S.
266 Aus Vereinen und Versammlungen.
dass jemand noch Leben vor sich hat. Deshalb ruft der zeitweilige Mangel
an einem Lebensziel das Gefühl hervor, dass es nun mit dem Leben
aus sel.“„Es gibt Menschen ohne Wirklichkeitssinn, für die das Leben eine
Romanlektiire ist. Diese Menschen können, namentlich wenn ihre Phantasie-
bedürfnisse ungesund sind, sehr gefährlich werden. Infolge der Verwechs-
lung von Vorstellung und Wirklichkeit sind sie imstande, ihren Träumereien,
arglos wie Kinder, die grössten Opfer zu bringen, Wirklich leben sie nur
die paar Male, wo aufschrecken.“»Wer nach äusserster Reinheit strebt, wird erst recht schmutzig; wer
jede Störung vermeiden will, kommt aus den Störungen nicht heraus; wer
der Welt ganz entfliehen will, wird erst recht in sie verstrickt.“Stekel.
Aus Vereinen und Versammlungen.
Ordentliehe Winterversammlung des Vereins
schweizerischer Irrenirzte in Bern.
26. und 27. November 1910.Bericht iiber die Vortrige und Diskussionen psychoanalytisehen Charakters
(von Dr. F. Riklin, Kant. Inspektor für lrrenpflege, Zürich).
Vorsitzender: Direktor Dr. Ris-Rheinau,Vortrag von Prof. Bleuler-Zürich über Ambivalenz,
Es gibt: eine affektive Ambivalenz. Die gleiche "Vorstellung ist von
positiven und negativen Gefühlen betont (der Mann hasst und liebt seine Frau).Eine voluntüre Ambivalenz (Ambitendenz). Man will etwas und zugleich
will man es nicht, oder will zugleich das Gegenteil. Der Ambitendenz auf Anregung
am nächsten liegt der Begriff der negativen Suggestibilitåt.Eine intellektuelle Ambivalenz Man deutet etwas positiv und zu-
gleich negativ: Ich bin der Dr. A.; ich bin nicht der Dr. A. Das Wort ,Lohn* be-
deutet auch Strafe.Die drei Formen lassen sich nicht trennen, gehen in einander über und kom-
binieren sich. Der Patient ist zugleich müchtig und machtlos.Theorie. Die Ambivalenz ist åusserlich begründet: „Jedes Ding hat seine
zwei Seiten*. Der Normale zieht meistens, aber nicht immer, das Fazit aus beiden;
der Schizophrene lässt beide Gefühlsbetonungen nebeneinander bestehen.Affektive Gegensätze sind innerlich näher verwandt als andere Dinge, die
nicht auf die gleiche Wage gelegt werden. — Eine Menge von erwünschten Dingen
entsprechen der Erwartung nicht, namentlich bei Dementia praecox.Die Ambivalenz des Willens macht, dass man überlegen muss; es besteht
eine Analogie mit der Bedeutung der Sehnenreflexe auf dem motorischen Gebiete.
Alles in unserer Physiologie und Psychologie wird durch gegensützliche Kräfte
reguliert, Starken Ausschlügen nach der einen Seite entsprechen starke nach der
andern. (Kinder; Dementia senilis; Negativismus und Befehlsautomatie. Ambi-
valent ist stets die Sexualität; deswegen die mächtigen Verdrüngungserscheinungen.S.
Aus Vereinen und Versammlungen. 267
Auf dem Gebiete der intellektuellen Ambivalenz sehen wir, dass Schwarz dem
Weiss näher verwandt ist als z. B. Hart. In der Sprache kommen zahlreiche intel-
lektuell ambivalente Ausdriicke vor.Es besteht ein Zusammenhang zwischen Ambivalenz und dem Negativismus.
