwungen ist.“

    Zum Schlusse zwei Sätze von Nietzsche:

    Wenn ein Weib gelehrte Neigungen hat, so ist gewöhnlich etwas an ihrer
    Geschlechtlichkeit nicht in Ordnung.

    Man lügt wohl mit dem Munde, aber mit dem Maule, das man dabei macht,
    sagt man die Wahrheit. Dr. E. H.

    Der „Internationale Orden fiir Ethik und Kultur“ wendet sich mit einem
    Aufruf an alle Lebrer, Erzieherinnen, Våter, Miitter, Schriftsteller, an alle Menschen-
    freunde. ,Neue Lesebiicher fiir die Jugend sollen herausgegeben werden. Kein abschrek-
    kendes, hässliches Laster, nur schöne, edle Tugend! Jede Erzählung muss kurz und inhalt-
    reich sein, edel und fein in der Form und dem jeweiligen Alter entsprechend, z. B.
    für vorschulpflichtige Kinder als Ersatz für die oft bedenklichen Märchen; für
    Unter-, Mittel- und Oberstufe je fir Knaben und Mädchen ohne irgend welche wenn
    auch gut gemeinte Unwahrheiten, wie Storchmårchen u. dgl.; fiir Jiinglinge und
    Jungfrauen je nach friihem oder reiferem Lebensalter. Dem höheren Alter ent-
    sprechend können die Erzählungen etwas linger werden. Auch das Geschlechts-
    leben, dieser beachtenswerte Faktor im Guten und Bösen, ist ent-
    sprechend dem Alter und den Forderungen moderner Erziehungs-
    prinzipien, dic alle Geheimnistuerei und Lüge als höchst schid-
    lich verwerfen, in vorsichtiger und zarter Weise zu bericksich-
    tigen.“

    „Jeder, der sich befähigt fühlt, spende sein Scherflein zum Wohle der Mensch-
    heit und sende es an den Schriftführer des „Internationalen Ordens für Ethik und
    Kultur“, Herrn Alfred Knapp in Zürich, Postfach Hauptpost Nr, 6605, bis spätestens
    1. Februar 1911,“

    Sammelforschung für Traumsymbole. Auf dem zweiten Kongresse der
    Psychoanalytiker wurde die Sammelforschung für Traumsymbolik beschlossen und

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    ein dreigliedriges Komitee mit der Durchführung der Sammlungen betraut. Es handelt
    sich darum, an schönen beweiskräftigen Beispielen bisher unbekannte Traumsymbole
    aufzuklären. Es wird ersucht, das Material an einen der Unterzeichneten einzusenden.
    Die Aualyse möglichst genau. Beispiele ohne Analyse können nicht verwendet
    werden, Die Publikation erfolgt dann periodisch in einem der uns zur Verfügung
    stehenden Organe. Dr. Karl Abraham, Berlin W., Rankestrasse 34; Dr. Alphonse
    Maeder, Kreuzlingen; Dr. Wilhelm Stekel; Wien I, Gonzagagasse 21.

    Kurse für Psychoanalyse, Die Wiener psychoanalytische Vereinigung hat
    beschlossen, Kurse für Anfänger und Vorgeschrittene zur Verbreitung des Verstiind-
    nisses der Psychoanalyse lesen zu lassen. Den ersten Kurs „Die Technik der
    Psychoanalyse“ liest Dr. Sadger (Wien IX., Lichtensteinstrasse 15) vom 15. XII.
    bis 15. I. 1911. Dr. Alfred Adler vom 15. I. bis 31. L: „Einführung in die
    Psychoanalyse. Dr. Wilhelm Stekel vom 1. II. bis 28. IL: „Die Praxis der
    Psychoanalyse“ (mit Krankendemonstrationen und praktischen Übungen).

    Freud's Sammlung kleiner Schriften in Neurosenlehre (1893—1906) sind
    soeben in zweiter unveränderter Auflage erschienen,

    Von Dr. Oskar Pfister, Pfarrer in Zürich, ist als achtes Heft der „Schriften
    zur angewandten Seelenkunde“, eine grössere Arbeit erschienen: Die Frömmigkeit
    des Grafen Ludwig von Zinsendorf. (Ein psychoanalytiseher Beitrag zur
    Kenntnis der religiösen Sublimierungsprozesse und zur Erklärung des Pietismus.
    Leipzig und Wien. Franz Deuticke. 1910.

    Von Dr. Wilhelm Stekel erscheint demnächst im Verlage von J. F. Berg-
    mann ein grosseres Werk iiber den Traum, das der Autor die ,Sprache des
    Traumes“ benannt hat. Es wird eine zusammenfassende Darstellung seiner For-
    schungen auf dem Gebiete der Traumsymbolik enthalten.

    Dozent Dr. N. C. Ossypow (Moskau) und Dr. Feldsmann (Moskau)
    geben eine „Psychotherapeutische Bibliothek" heraus, als deren erstes Heft
    die russische Übersetzung der Freud ’schen Vorlesungen „Über Psychoanalyse“ bereits
    vorliegt. Als 111. Heft dieser Reihe ist die Übersetzung der „Drei Vorlesungen über
    Sexualtheorie“ angekündigt.

    Frend’s Traumdeutung (II. Auflage) ist vergriffen. Eine dritte Auflage ist
    in Vorbereitung,

    Der 28. Deutsche Kongress für innere Medizin findet vom 19. bis 22. April
    1911 in Wiesbaden statt unter dem Präsidium des Herrn Krehl (Heidelberg). Das
    Referatthema, welches am ersten Sitzungstage: Mittwoch, den 19, April 1911 zur
    Verhandlung kommt, ist: Über Wesen und Behandlung der Diathesen.
    Referenten sind die Herren: His (Berlin); Geschichtliches und Diathesen in der inneren
    Medizin. Pfaundler (München): Diathesen in der Kinderheilkunde, Bloch (Basel):
    Diathesen in der Dermatologie.

    Vortragsanmeldungen nimmt der Sekretär des Kongresses, Geheimerat Dr.
    Emil Pfeiffer, Wiesbaden, Parkstrasse 13, eutgegen zur Weitergabe an den
    Vorsitzenden. Vorträge, deren wesentlicher Inhalt bereits veröffentlicht ist, dürfen
    nicht zugelassen werden.

    Die Schriftleitung:

    Dr. Alfred Adler, | Dr. Wilhelm Stekel,
    Wien IT, Praterstrasse 42. Wien I, Gonzagagasse 21.