Aus Vereinen und Versammlungen [Dezember 1911] 1911-780/1911
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    Referate und Kritiken. 149

    der Name Wolf bezw. der Vergleich mit einem Wolfe. Der Autor erklärt
    dies damit, dass Goethe, der das Drama zuerst anonym herausgegeben
    hat, dadurch „seinem Geisteskinde ein oder mehrere Erkennungszeichen
    mitgeben wollte.“ Denn Hans und Wolf waren die häufig gebrauchten
    Abkürzungen seiner beiden Vornamen Johann Wolfgang. Der Verfasser
    bemüht sich, eine Anzahl anderer Wortspiele im Drama zu erklären; unter
    anderem findet er, dass die Gattin des Götz nach Goethes eigener Mutter,
    Elisabeth, benannt wurde. — Dieser Versuch einer Deutung von Namen
    und Namensscherzen kann auf psychoanalytischem Gebiete einer kleinen
    Arbeit Dr. Stekel's!) gegenübergestellt werden, in welcher dieser auf
    Beziehungen von Namen, Charakter und Neurose hinweist.
    Gaston Rosenstein.

    Dr. med. S. Meyer-Danzig, „Träume“. [Die Umschau“, herausgeg.
    von Prof. Dr. J. H. Bechhold, Frankfurt a. M., 1911, Nr. 14.]

    Der Verfasser dekretiert: „Der Traum . . verbindet nur Dinge, die
    keinen inneren Zusammenhang haben. Es gibt deswegen keinen in sich
    abgeschlossenen Traum, den man zu deuten unternehmen könnte, sondern
    es gibt nur ein Träumen, ein durch kein Gesetz geregeltes Auseinander-
    reihen von Situationen, die durch die nebensächlichsten Merkmale mit-
    einander in Beziehung kommen. Ein Grundmotiv können wir aus diesen
    unabsehbaren Reihen nicht herausdeuten.“ Folglich, meint der Verfasser,
    mi man die Freud sche Traumdeutung verwerfen. Da es der Autor
    nicht der Mühe wert findet, auf die Argumente und die Beispiele der
    „Traumdeutung“ einzugehen, sondern einfach die alte Auffassung des
    Traumes mit einigen wenigen, die Freud'sche Theorie gar nicht be-
    rührenden Ergänzungen unterschreibt, liegt meiner Meinung nach ein
    Anlass zu einer Polemik gar nicht vor. Im übrigen beruft sich der
    Verfasser auf das „allgemeine Urteil“. Gaston Rosenstein.

    Aus Vereinen und Versammlungen.

    Neumalthusianismus, Mutterschutz und Sexualreform.
    Von Grete Meisl —Hess'!.)

    In zwei aufeinander folgenden Tagungen wurden in der letzten Septemberwoche
    dieses Jahres in Dresden im Rahmen der Hygiene-Ausstellung zwei Kongresse ab-
    gehalten, die sich von Fachkongressen aller Art scharf abheben. Sowohl auf dem
    „Vierten internationalen Kongress für Neumalthusianismus* als auf

    1) Dr. Wilhelm Stekel: ,Die Verpflichtung des Namens*. Zeitschrift für
    Psychotherapie und medizinische Psychologie, herausgegeben von Dr. Albert Moll,
    Verlag von Ferdinand Enke, Stuttgart, 1911.

    1) Die geschiitzte Verfasserin des rühmlichst bekannten Buches ,Die sexu-
    elle Krise* (Verlag Eugen Diederichs—Jena) und des soeben erschienenen psycho-
    logischen Romanes ,Die Intellektuellen* (Osterheld & Comp.— Berlin) war so
    freundlich, die Berichterstattung über zwei Kongresse zu übernehmen, auf dem auch
    für den Psychoanalytiker wichtige Thema eingehend besprochen wurden.

