Aus Vereinen und Versammlungen [September 1911] 1911-774/1911
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    Aus Vereinen und Versammlungen.

    Verhandlungen der Internationalen Gesellschaft fiir medi-
    zinische Psychologie und Psychotherapie
    am 7, und 8. August 1910 in Brüssel.

    Freud ist Problem geworden. Wie sich die Arbeit des einzelnen mit ihm
    auseinandersetzen muss und an ihm nicht mehr vorbeigehen kann, so ist es auch
    ganz natürlich, dass die medizinischen Kongresse sich in steigendem Masse der
    Auseinandersetzung über die von Freud aufgeworfenen Fragestellungen und
    Forschungsergebnisse zuwenden.

    So beschäftigten sich in Brüssel über ein Viertel der Vorträge mit psycho-
    analytischen Themen, die bei den Kongressteilnehmern auf ebenso lebhaftes Inter-
    esse wie erbitterte Gegnerschaft stiessen. Dies kann um so weniger wundernehmen,
    als die Probleme der Psychanalyse fiir den ihnen Fernstehenden sehr vieles
    Ungewohnte enthalten und im allgemeinen noch viel zu wenig bekannt sind, als
    sie unerbittlich an persönlichen, gesellschaftlichen, ethischen etc. Vorurteilen rütteln
    und nicht nur gegen die mannigfaltigen heiss verfochtenen Schulmeinungen ver-
    stossen, sondern auch nicht wenig gegen die empfindlichen Gefiihle derer, die die-
    selben Gebiete auch, aber schmerzlicherweise mit geringerem Erfolge bearbeitet
    haben. Wie kann man denn auch mit der psychanalytischen Methode zu anderen
    Ergebnissen kommen als mit den anderen früheren Methoden? Also müssen diese
    Ergebnisse falsch sein oder die Methode. So argumentieren ungefähr die Gegner.
    Das wesentliche Kennzeichen der Gegner Freud's ist, dass sie von seinen Arbeiten
    nur wenig kennen und sich nicht der nicht zu unterschätzenden Mühe unterzogen
    haben, seine Methode und ihre Resultate an eigener Arbeit nachzuprüfen, also von
    ganz anderen Betrachtungsweisen her verneinen, was sie dort aufgestellt finden. Die
    persönlichen Widerstände werden in ein intellekluelles Gewand gesteckt, die an
    dem emotionellen Aplomb, mit dem sie auftreten, die. persönliche Unterströmung
    verraten, der sie letzten Grundes entstammen.

    Als ersten psychanalytischen Vortrag brachte M. Ch. de Montet-Vevey
    ein grosses Diskussionsreferat: Problemes théoriques et pratiques
    de la psychanalyse, das sich die doppelte Aufgabe stellte, einmal an der
    Terminologie Freud's, dann aber insbesondere an dem Begriffe der Verdrängung,
    an der Deutung und der Sexualätiologie der Psychoneurosen eingehende Kritik
    zu üben.

    Die terminologischen Vorschläge gipfeln in der Übersetzung der Begriffe
    Freud’s in die der Assoziationspsychologie, z. B. Komplexbildung in patho-
    logischem Sinne = fehlerhafte Assoziation; Konflikt im ethischen Sinne = Spezial-
    fall der Affektivität, der sich im wesentlichen als assoziativer Widerstand entpuppt.
    Die Annahme einer Verdrängung ist überflüssig, zumal sie auf etwas Aktives,
    einen Willensvorgang anspielt; er setzt dafür die Modifikation: Abdrångung
    von der normalen Assoziationsgruppe, indem er der abgedrängten
    Gefühlsbetonung die Wirkung zuschreibt, unmittelbar zur Komplexbildung zu führen,
    nicht weil sie sich sexualiter assoziiert, sondern überhaupt in einer vom Erlebnis
    abweichenden Richtung; denn es ist ihm ein konventioneller Zufall, dass die Natur
    der Entstehung von Konflikten in sexueller oder moralischer Form augenfålliger ist
    als die Entstehung von Konflikten durch nicht ethisch gehemmte Dispositionen.
    Das Bewusstsein von Arzt und Patient sind in der überwiegenden Mehrzahl der