Der Ambivalenz entspricht die Teilung der Person in Mythologie, Träumen,
Diimonismus, Hysterie etc.Die affektiv ambivalenten Ideen sind die nicht zu erledigenden. Deswegen
spielen sie die grösste Rolle in Krankheit, Traum und Mythologie (Antoreferat).Diskussion. C. G. Jung, Küsnacht: Der Begriff der Ambivalenz ist
wahrscheinlich eine wertvolle Bereicherung unseres Begriffschatzes. Im Gleichen
kann das Gegensiitzliche liegen. Altus = hoch und tief. Es gibt eine Schmerzwol-
lust. Es handelt sich also nicht um ein Nacheinander, sondern um ein Ineinander,
ein zugleich gegebenes. Er stösst sich am Satz: „Die Ambivalenz ist das Treibende.“
Sie ist es wahrscheinlich nicht, sondern ist das Formale, das wir überall finden.
Freud hat viele Beispiele aus der Sprachgeschichte erwähnt. Auch moderne Worte
haben Ambivalenz, z. B. ,sacré*, „luge“ (irisch) 一 Vertrag; „bad“ (englisch) = bat
== bass (mittelhochdeutsch) = gut. Durch Sprachwanderung wird die Worthedentung
historisch in den Gegensatz verändert. Der Traum bedient sich sowohl der Åhn-
lichkeit als des Gegensatzes. Unter den Ahnlichkeitsmäglichkeiten ist der Kontrast
die allernächste. Von ihm, Jung, wurde geträumt: Er ist ein kleiner Mann, mit
einem Barte, hat keine Brille, und ist nicht mehr jung. Also lauter Gegenteile.
Wenn wir unsere psycho-analytischen Ansichten belegen sollen, so haben auch wir,
so gut wie etwa die Anatomen, unser unzweideutiges Demonstrationsmaterial und
zwar in den Monumenten der Antike, auf dem Gebiete des Mythologischen. Z.B. ist
der Fruchtbarkeitsgott auch der Zerstörer (Indra). Die Sonne bedeutet Fruchtbarkeit
und Zerstörung. Darum haben wir fiir die grösste Sonnenhitze den Lowen als Tier-
kreiszeichen. Die Ambivalenz zeigt sich in den mythologischen Sukzessionen, Odin
wird zum wilden Jäger, der die einsam auf der Strasse gehenden Mädchen belästigt.
Freja ist zur Teufelin geworden. Aus Venus ist, wie uns die Philologen nachweisen,
im guten Sinne St. Verena geworden (St. Verena als Schutzheilige von Baden im
Aargau; die Badeorte waren, wie wir aus der Geschichte wissen, der Venus geweiht
und dienstbar). St. Verena, die. Venus, gibt aber auch gefihrlichen Bergen den
Namen (Verenelisgártli beim Glärnisch; St. Verenakehle heisst die grosse Lawinen-
kehle am Schaf berg im Sintisgebiet). Devas (Sanskrit) 一 Engel, wird zum Teufel
im Persischen. Die Schlange am Pfahle entspricht der Ambivalenz des Christus-
begriffes.Die Darstellung der Libidio schwankt zwischen den Symbolen des Lówen und
der Schlange, dem Prinzip des Trockenen und Feuchten; beides sind gegensiitzliche
Sexual- resp. Phallussymbole. Jung sah einen Priap in Verona. Er hält lichelnd
einen Korb voll Phalli am Arm und zeigt mit der anderen Hand auf eine Schlange,
welche ihm den erigierten Penis abbeisst.Die Ambivalenz ist schén zu zeigen in der erotischen Scherzsprache, z. B.
im „goldenen Esel“ des Apulejus; ferner in der mystischen Sprache; Mechtildis von
Magdeburg sagt: „Von Christi Liebe bin ich in den Tod verwundet.“ Durch die
Fållung des Stieres (in den mithrischen Mythologien) entsteht die Schöpfung. „Der
Stier ist der Schlange Vater und die Schlange des Stieres Vater.“ Unsere christlich
religiösen Vorstellungen basieren ebenfalls auf diesem Prinzip, Man wird durch
den Tod Christi erlöst zum ewigen Leben. Das Gleiche findet sich in dem im Alter-
tum und für die Verbreitung und die Ideen des Christentums so bedeutenden Mithraskult.Zentralblatt får Psychoanalyse, 156, 18
S.