    Der Schriftleiter,

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    150 Aus Vereinen und Versammlungen,

    dem „Ersten internationalen Kongress für Mutterschutz und Sexual
    reform“ handelte es sich um die wesentlichsten Fragen der Gesellschaftsgestaltung.
    Nicht ein Zweig des komplizierten Riesenapparates, Gesellschaft genannt, stand zur
    Diskussion, sondern der Träger aller Kultur, der Mensch selbst, seine Quantität und
    Qualität, seine Ausbreitungsmöglichkeit und die Bedingungen seines Entstehens
    bildeten den Mittelpunkt der Debatten. Und vielleicht gerade, weil das Problem
    das diffizilste, ja, wenn man will, das „heikelste“ unserer Kultur ist, an das sich
    die Öffentlichkeit aus begreiflichen Gründen noch nicht recht herantraut, wurden
    diese beiden Kongresse von ihr mit einer gewissen Scheu möglichst in den Hinter-
    grund gestellt, während, wie wir sehen, alle möglichen Fachkongresse, von dem der
    Bierbrauer angefangen bis zu dem der Nägelputzpoliermittelerzeuger, (wenn es einen
    solchen Stand gäbe) vor breiterem Forum und in fetteren Lettern diskutiert werden.
    Für die nicht allzu grosse, aber immerhin international vertretene Schar derer,
    die über diese wesentlichcten Gesellschaftsprobleme resolut zu denken gewohnt sind,
    brachten aber diese heiden "Tagungen eine Festigung ihrer sozialen Weltanschauung.
    Denn die Lücken, die sich in dem System einer einheitlichen, in ihren Teilen logisch
    aufeinander wirkenden Stellung zum sozialen Ganzen ergeben, können nur dadurch
    ausgefüllt werden, dass scheinbare Widersprüche sich lösen und das dort, wo man
    sich bisher vor Konflikten sah, neue Synthesen sich ergeben.

    Die beiden Kongresse sind insofern scharf auseinander zu halten als ihre
    Hauptrepräsentanten nur in geringer Zahl auf beiden Lagern zu finden waren, Viele
    der Neumalthusianer stehen den Bestrebungen des Mutterschutzes und der Sexual-
    reform fern und umgekehrt. Aber eine ansehnliche Zahl nimmt zu beiden Phänomen
    Stellung. Die Kongresse waren nicht populär im weitesten Sinne, nur eine ge-
    schulte Menge konnte auch den öffentlichen Versammlungen (die bis pufs letzte
    Plätzchen besucht waren) folgen, während in den geschlossenen Tagungen die Wissen-
    den wieder nur für die Wissenden sprachen, für ein gut informiertes Auditorium;
    und nirgends wurde diese hochgespannte Linie unterschritten. Der Neumalthusianis-
    mus fusst, wie bekannt, auf der Malthus’ schen Bevilkerungslehre, wonach die
    Erde die unbegrenzte Vermehrung der Menschen nicht ertragen könne; ihre orga-
    nischen Produkte, die zum Leben und zur Verarbeitung unentbehrlich seien, müssten
    eines Tages, wenn sie weiter schrankenlos ausgebeutet würden, versagen, Daher
    empfahl Malthus Einschrånkung der Zeugung zum Wohle fiir Alle. Der Unter-
    schied zwischen ihm und seiner neueren Schule besteht darin, das Malthus die
    Beschränkung der Zeugung nur durch einen Verzicht auf den Geschlechtsverkehr
    erringen zu können glaubte, während die Neumalthusianer von der Kultur auch in-
    sofern profitieren, dass sie sich auf den Standpunkt stellen, die Zeugung könne sehr
    wohl beschränkt werden, ohne auf die nun einmal unabweislichen Bedürfnisse des
    Geschlechtes verzichten zu müssen, also die Pråventivmethode in den Mittelpunkt
    ihres Systemes stellen. Mit Griibeleien über Kiinstlichkeit im Gegensatz zur Natür-
    lichkeit kommt man in der Tat um dieses Problem nicht herum, und schliesslich
    ist des Menschen Kultur ja nichts anderes als eine Emanation seiner Natur; ist
    doch auch der Ameisenhaufen, so künstlich er hergestellt sein mag, ein aus natiir-
    lichen Impulsen entspringendes Produkt, ganz ebenso wie die Honigwaben der Bienen.
    So sind auch jene Erleichterungen resp. Komplikationen, die der Menseh, um sich zu
    behaupten, sich nach und nach erschaffen hat, im weitesten Sinne natiirlich, da sie
    sowohl von seinen Impulsen als von seiner durchaus auf den gegebenen Lebens-
    kampf berechneten Intelligenz diktiert werden. Auf die schweren Schäden der er-
    zwungenen Askese im vollreifem Alter wies der Arzt Dr. Nystróm aus Stockholm
    in seinem Referat iiber Geschlechtshygiene und Pråventivmittel eingehend hin. Er
    betonte die Notwendigkeit des Geschlechisverkehrs für den normalen, gesunden,