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    Fälle ethisch eingestellt, kein Wunder also, dass der Sexualkonflikt der ‘häufigste
    ist. Es ist Freud zu danken, dass er diesen Gesichtspunkt systematisch venti-
    lierte und entdeckte, was der Sexualtrieb in pathogener Richtung leisten kann. Es
    ist aber ein enormer Irrtum, wenn demzufolge die gesamte Evolution Sexualität
    wird, diese also fiir das gesamte Erleben der zentrale Attraktionspunkt sein soll,
    so dass immer nur ein pathogener Sexualkomplex aus dieser gefiihlsweise wirkenden
    Verschiebung resultieren soll. Vielmehr ist dem von Semon gefassten Begriff
    der gefühlsweisen Irradiation wissenschaftlich der Vorzug zu geben,
    weil sie wenigstens offen lässt, dass die Gefiihlsirradiation auch in anderer
    Richtung als in der Richtung der Sexualdisposition assoziativ assimiliert werden
    kann. Die phylogenetische Auffassung Freud's führt ganz arbitrire Werte ein,
    indem sie den Sexualtrieb pråvalieren lässt, so dass sie nur als ein Konditionalismus
    anzusehen ist, dessen Bedeutung lediglich in den sozialen Lebensverhiillnissen
    des Individuums liegt. In seiner Beobachtungsweise antizipiert Freud das
    Prinzip, dass der Sexualtrieb pråvaliert, und wo er dies nicht findet, liefert ihm
    das Material keine Beobachtungen.

    Die Deutung ist zu verwerfen, nicht nur, weil für sie gar keine Normen
    aufzustellen sind, sondern auch weil sie auf der für unsere Begriffe falschen
    sexuellen Auffassung der Verdrüngung beruht.

    Die Therapie soll in der möglichst ausgiebigen Identifikation von bisher
    unterbewussten Erlebnissen bestehen und in ihrer fortschreitenden Assimiliation.
    Es soll mit anderen Worten ein Annäherungswert an das strukturell mögliche
    Optimum von Assoziabilitåt erreicht werden. Voraussetzung für das Gelingen der
    Analyse ist, dass die möglichst grosse Assoziationsfåhigkeit des Arztes eine móg-
    lichst gründliche Identifikation mit dem Patienten erlaubt.

    Die Vogt'sche Methode der direkten Exploration, die nach Ló wenfeld,
    Franck u. a. für die Praxis zu nutzenden hypermnestischen Leistungen in der
    Hypnose, die Bilderanalyse Bezzola's und die verschiedenen Modifikationen
    des freien Assoziierens kónnen wertvolle Dienste leisten.

    Gegenüber dem Berichte de Montet's stellle sich Ref. in seinem Vor-
    trage: Über den Wert und die Bedeutung der psychanalyti-
    schen Methode für die Diagnose und Therapie der Neurosen
    entschieden auf den Standpunkt der Freud'schen Anschauungen. Nach einem
    kurzen zusammenfassenden Referate über die Freud'sche Lehre von der Struktur
    und Ätiologie der Psychoneurosen, aufgezeigt an den Beispielskizzen eines hysteri-
    schen Kopfschmerzes, einer Insektenphobie und einer Zwangsneurose, sowie nach
    einer kurzen Darlegung der psychanalytischen Technik, deren Hauptprobleme,Wider-
    stand und Übertragung, besonders hervorgehoben werden, wird das Wesen der
    Psychanalyse und ihrer therapeutischen. Wirkungsweise dargelan und der Haupt-
    einwand der Gegner gegen die Freud'sche Lehre von der Sexualätiologie zurück-
    geführt teils auf die mangelhafte Kenntnis und Technik der Gegner, teils auf ih
    eigenen Sexualwiderstånde, die die Selbstanalyse zur Grundvoraussetzung für jede
    tiefer eindringende psychanalytische Arbeit machen. Freud's Gesamtbedeutung
    findet Ref. nicht nur darin, dass er lichtvolle kausale Zusammenhänge aufdeckte, wo
    vorher ein chaotisches Dunkel herrschte, den Sinn und die Gesetzmüssigkeit nach-
    wies bei Erscheinungen wie den psychoneurotischen, die bisher nur durch Regel,
    Mass- und Sinnlosigkeit imponiert hatten, der der Psycho'ogie und Psychopathologie
    und Pädagogik Neuland erschloss mit einer reichen Fülle von Fragestellungen
    und Arbeitsmäglichkeiten, sondern auch in der Tiefe und Nachhaltigkeit der thera-
    peulischen Erfolge, besonders bei den schweren Fällen von Hysterie, Zwangs-
    neurosen und Phobien, die den Kranken ihre Selbstführung geben.