268 Aus Vereinen und Versammlungen.
Bleuler bestätigt, dass das Treibende nicht die Ambivalenz, sondern die
Affektivität sei. Er erwähnt noch die oft ganz krasse Darstellung der Ambivalenz
in der Mimik der Geisteskranken.Vortrag von Prof. у. Speyr-Bern: Zwei Fülle von eigentümlicher
Affekiverschiebung.1. Fall. Eine Mutter hatte ihr Kind fast von Geburt an misshandelt und
zu Tode gemartert. Sie behauptete, sie hasse es, es sei verhext, es sei ihm etwas
angewünscht worden, oder: man habe ihr etwas angewünscht, habe ihr mit dem
Kinde etwas zufügen wollen. Sie ging zu den Kapuzinern und Quacksalbern, tat
kurzum nach ihrer Meinung alles mögliche, um der Plage loszuwerden, Die Miss-
handlung gab sie zu, belastete sich sogar selbst ohne zwingende Not vor Gericht.
Die Verhexerin sei die Frau eines Gutsbesitzers im Jura. Der Mann wollte zum
Beginn der Ehe jenes Gut kaufen und pachtete es vorläufig, um zu sehen, ob die
glünzenden Angaben des Angebots stimmen. Aber nichts war richtig, er sah sich
vollstándig betrogen; vom definitiven Kauf des Gutes konnte keine Rede sein, und
so gab es eine Menge Streit mit dem Gutsbesitzer. In dieser Zeit war Expl.
schwanger und bei der Geburt auf dem einsamen, abgelegenen Berghof assistierte
die Gutsbesitzersfrau allein als Hebamme. Von da datierte die Verschiebung der
Feindschaft auf das Kind. Die Expl. selbst ist dumm und schien die Annahme
dieser Gelegenheitsursache nicht zu verstehen. Vor einigen Jahren hatte die Frau
laut Arztbericht einen Zustand, den der Arzt als Paranoia transitoria bezeichnete.
Sie wurde vom Gericht als vermindert zurechnungsfihig erklärt.2. Fall Ein ⑧⑧jahriger armer russischer Student der Philosophie kam zur
Konsultation und erzählte, er habe einen kleinen Knaben, den er über alles liebe
aber oft schwer prügeln müsse; er fürchte, er werde ihn noch zu Tode prügeln.
Der nervGse Mann heiratete eine tief unter ihm stehende Frau als Ehrenmann, weil
sie schwanger war. Er hatte schon gewünscht, wenn sie nur sterben könnte. So
wurde auch das Kind zu grosser Last; er versuchte es aber im Gegenteil um so
besser zu behandeln, damit niemand sagen künne, er habe das Kind nicht lieb. Im
Prügeln kommt also der Hass gegen die Frau und diese Ehe zum Ausdruck, denn
durch die unerwünschte, aber aus Pflichtgefibl eingegangene Ehe kam er geistig
und materiell erst recht herunter. Die Assoziationsversuche bestätigten vollständig
diese Annahme. Der Mann ging vorerst ungetróstet nach der Aufklärung weg,
dann aber schrieb er einen Brief, welcher zeigt, dass ibm die Richtigkeit derselben
plötzlich klar wurde und ihn schon dadurch sehr erleichterte. Er hatte nämlich
gehofft gehabt, die Konsultation ende mit dem Rate, er müsse sich vom Kinde
irennen, ein Wunsch, der nicht in Erfüllung ging. Durch die Aussprache konnte er
sich aber in ein richtiges Verhalten gegenüber dem Kinde finden, die Last sei ihm
durch dieselbe ,vom Leibe gerückt*.Diskussion. C. G. Jung- Küsnacht: Der Ausdruck vom Leibe gerückt
in Beziehung auf die Aussprache des quülenden Komplexes ist sehr gut und wichtig
für die analytische Therapie. Ein Militir kommandierte, wenn ihn sein Komplex
übermannen wollte: „Achtung — steht! Sechs Schritte rückwärts — marsch!* und
fühlte sich jeweilen wesentlich erleichtert durch diese Objektivierung der Krankheit.Vortrag von L. Binswanger-Kreuzlingen. Fragment aus der Analyse
einer hysterischen Phobie,
Ref. bringt hier nur eine Phase der Analyse einer Absatzphobie, mit der er
einen Beitrag zur Bedeutung der Symbolik und der infantilen Objektliebe fiir die
Entstehung neurotischer Symptome liefert.S.