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    Aus Vereinen und Versammlungen. 151

    erwachsenen Menschen, auch wenn die Absicht der Zeugung nicht damit verknüpft
    sein könne oder dürfe. Wenn der Mensch nicht ein normales ihm entsprechendes
    Geschlechtsleben führe, so leide jene Ethik Schiffbruch und der ganze seelische
    Komplex wird desorganisiert. Gewisse puritanische Vorschläge charakterisierte Dr.
    Nystrom als zumeist heuchlerisch und unwahr. Er empfahl statt des gefährlichen
    und demoralisierenden Verkehrs mit der Prostitution das auf freier Neigung be-
    ruhende Verhältnis. Er hob den Unterschied zwischen dem durchaus natürlichen
    und dem künstlich aufgereizten Geschlechtstrieb hervor. So sehr der letztere zu
    bekiimpfen sei, so sebr stehe dem normalen Geschlechtstrieb das Recht auf Be-
    tåtigung zu und es müsse gesorgt werden, dass er in möglichst hygienischer Weise
    und ohne die Opferung von Existenzen vor sich gehen könne. Wo es sich um die
    frühen Jiinglingsjahre handelt, dürfe man den Verzicht auf Geschlechtsgenuss fordern,
    nicht aber unbegrenzt bis ins reife Alter hinein, Znweit getrieben führt die Askese
    dahin, dass der Mensch alle Arbeits- und Lebenslust und seine Gesundheit verliert.
    Er streifte die lange Reihe von Krankheiten, besonders neurotischer Natur, die aus
    dem erzwungenen Zôlibat geschlechtsreifer Menschen stammen. Die einzige Lösung
    aus diesen Konflikten sieht Nystrom in der Verbreitung der Kenntnis und der
    Zugänglichkeit der Pråventivmittel, deren Gebrauch für ein verbiindetes Paar solange
    nötig sei als eine gemeinsame Heimgriindung und Aufzucht von Kindern aus-
    geschlossen ist.

    Dr. med. Rohleder aus Leipzig sprach dann iiber Neumalthusianismus und
    Ärzte. Er charakterisierte die neuen Gesetzesparagraphen, die in Deutschland den
    Vertrieb und die Empfehlung von Prüventivmitteln strafrechtlich verfolgen, als eine
    schwere Gefahr fiir die Volksgesundheit, die in ihren Folgen geradezu grauenhaft
    sein müsse. Er erórterte sodann die Fille, in denen sich der Arzt über das
    Gesetz erheben müsse, um durch Verhütung der Fortpflanzung schwerkranker
    Individnen namenlosem Elend vorzubeugen und gab eine lange Reihe von Beispielen
    solchen Elendes aus seiner Praxis. Uber Rassenhygiene sprach Dr. J. Rutgers
    aus dem Haag, welcher mit dem Ehepaar Drysdale zusammen als Führer der
    neumalthusianistischen Bewegung gilt. Dr. Rutgers besprach die Ansichten der
    „Gesellschaft fir Rassenhygiene“, die den Neumalthusianismus gern als „blutlosen
    Selbstmord“ der Nationen darzustellen lieben. Er trat dieser Auffassung mit wuch-
    tigen Argumenten entgegen, Wenn auch das Publikum die Schutzmassregeln gegen
    unerwünschte Fruchtbarkeit kennt, so werden sich doch immer junge, gesunde, lebens-
    tüchtige und liebende Eltern Kinder wünschen, während die schwächlichen und
    egoistischen sie ablehnen werden, So wird durch individuelle Entscheidung die
    Eugenik automatisch gefördert. Wie hoch gesteigert Luxus, so wirke auch die
    grosse Armut degenerierend. Statt grausamer Ausmerzung durch Hunger, Elend,
    Seuchen und Krankheiten aller Art sei die Auslese durch beschränkte Fortpflanzung
    vorzuziehen. Die bewusste Auslese sei auch im Sinne Darwins. Zwei Gegner, Prof,
    August Forel und Dr. Schallmeyer, München, hatten schriftliche kurze Refe-
    rate gesandt, die verlesen und diskutiert wurden. Forel sprach als Eugeniker und
    verlangte zahlreiche Vermehrung, da selbst bei ④ Kindern kaum 2 durchschnittlich
    am Leben bleiben, um die Zahl der Eltorn zu ersetzen. Darauf wies Dr. Drys-
    dale nach, dass bei sozialen Zuständen, in welchen von vier Kindern kaum zwei
    am Leben bleiben, von Eugenik kaum die Rede sein könne. Die ersten prak-
    tischen Eugeniker seien die Neumalthusianer, bei denen der Wert der Qualität
    der Kinder, den der Quantität überwiege. lmmer wieder Kinder in die Welt zu
    setzen, um damit die Friedhöfe zu füllen, sei eine Vergeudung von Volks- und
    Mutterkraft. Wenig Kinder, aber unter Verhältnissen, die ihnen das Leben tunlichst
    garantieren, das sei wahre Eugenik,