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    Die Diskussion über beide Vorträge, die sehr lebhaft, stellenweise sehr affekt.
    reich geführt wurde, ist in mehr als einer Beziehung lehrreich. Abgesehen von
    den eingangs erwähnten persönlichen und intellektuellen Widerstiinden, die sich
    besonders gegen die Fren d `sche Terminologie, die Begriffe der Verdrängung
    und des Widerstandes richteten, war es vor allem das böse Karnickel der Sexualität,
    gegen das sich, wie augenscheinlich in allen derartigen Diskussionen, die heftigsten
    Ausfälle ergingen. Vogt z. В. fand das sexuelle verursachende Moment trotz einer
    bis in die jüngste Kindheit ausgedehnten Analyse in einem Falle von Spinnweben-
    furcht nicht. Schlussfolgerung: also existiert es nicht. F o rel unterscheidet zwischen
    sexuellen und unsexuellen Karessen. Menzerath hat seit vier Jahren seine
    såmtlichen Lapsus, mehrere Tausend, aufgezeichnet mit genauer Selbstbeobachtung
    und er bestreitet durchaus, dass es sich hier um sexuelle Dinge handelt, und
    macht sich anheischig, Freud's Beispiele in der Psychopathologie des Alltags-
    lebens mtlich einfach und besser zu erklären ohne jedes sexuelle Moment. Vogt
    wendet sich gegen Ref, dass einem Manne, der, wie er, seit seinem 16. Jahre seine
    Tråume und seit 1894, also beinahe so lange wie Freud und linger als irgend
    ein Freudianer, die zur Diskussion stehenden Fragen an seinen Kranken
    studiert, das Recht abgesprochen wird, über diese Fragen mitzusprechen (wer hat
    das getan? Ref.).

    Jones wendet gegen Vogt ein, dass es verschiedene psychogenetische
    Forschungsmethoden gäbe. Eine sei die Gesamtheit der Freud schen Methoden,
    eine andere die Vogt'sche usw. Das Wort Psychoanalyse sei nur auf die Ge-
    samtheit der Freud'schen Methoden anzuwenden. Worauf Vogt erwidert, er
    werde seine auf Selbstanalyse des Kranken beruhende Methode fortan als Kausal-
    analyse der kausalkonstruierenden Psychoanalyse der Freudianer gegeniiberstellen.
    Wären die vom methodologischen Standpunkt aus ganz ungleichartigen Methoden
    der Freudianer ein geschlossenes Ganzes (Ref. hatte behauptet, die p. a. Methode
    sei ein zusammengehóriges geschlossenes Ganzes, aus dem man nicht beliebige
    Teile herausreissen kann, ohne das Ganze wesentlich zu ändern, während es jedem
    freistehe, dieses Ganze anzunehmen oder zu verwerfen), so wire es noch schlechter
    mit den Freud 'schen Lehren bestellt als er behaupte. Es hätten sich Freudianer
    Kausalkonstruktionen geleistet, welche man einfach als kompletten Unsinn be-
    zeichnen müsste, Dagegen hob Ref. hervor: dass einzelne Schüler Freud's
    in ihrer Polemik iiber die Schnur hauen, mag zugegeben werden, kann aber nicht
    Freud zugerechnet werden. Man vergesse iibrigens nicht, welch massloses und
    häufig unsachliches Urteil aus dem Lager der Gegner kommt. Das lässt vieles
    verstehen und verzeihen, wer aber die Schriften Freud's unbefangen durchgeht,
    muss die erfreulich sich abhebende, massvolle und sachliche Art anerkennen, mit
    der dieser heftigst befehdete Forscher seine Lehren vorträgt und seine Gegner
    behandelt. Dasselbe gilt fir Jung und viele ihrer Mitarbeiter.