Aus Vereinen und Versammlungen. 269
(Autoreferat. Die ganze Arbeit, aus der dieses Fragment stammt, wird im
nächsten Halbband (1910, II) des ,Jahrbuches fiir psychoanalytische und psycho-
pathologische Forschungen, herausgegeben von Bleuler und Freud, redigiert von
C. G. Jung“ erscheinen.)Diskussion. Der Vorsitzende Ris begriisst, dass gerade im Psychiater-
verein diese brennenden, akuten psychoanalytischen Fragen zur Diskussion gelangen,
Er betrachtet, dies als einen besonderen Vorzug des Vereins und
betont, dass die jüngeren Kräfte; welche hier ihre Arbeiten aus
diesen Gebieten bringen, auf das Wohlwollen des Vereins zählen
können.Das Votum von Ris wird kräftig akklamiert.
Vortrag von Riklin - Zürich: Die „Allmacht der Gedanken“ bei der
Zwangsneurose.Ref, erläutert die von Freud in seiner klassischen Arbeit über Zwangs-
neurose „Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose“ (Jahrbuch für psycho-
analytischen und psychopathologischen Forschungen, Bd. 1, 2) geprägten Begriffe
von der „Allmacht der Gedanken“ und den „Gedanken, die regressiv Taten ver-
treten“ an einer Reihe von Beispielen ans dem Bereich der Zwangsneurose, des
Aberglaubens (böser Blick) der religiösen Vorstellungen (Gebete und Zeremonien);
er erklärt die Bedeutung 'des Opfers und Sterbens in unserer Psychologie, die der
Wirklichkeit nicht entsprechende Kausalität des Unbewussten und der Introversion
der Libido, die Wirkung von Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit der Verwirk-
lichung und der Rationalisation auf die Intensität der Phobien. Alle diese Er-
scheinungen rufen nach einer dynamischen Betrachtungsweise der seelischen Vor-
günge, welcher nur die F reud'sche Theorie von der Libido gerecht wird.(Autoreferat. Die Arbeit erscheint ausführlich im „Jahrbuch für psycho-
analytische und psychopathologische Forschungen“ 1911.)Diskussion. C. G. Jung erzählt als kinderpsychologischen Beitrag zur
Bedeutung des Opfers vom „Tantalusklub“, den eine Anzahl Knaben gegründet hatten
und in welchem sie sexuelle Mysterien feierten. Ihr Wappen stellt einen Mann
dar, welcher an der Nase und am Penis mit einem Strick an einem Galgen auf-
gehängt ist. Die Geopferten und die Gequälten waren die Jungen selbst, wie Tan-
talus, dessen Qual darin besteht, dass ihm die Befriedigung seiner brennendsten
Begierden versagt wird. Riklin.Aus der Sitzung der neurologisch-psychiatrischen Sektion der
Warschauer Gesellschaft der Ärzte.Vom 19. März 1910. (Nach einem Bericht der „Neurologic Polonaise“).