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    152 Aus Vereinen und Versammlungen.

    Auf dem Kongress hatten wir Gelegenheit, die Neumalthusianer strengster
    Observanz, die richtigen Orthodoxen, die in keiner Bewegung fehlen, neben solchen
    kennen zu lernen, denen bei allem Eifer fiir die ihnen notwendig erscheinende Sache
    doch nicht die Einsichten fehlen, die zu gewissen Vorklausnlierungen führen, die
    mit anderen ebenso drängenden Erscheinungen des sozialen Lebens rechnen. Als
    Führer der radikalen Seite können das englische Ehepaar Drysdale und der
    schwedische Professor Wicksell gelten. Sie fordern nicht nur die fakultative
    Sterilitåt (ein treffender Ausdruck, der auf dem Kongress gebraucht wurde),

    " sondern die absolute Verminderung der Geburtenziffer aller Staaten. Professor Wick-
    sell führte aus, dass es so klar sei wie nur irgend ein Satz des Euklid, dass jeder
    auch der kleinste dauernde Geburteniiberschuss von der Erde nicht ertragen werden
    könne. In der Tat hat dieser wuchtige Satz sehr viel für sich. Denn wenn wir
    anch gar nicht wissen, wie weit die Schiitze der Erde noch brach liegen und durch
    eine kosmopolitische Kultur nach und nach zum Verbrauch Lerangezogen werden
    *ónnen, so ist es doch eine unumstóssliche Tatsache, dass die Oberfläche der Erde
    begrenzt ist, und dass wir diese Grenzen sogar kennen. Also auch der kleinste
    Geburteniiberschuss, wenn er bis in alle Kwigkeit sich fortsetzt, muss schliesslich
    zu einer Übervölkerung führen. Irgendwo muss es daher eme Grenze geben, wo
    alle Nationen schliesslich stoppen müssen, wollen sie nicht die Erde mit künstlichen
    Brücken überwólben, auf denen die Menschen abgeladen werden. Der Kinwand, dass
    die Sterblichkeit das Ihre tue, hat natürlich keine Berechtigung, wenn man nicht
    von der Geburtenrate, sondern eben von dem Uherschuss der Geburten spricht,
    also von dem Plus, um das sich die Bevölkerung mehrt. So hat z. В. Deutschland
    trotz der sinkenden Geburtenrate einen in den letzten Jabrzehnten immer steigen-
    den Geburteniberschuss, weil mit der Geburtenrate auch die Sterblichkeitsrate
    sinkt. Arithmetisch gesprochen, hat Prof. Wicksell unzweifelhaft Recht, sein
    Ausspruch ist nicht zu widerlegen. Es fragt sich nur, ob wir auf jenem Punkt des
    allgemeinen Stoppensollens schon angelangt sind, oder ob uns nicht Jahrhunderte
    noch von ihm trennen, Die grösste Bewegung, die sich dem Neumalthusianismus
    entgegenstellt, ist natürlich der Nationalismus resp. das durchaus berechtigte Ex-
    pansionsgefühl hochstehender Rassen. Darauf hat der Neumalthusianismus die Ant-
    wort, dass seine Bewegung selbstverstündlich eine missionarische und kosmopolitische
    sei; ferner dass sein Wahlspruch: „Die Qualität ist mehr wert als die Quantität“
    nur die Wahrheit bestätige, dass gerade jene Völker, welche sich in der Quantität
    beschränken, durch die verbesserte Qualität die Sieghaften sein dürften, sowohl im
    kulturellen Wettbewerb als auch im Falle eines Krieges. Trotz seiner 500 Millionen-
    Bevölkerung hat China vor europäischen Kriegsschiffen gewaltigen Respekt und in
    Indien halten 70000 Engländer Millionen der Eingeborenen im Zaum. Tatsächlich
    ist die üherreichliche Vermehrung meist nur auf Kosten der Gesamtheit zu erkaufen.
    Es entstehen sehwichliche, widerstandsunfühige Exemplare, wenn auf ihre Ernährung
    und Aufzucht nicht die nötige Sorgfalt verwendet werden kann. Mit grosser Be-
    weiskraft wirkten die Tabellen von Drysdale, auf denen die Geburten- und Todes-
    raten verschiedener Staaten in roter und schwarzer Farbe verzeichnet waren. Es
    ergab sich aus dieser wissenschaftlichen Arbeit, dass mit der sinkenden Geburten-
    rate auch die Sterblichkeitsrate sinkt und umgekehrt auch wieder steigt. Wo immer
    man eine rote Zacke in die Hohe steigen sah, schnelle auch die schwarze in
    überraschender Regelmässigkeit ihr nach. Nun mag man über die Frage, ob noch
    mehr oder weniger Menschen da sein sollen, denken, wie man will, eines steht doch
    wohl für alle fest: Geburten, die die Sterblichkeit wieder ausjütet, haben keinen
    Wert und bedeuten eine schwere Vergeudung von Familienkråften, von Mutter-
    schmerzen und national-úkonomischen Werten. Nicht zu folgen vermögen wir