    Forel wirft dem Ref. vor, die Versammlung „sur le terrain de Ja poésie
    et de la théologie" zu führen. (Tónt dahinter nicht fast so etwas wie das Wort
    Sekte, das den Psychanalytikern so oft entgegengeschleudert wird? Nun ja, Forel
    hat, so scheint es mir, damit nicht so ganz Unrecht. Wir Psychanalytiker sind
    vielleicht so eine Art Sekte; die Psychanalyse hat ja, sozusagen, einen gewissen
    esoterischen Kern, die Libidolehre, sie hat eine eigene Terminologie und beschåftigt
    sich mit dem Dichter im Menschen, mit dem Tråumer, sie produziert Kranken-
    geschichten in einer im allgemeinen bisher ungewohnten ge gen und inter-
    essanten, fast poetischen Art der Darstellung und alle ihre Anhänger zeigen eine
    freudige und begeisterte Hingebung an die Beschäftigung mit ihren Kranken und
    wissenschaftlichen Problemen. Ref.)

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    Einen interessanten Vortrag hielt E. Jones-Toronto über Thera-
    peutic effect of Suggestion. Analog der Arbeit Ferenczi’s über
    Introjektion und Übertragung legt Jones den Hauptanteil des Heilerfolges durch
    Suggestion und Hypnose nicht so sehr in den Arzt als in den Kranken. Aufgebaut
    auf der Übertragung verdrängier infantiler Liebesbeziehungen zu den Eltern, be-
    sonders dem Vater, auf die Person des Arztes einerseits, andererseits auf der
    Tendenz des Kranken, seine freien reizhungrigen Affekte zu verdiinnen, dadurch,
    dass er sich seine Umgebung einverleibt und durch die Beziehung auf diese sein
    Ich erweitert (introjiziert), wird der Rapport zwischen Arzt und Krankem zu einer
    unbewussten Identifikation beider in der Psyche des Kranken auf dem Boden
    der femininen Komponente des Sexualtriebes und gleichbedeutend mit dem Ge-
    horsam und der Gelehrigkeit des Kindes gegen die Eltern. Wihrend die Wirkungs-
    weise der Suggestion psychologiseh nur darin besteht, an die Stelle der die
    verdrångten sexuellen Affekte ersetzenden neurotischen Symptome nur ein anderes
    Symptom zu setzen, nämlich die abnorme psychosexuelle Abhängigkeit von dem
    »Sympathischen" Arzte, und der Heilerfolg nur aufrecht erhalten werden kann
    durch die Fortsetzung der Ubertragung auf den Arzt und das andauernde Interesse
    des Arztes für den Kranken, führt die Psychanalyse diese Übertragung auf ihre
    ursprüngliche unbewusste inzestuôse Quelle zurück und macht die hier gebundenen
    Triebkråfte frei fiir nicht sexuelle kulturelle Ersatzziele. In der Diskussion be-
    tonte Vogt, ebenso gute Heilerfolge zu haben wie die Herren Psychanalytiker,
    und zwar fast immer ohne eingehende kausale Analyse, und bestritt nicht nur
    den direkten grossen therapeutischen Erfolg der Psychanalyse, sondern meinte
    es auch entschieden zurückweisen zu müssen, dass die Psychanalytiker, die in
    Fällen geschadet haben, wo andere psychotherapeutische Methoden mit Nutzen
    angewendet wurden, ihre Heilerfolge so herausstreichen und vor allem zwei Irr-
    tümer begehen, nämlich die pathogene Bedeutung des Verdrängungsmomentes zu
    überschätzen und die unheilbare konstitutionelle Degeneration zu unterschätzen.

    Von den anderen Vorträgen sei nur kurz hingewiesen ‚auf das Janet’sche
    Diskussionsreferat über die Probleme der Suggestion und
    auf den Bernheim’schen Vortrag über die klinische Differential-
    diagnose der Neurasthenie und der Psychoneurosen, in deren
    Diskussion Ref. den p. a. Standpunkt vertrat, schliesslich auf den Vortrag von
    Ernst Trömmer-Hamburg über Vorgänge beim Einschlafen (hyp-
    nagoge Phänomene), der ein grosses interessantes Material in rein deskriptiver
    Weise bearbeitete und alles, was er in der Analyse der hypnagogen Phänomene,
    Visionen, Träume, Wortkontaminationen nicht auf rezente Eindrücke zurückführen
    konnte, als sinnlos abtat. Kraepelin wurde erwähnt, von Freud, gegen
    dessen Traumbuch Forel energisch protestierte, und Silberer war mit keinem
    Worte die Rede. Jones erzählte einige Beispiele von Kontaminationen im Traum,
    Ref. empfahl das Material des Vortrags einer p. a. Bearbeitung zu unterziehen,
    der allein sich die dahinter steckenden Gesetzmässigkeiten und sinnvollen Zu-
    sammenhänge erschliessen könnten; aber Trömmer „lehnt ja auf Grund aller
    seiner Erfahrungen die spezifisch Freud'schen Ideen ab".