Dr. Jaroszyński: Beitrag zur Psychoanalyse der Zwangsvor-
stellungen.Vortragender bespricht zunächst die Freud'schen Mechanismen der Konver-
sion und Transposition, wobei er die Ursache der Verdrängung darin erblickt, dass
der betreffende Vorstellungskomplex „infolge eines Traumas“ zu einem unlust.
betonten und unerträglichen geworden ist.Als das häufigste Beispiel der Transposition führt der Vortragende die Neur-
asthenie der Masturbanten an, wenn dieselben unter dem Einflusse einer
Brochüre oder eines unvorsichtigen Arztes die Onanie einstellen. Nach einer ge-
wissen Dauer solcher „Unterdrückung“ stellen sich zwanghafte, auf den Gesund-18*
S.
270 Aus Vereinen und Versammlungen.
heitszustand des Individuum sich beziehende Ideen ein; die Energie der Verdringung
übergeht auf diejenigen Vorstellungen und Massnahmen, vermittelst welcher die
Verdrängung bewerkstelligt wurde (z. B. Vorstellungen von der gesundheitsschädi-
genden Wirkung der Onanie), und verleiht ihnen zwanghaften Charakter.Vortragender illustriert diese Behauptung an einigen, angeblich psychoanaly-
tisch behandelten Fällen, wobei er hervorhebt, dass zwei von denselben auf Grund
der vorgelegten Briefe und Aufzeichnungen analysiert würden, sodass eine Auto-
suggestion seitens des Patienten oder willkürliche Deutung des Analytikers aus-
geschlossen erscheint.In einem dieser Fälle handelte es sich um einen 17 jährigen jungen Mann
der nach mehr als dreijähriger Dauer der Onanie, dieselbe unter dem Einflusse eines
Paters, — der die Masturbation als eine „grosse Sünde“ brandmarkte, — aufgegeben
hat, und seit der Zeit an Zwangsideen und Zwangsbefürchtungen vor dem Begehen
einer Sünde zu leiden anfing. Unter den vom Vortragenden angeführten Befürch-
tungen des Patienten drängt sich ganz besonders hervor seine Angst, durch einen
Blick auf die Hosen, Schuhe oder den Fuss eines bestimmten Kollegen, ferner durch
seine allzu grosse körperliche Nähe oder das sich von ihm anblasen lassen, — eine
Sünde zu begehen.In einem anderen Fall handelt es sich um einen Kranken, der wegen seiner
Befürchtung an Lungentuberkulose und einem Herzfehler zu leiden, sowie wegen
unkoordinierte Bewegungen beider Hände in die ärztliche Behandlung getreten ist.
Die durchgeführte Psychoanalyse ergab, dass Patient, der seit dem 12, Lebensjahre
onanierte, später Coitus interruptus ausübte, nachher Theologe geworden, mit aller
Macht bemüht war, in sich die Fleischeslust zu unterdrücken. Um nun seine Auf-
merksamkeit von den ihn namentlich zur Nachtzeit verfolgenden sexuellen Visionen
abzulenken, pflegte er den Atem anzuhalten und die Hände krampfhaft zusammen-
zudrücken. Aus diesen beiden, sowie noch aus einem dritten Fall zieht nun der
Vortragende den Schluss, dass 1. tatsächlich manche Zwangsvorstellungen eine
sexuelle Grundlage haben; 2. dass die Vorstellung, deren sich der Kranke zur Ver-
drängung bedient hat, (z. B. die Idee der Sünde bei der Onanie), vermittelst der auf
sie übergangenen sexuellen Erregungssumme — zur Zwangsvorstellung wird. Er
betont zum Schlusse die praktische Bedeutung der psychoanalytischen Behandlung,
der Zwangsneurose, — welche sonst so schwer therapeutisch zu beeinflussen ist,
— hervor,In der Diskussion hebt Bornstein kritisierend hervor, dass Freud überall
sexuelle Ursachen sehe, während Higier zwar Freud grosse Verdienste in der
Neurosenlehre zuspricht, jedoch seinen Schülern Masslosigkeit und Übertreibung vor-
wirft und hierbei als krasses Beispiel Sadgers Arbeit: „Analerotik und Anal-
charakter“ anführt. Jekels.TV.Jahresversammlung der Gesellschaft deutscher Nervenärzte.