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    Aus Vereinen und Versammlungen. 153

    aber den Neumalthusianern, sofern sie nicht mit einer auch unter den günstigsten
    Verhältnissen wirkenden Sterblichkeit rechnen und die Zahl der Kinder eines Paares
    in allen Fällen etwa auf zwei beschränken wollen. Denn auch bei zwei Kindern,
    die in der vollen Kraft der Eltern und unter guten Verhältnissen gezeugt werden,
    kann der Tod seine Ausjäte halten, und dann bleibt, gar leicht, nichts von nichts
    übrig. Zwei Kinder, die leben, ersetzen überdies nur das vorhandene Elternpaar
    und bedeuten keine Vermehrung, die ja auch der Neumalthusianismus nicht witoscht.
    Die Mehrzahl der Neumalthusianer stand aber durchaus nicht auf diesem orthodoxen
    Standpunkt, sondern trat nur für fakultative Sterilität ein, d. h. empfahl die Kinder-
    beschrånkung dort, wo die Familie durch weitere Vermehrung in sicheres Elend
    gestossen wird, und wo durch neue Geburten nicht der Menschenüberschuss sich
    hebt, sondern nur die Friedhöfe sich füllen. Gesunde und in aufsteigender Erwerbs-
    linie sich befindende Eltern dürften uber unbeschadet aych mehrere Kinder zeugen.
    Vor allem aber müsste Gelegenheit geboten sein, überdurchschnittlichen Personen
    die Fortpflanzung ausgibig zu ermöglichen; hier berührte das Thema jenes der
    Sexualreform. Im Zusammenhang mit der Mutterschutzidee wiesen auch Dr.
    Helene Stocker und die Verfasserin dieser Zeilen darauf hin, dass, wenn Kinder-
    zunahme gewünscht würde, die Regierungen vor allem die Mutterschaft gesunder
    Frauen begünstigen müssten. Es gibt Millionen Frauen, die nichts heisser wünschen,
    als ein Kind und denen es durch die Schwierigkeit der Ehe dennoch verwehrt ist.
    Die einzige Möglichkeit, die Gefahren des Neumalthusianismus, die nicht zu über-
    sehen sind, erfolgreich zu paralysieren, liegen m. 7. darin, dass man der frei-
    willigen Einschränkung der Geburten, die wohl kaum zu bekämpfen sein dürfte,
    die freiwillige Fruchtbarkeit gesunder lebenstauglicher Elemente als Palliativ
    entgegensetzt. Und hier beginnt ein neues Lied resp. ein neuer Kongress, der dem
    neumalthusianischen auf dem Fusse folgt.