    Was ist nun das Ergebnis des Kongresses für die P. A.? Zunächst scheinbar
    nicht mehr und nicht weniger als dass die Gegner dagegen, die Anhänger dafür
    sind. Man machte Widerstände, offener oder versteckter, persönlich oder in
    intellektuelle Einwände eingewickelt. Im ganzen ungefähr dieselben wie man
    sie allenthalben und immer wieder hören kann. Die Situation war manchmal
    komisch und nicht immer sehr erfreulich für die angegriffenen Anhänger. Ganz
    so wie bei der Analyse der Psychoneurotiker auch, und nicht anders schliesslich

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    als man es bei der Selbstanalyse ebenfalls gefunden hatte. Bei der Diskussion
    kam unter solchen Umständen nichts heraus als die Entbindung zahlreicher, bis-
    weilen etwas gewalttätiger Affekte, und konnte nichts anderes herauskommen,
    wie aus naheliegenden Gründen alle gleichen Gelegenheiten lehren,

    Dies war die äussere Physiognomie des Kongresses. Ganz anders sah es
    im Hintergrunde, ich möchte fast sagen, auf dem Nebenkongresse aus, bei den
    privaten Zusammenkünften. Hier zu zweien oder mehreren beherrschte das grösste
    Interesse fiir die P. A. das Feld, Erfahrungen und Anregungen wurden ausgetauscht,
    eine ruhige sachliche gegenseitige Verständigung hatte sich angebahnt. Und hier
    liegt ‚wohl der Weg jeder Verständigung,

    Man machte natürlich auch Widerstände; aber das war augenscheinlich, die
    Sache hatte doch eingeschlagen, liess den einzelnen und sein Interesse nicht
    mehr los, ganz wie in der Einzelanalyse auch, Unbelehrbare natiirlich ausgeschlossen.

    Einige Worte noch zur Kritik der Vorträge: de Montet’s Vorschläge zur
    Terminologie halte ich für überflüssig, zum mindesten für verfrüht, seine Haltung
    für unentschieden, seine Kritik der Libidolehre, wohl eine der wertvollsten Er-
    rungenschaften der Freud'schen Forschung, und die darauf aufbauende Kritik
    und Ablehnung des Verdrüngungsbegriffes und der Deutung für das Resultat unge-
    nügender Erfahrung. Zur Kritik meines eigenen Vortrages aber muss ich sagen,
    dass auf so engem Raum und so kurze Zeit zusammengedrünste Referate der
    ganzen Freud'schen Lehre Gefahr laufen, dem Uneingeweihten schwer ver-
    ståndlich zu sein und daher ihren Zweck verfehlen, der durch ausführliche
    kasuistische Mitteilungen oder Behandlung von Einzelproblemen wohl besser er-
    reicht wird.

    Und schliesslich werden es überhaupt nicht Kongresse sein, — und dies
    trifft gemäss der Natur des Gegenstandes hier noch mehr zu wie auf anderen
    wissenschaftlichen Gebieten — die die Sache der P. A. fórdern; sondern nur die
    hingebungsvolle persónliche Einzelarbeit und die Selbstanalyse kónnen zur Über.
    zeugung führen und die persónliche Verstündigung unter vier Augen, wo eine solche
    möglich ist. . Dr. Leonhard Seif.

    Psychoanalytische Vereinigung Zürich.
    Sitzung vom 9. Juni 1911.

    Dr. Riklin: Über die Realisationstendenz.