Berlin, 6.—8. Oktober 1910.„Uber Pathologie und Therapie der Angstzustánde* sprach zuerst
Oppenheim, der die neuropathische und psychopathische Diathese als erste Ur-
sache des Leidens auffasst. Den Anstoss gebe dann die akute Gemütserschütte-
rung oder gehäufte Emotionen, seltener die Erschöpfung, ausnahmsweise Beschäf-
tigungslosigkeit durch Aufgabe des Berufes. Die sexuelle Ätiologie hat der Vor-
tragende meist vermisst. Die Psychoanalyse im Sinne Freud’s sei eine geistige
Vergewaltigung und eine moderne Foltermethode, die eine grosse Gefahr für den
Kranken bilde, Sanatorien, die diese Methode pflegen, wären zu boykottieren. EsS.
Aus Vereinen und Versammlungen. 271
handle sich bei der Angst nicht um Mangel an Einsicht und Logik, sondern um
pathologische Assoziationen und eine abnorme Erregbarkeit der vasomotorisch-
viszeralen und sekretorischen Nervenvorgänge. Dafür spreche das Vorkommen
organisch bedingter Angst (Angina pectoris), die anderen Symptome der vasomoto-
rischen Diathese und die Bedeutung des sogenannten Abreagierens.
Therapie: Ablenkung, Entfernung aus der Häuslichkeit, antineurasthenische
Allgemeinbehandlung, Brom, Valviana, Opium, Hyoscin, Vasotonin, Digitalis usw.
In der Diskussion schlägt Raimann (Wien) vor, die Fälle von Schädigungen
durch Psychoanalyse zu sammeln. Die Anhänger Freud’s halten seinen Lehre ge-
schadet. Stranzky (Wien) verteidigt das Vorgehen von DuBois und erkennt
auch — bei aller masslosen Übertreibung der Anhänger Freud’s — dessen Lehren
einen Kern von Berechtigung zu. (Nach dem Berichte in der „Monatsschrift für
Psychologie und Neurologie.“ Heft 6. Dezember 1910).
Eine Kritik dieser Ausführungen kann erst erfolgen, bis die Vorträge im
Originale vorliegen. Stekel.
Sitzungsberichte der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung.
12. Vortragsabend, am 21. Dezember 1910.
Dr. J. Sadger: Über sexualsymbolische Verwertung des Kopf-
schmerzes.Redner führt aus, dass alle jene Kopfschmerzformen, die nicht irgendwie
organisch oder toxisch bedingt sind, sich aber durch Hartnäckigkeit und Unkurier-
barkeit auszeichnen, den Verdacht auf sexualsymbolische Besetzung wecken und
von dieser Seite aus psychoanalytisch zu heilen sind, was an einer Reihe von Fällen
erläutert wird.13. Vortragsabend, am 4. Januar 1911:
Dr. Alfred Adler: Einige Probleme der Psychoanalyse.
Der Vortragende spricht zunächst über die Rolle der Sexualität in der
Neurose und kommt zu dem an Hand eines Beispiels illustrierten Ergebnis,
dass alles, was uns der Neurotiker an Libido zeige, nicht echt sei. Die Sexualität
komme in dieser Form in die Neurose dadurch, dass sie frühzeitig geweckt und
durch die Minderwertigkeit gewisser Organe gereizt, vom gesteigerten männlichen
Protest als riesenhaft empfunden wird, damit der Patient sich rechtzeitig sichert
oder sie entwertet.14. Vortragsabend, am 11. Januar 1911.