    „Mutterschutz und Sexualreform“ sind zwei Forderungen, die eng miteinander
    verknüpft sind, ja die sich eine aus der anderen ergeben, Es liegt in der Natur
    der Sache, dass die erstgenannte heute schon viele Freunde und Förderer hat,
    während die zweite noch um Ansehen kümpft. Der Mutter helfen, der Schwangeren
    und der schon Entbundenen, das Kind in Obhut nehmen, das leuchtet heute als
    Kulturforderung durchwegs ein. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass diese Stellung-
    nahme zumindest der unehelichen Mutter und ihrem Kinde gegenüber durchaus nicht
    immer so war und im Gesetz der meisten Staaten heute noch nicht existiert. Die
    Bestrebungen des Mutterschutzes tragen heute noch nahezu rein charitativen Cha-
    rakter, während sie gesetzlich obligatorisch sein müssten. Viel grössere Fortschritte
    hat „dank“ der enormen Säuglingssterblichkeit der Schutz des Kindes gemacht
    Hier sahen sich die Regierungen an ihrem eigensten Interesse geschädigt und man
    setzte darum mit weitgreifenden Massnahmen zum Schutze des Säuglings ein, Auch
    dass der beste Säuglingsschutz Mutterschutz heisst, ist eine Idee, die sich immer
    mehr Bahn bricht. Die internationalen Aussprachen über dieses Thema brachten
    hochinteressantes Material über den Stand der Dinge bei den verschiedenen Nationen.
    Dass Mutterschutz aber ohne Sexualreform immer nur eine halbe Sache bleiben
    kann, leuchtet heute erst wenigen unerschrockenen Kämpfern ein, Hier brachte der
    Kongress reiches Material.

    Reichstagsabgeordneter Dr. Eduard David hielt ein sehr bemerkenswertes
    Referat über die vermeintlichen Gegensätze von Mutterschutz und Rassenhygiene.
    Er führte aus, dass der „Schutz der Schwachen“ innerhalb der Kulturwelt durchaus
    nicht, wie von einzelnen Rassenhygienikern behauptet wird, im Widerspruch zu den
    Auslesetendenzen der Gattung stehe; denn der Begriff der wirtschaftlich Schwachen
    deckt sich nicht mit dem der organisch Schwachen. In der Mutter schützt die Ge-

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    154 Aus Vereinen und Versammlungen.