    Unter Realisationstendenz versteht der Vortragende das, manchmal als
    aktiv imponierende, Bestreben von Komplexen, Phantasien usw. an irgend einer
    Stelle Kontakt mit der Wirklichkeit zu gewinnen. Nachdem er seine Auffassung
    durch Beispiele näher beleuchtet hat, grenzt er den Begriff Realisationstendenz
    von denen der Wunscherfúllung und der Rationalisation (Jones) ab. Es werden
    dann die hauptsüchlichsten Formen der Realisation besprochen, worunter die:
    ldentifizierung mit Personen oder anderen Wesen, die Darstellung des Komplexes
    durch etwas Konkretes (z. B. Statue), die Kuppelung des Komplexinhaltes an eine
    indifferente Handlung (Verschiebung, Symbolisierung) besonders hervortreten.

    Sitzungen vom 23. Juni, 7. und 21. Juli 1911.
    Dr. Itten: Bruchstücke aus der Analyse von drei Е еп.
    von Dementia praecox.
    Vortragender kommt nach Anführung und Besprechung einiger Analysen
    Schizophrener zum Resultat, dass in allen besprochenen Füllen die Krankheits-
    dusserungen im Wesentlichen durch einen herrschenden Komplex determiniert sind.

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    Dieser Komplex, welcher sowohl die klinischen. Symptome als auch die analytischen
    Produktionen beherrscht, ist der (meist heterosexuelle) Elterninzestkomplex. Für
    dic frühe Anlage zur Fixierung des Inzestkomplexes spricht das eigentümliche,
    schon etwas introvertierte Verhalten Frihdementer in ihrer Kindheit. Diese Fixie-
    rung, welche als Enlwickelungshemmung aufgefasst werden muss, führt zu einer
    Regression in jene Vorstufen der menschlichen Kulturentwickelung, wo der Inzest
    als entwickelungshemmendes Prinzip noch nicht überwunden war. Diese Vorstufen
    werden von den Kranken merkwürdig oft wieder durchlebt in den uralt anmutenden
    symbolischen Produktionen, welche übrigens bei vielen Kranken cine bemerkens-
    werte Übereinstimmung zeigen. (Autoreferat)

    Dr. Nelken: Die Geschichte eines Inzestes.

    Vortragender bringt eine ausführliche, psychoanalylische Krankengeschichte
    eines Schizophrenen, dessen Wahnbildungen überwiegend Inzestphantasien sind, vor.
    Der Fall ist nicht ohne Interesse in Bezug auf die reichen Phantasien, welche viel
    Material zu den mythologischem Analogien, zum ambivalenten Denken und zur
    psychoanalytischen Betrachtung verschiedener klinischen (paranoiden und kata-
    tonischen) Stadien der Dementia praecox darbieten. (Auloreferat.)

    van Ophuijsen.

    Varia.
    Ein offener Brief.

    Dear Sir,

    Herr Dr. Maeder, in a review of an analysis I published of a
    case of hypomania (see Zentralbl. S. 344), points out that the case
    was really one of Schizophrenia. With this criticism I quite agree,
    especially on going again over my notes of this case. But with this
    reservation, that it was a case of Schizophrenia only in the Bleuler-
    Jung sense, not in the Kraepelinian. Bleuler and Jung have not followed
    Kraepelin's latter tendencies to restrict the dementia praecox group in
    favour of the manic-depressive; I think it probable, and Dr. Jung has
    expressed to me a similar opinion, that Kraepelin would have made
    the diagnosis of manic-depressive insanity with my patient. I might
    say that the patient has remained well ever since the analysis (over
    two years). The interesting question however is, how many other cases
    labelled chronic mania, or hypomania, show the action of complexes
    similar to those present in dementia praccox. I must say that I have
    found evidences of such complexes in all the cases of the kind I have
    examined (to be sure, not a large number). On the other hand, Brill:
    has pointed out (Zentralbl. S. 158) that many cases labelled melancholia,
    of which he relates an interesting example, are really cases of Angst-
    hysterie. Psycho-analytic investigation would therefore seem to to restrict
    to a considerable extent the number of cases of “causeless” affective
    psychoses (manic-depressive insanity), and the question arises whether
    there actually are any such cases that show no psychogenic mechanism.
    I believe that further experiences in this direction would prove of great
    interest, and would suggest that other observers communicate theirs.

    Yours sincerely
    Ernest Jones.