Frau Dr. Hilferding: Zur Grundlage der Mutterliebe.
Ausgehend von der ziemlich häufigen Erscheinung der mangelnden Mutterliebe,
ja der mitunter direkt feindseligen Haltung der Mutter gegen ihr Kind (Kindesmord,
Kindesmisshandlung) kommt Referentin zu dem Schluss, dass es keine angeborene
Mutterliebe gebe, dass aber doch durch die körperlich-sexuellen Zusammenhänge,
die zwischen Mutter und Kind bestehen (die Kindesbewegungen, Pflege, Stillen) stets
die
Mutterliebe erworben werden kann und also bei den folgenden Kindern doch in ge-
wissem Sinne als angeboren gelten könne. Auf Grund dieser körperlich-sexuellen
Zusammenhänge stelle das Kind in der Zeit nach der Entbindung das natürliche
Sexualobjekt der Mutter dar, und wenn wir beim Kinde einen Ödipuskomplex an-```
S.
272 Varia.
nehmen, so nimmt er seinen Ursprung in der Geschlechtsreizung durch die Mutter
und findet sein Korrelat in entsprechenden Sexualempfindungen der Mutter.15. Vortragsabend am 18. Januar 1911.
Herbert Silberer: Magisches und Anderes.
Die Magie, aus deren engerem Zweige sich unsere exakte Naturwissenschaft
entwickelt hat, ist nicht bloss Erkenntnis verborgener Naturgesetze, sondern eine
Art Dynamisierung psychischer Kräfte und zerfällt, je nachdem deren Wirkungen
innerliche oder äussere sind, in zwei grosse Gruppen. Zum Verständnis der ersten
Gruppe zieht Redner den von ihm in den „Arbeiten Jahrbuch, Bd. I u. II“ ent-
wickelten Gesichtspunkt des funktionalen Phänomens heran, wonach sich nicht nur
Vorstellungsinhalte sondern auch die jeweilige Funktionsweise des Bewusstseins in
ein anschauliches Bild, in ein Symbol umsetzt. Im Verlaufe seiner Ausführungen,
die sich mit der mythologischen Projektion, der Trugmodalität, der Persönlichkeits-
spaltung u. a. beschäftigen, referiert Redner eine Arbeit von Staudenmaier,
Versuch zur Begründung einer experimentellen Magie (Oswalds Annalen der
Naturphilosophie, Bd. IX, 1910) und ein Buch von Camilla Luzerna über das
Märchen von Goethe, wo sich ähnliche Gesichtspunkte angedeutet finden.
Rank.
Varia.
Zur Psychologie der Askese und zum Verständnis mancher komplizierter
Seelenvorgänge bei Lenau, dürfte das folgende Gedicht von Interesse sein:Die Asketen.
O spottet nicht der traurigen Asketen,
Dass sie den Leib mit scharfen Leinen plagen,
Die süssen Erdenfreuden sich versagen,
Die flüchtigen, nur allzu schnell verwelten!
Selbst solchen, die das Futter gierig mähten,
Satt den verlornen Paradieses Klagen,
Hat eine Scham von Herzen stets geschlagen,
Die, abgewandt, die Weide nur verschmähten.
Ein schüchternes Gefühl: „wir sind gefallen!“
Hält sie vom lauten Freudenmarkt zurück,
Heisst sie den Pfad einsamer Dornen wallen,
Es widmet ihr Ernst, wenn sie vorüberstreifen
An einem unverblümten Erdenblick:
Die Scham verbietet, keck danach zu greifen.Dr. W. St.
Welch hohe Wertung und welch tiefes Verständnis Hebbel den
Träumen entgegenbrachte, zeigen folgende Stellen seines Tagebuches:
„Wenn sich ein Mensch entschliessen könnte, alle seine Träume, ohne Unter-
schied, ohne Rücksicht, mit Treue und Umständlichkeit und unter Hinzufügung eines```
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