    sellschaft ihr eigenes Fortleben. Auf der Mutter ruht die Zukunft jedes Volkes —
    und nicht auf dem Wasser. Er nannte den Betlehemitischen Kindermord ein Kinder-
    spiel gegenüber der Hinopferung von jährlich Tausenden von Kindern durch Not
    und mangelnde Fürsorge fiir Mutter und Kind. Die soziale Fürsorge als rassen-
    hygienisch schädlich darzustellen, bedeute eine oberflächliche Begriffsverwirrung.
    Wenn im Kampf ums Dasein lediglich mit organischen Waffen gekämpft würde,
    so könnte man besondere Schutzmassregeln ablehnen; heute aber treten gewisse
    Schichten durch ihre Ausrüstung mit ökonomischen Besitzwerten von vornherein
    besonders gewappnet auf den Kampfplatz. Und der organisch Minderwertige, in
    goldener Rüstung, ist der Sieghafte über den organisch Starken, der nackt ist. Der
    heutige ökonomische Zustand schafft aber Bedingungen zur Organzerstörung ur-
    sprünglich organisch Starker. Er erzeugt organisch Minderwertige. Millionen
    Kinder werden schon im Mutterleib organisch verwüstet. Man hat eine Schonzeit
    für die Jagdtiere, warum nicht auch für das menschliche Weib. Frankreich gibt
    der Frau schon drei Monaten vor der Geburt Schonung und Pflege, aber jeder der-
    artige Versuch scheitert in Deutschland. Mutter- und Kinderschutz sind als rassen-
    hygienische Prophylaxis zu betrachten. Der zweite Tag brachte eine deutlich be-
    merkbare Steigerung des Interesses. Über Sexualwissenschaft als Grundlage der
    Sexualreform sprach Dr. Magnus Hirschfeld (Berlin). Wie bei allen anderen
    sozialen und biologischen Problemen, so müsse auch für das Sexualproblem die
    wissenschaftliche Forschung massgebend werden. Noch fehle es an einer vergleichen-
    den Tatsachenforschung im grossen Stil. Der Redner erörterte sodann die ganze
    Skala der Reize und der Wirkungen, aus denen sich das menschliche Geschlechts-
    leben zusammensetzt, auf wissenschaftlicher Basis, zum Teil an der Hand von Ta-
    bellen. Er führte п. a. aus: wie jede Anziehung in der Natur, beruht auch die der
    Liebe auf Gesetzen. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch bezeichnen wir die Personen,
    deren Erscheinung uns anzieht, uns „fesselt“ als Objekt der Liebe. In Wirklichkeit
    ist aber der Liebende als der betroffene Teil das Objekt der Liebe; er erscheint
    uns zunächst als Subjekt, weil der aufgenommene Eindruck sogleich bestrebt ist,
    sich in lebendige Kraft umzusetzen. Indem auf solche Weise lustbetont empfundene
    Reize, die zu inneren Spannungen führen, zu motorischen Lösungen drängen,
    verrät sich uns die Liebe als ein Reflexmechanismus, dem regulierend gewisse
    Hemmungsmechanismen gegenüberstehen. Diese haben in der Grosshirnrinde ihren
    Sitz, und sind teils instinktiver Natur, teils durch Vorstellungen gegebene, die auf
    den verschiedensten Gebieten liegen (Furcht vor Ansteckung, vor Befruchtung usw.).
    Praktisch besonders bedeutsam sind die sozialen Hemmungen, welche von der
    „Jeweiligen Moral“ einer Zeit und eines Landes abhängig sind. Der Begriff der
    Sittlichkeit ist heute mehr ein Gegenstand der Geographie, als der
    Biologie. Aber nur auf Grund wissenschaftlicher Ergebnisse dürften Sittlichkeits-
    forderungen aufgestellt werden.

    Hierauf gelangte die Verfasserin dieser Zeilen über das Thema „Ehe und Sexual-
    reform“ zu Wort. Ich stellte in meinem Referat die Institution der Ehe in den Mittelpunkt
    der Kritik und analysierte zuerst die Momente, die die Ehe vor allen anderen Verbindungen
    auszeichnen. Ich musste und durfte wohl dabei zum Teil auf die in meinem Buch „Die
    sexuelle Krise“ 1) entwickelten Definitionen und Analysen zurückgreifen, zum Teil konnte
    ich aber auch wesentliche Erweiterungen der Untersuchung, wie ich sie im zweiten
    Buch der „sexuellen Krise“, das in Vorbereitung ist, zu geben haben werde, bieten.

    In dem Moment der offiziell erklärten gemeinsamen Repräsentation eines
    sexuell und sozial verbündeten Paares sehe ich das eigentliche eheliche Prinzip,

    1) 5. Auflage. Verlag Eugen Dietrichs, Jena.

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    Aus Vereinen und Versammlungen. 155

    welches ich für einen hohen Kulturfaktor halte. Es folgte eine Analyse der Ge-
    fahren der Liebesgemeinschaft als Experiment, also der „freien Liebe“. Neben dem
    sozialen Moment sehe ich als zweiten Kolossalpfeiler der Ehe das Suggestions-
    moment, das Gefühl der Verbundenheit, das die Ehe zumeist in sehr zuverlässiger
    Form vermittelt und welches ich für schlechterdings unersetzlich halte, Diese beiden
    Momente bilden die vornehmsten Werte der Ehe, darum soll und wird sie immer:
    das Streben der Menschen bleiben.

    Diese Gebundenheit darf aber nicht erpresst werden durch alle möglichen Kon-
    junkturen, die mit dem Wesen der Sache nichts zu schaffen haben und jene Menschen,
    die diesen Glückszustand dauernder und freiwilliger sexual-sozialer Dauergemein-
    schaft nicht erreichen, dürfen deswegen ihres Geschlechtslebens nicht beraubt werden.
    Ich erlaubte mir das Motto aus der „sexuellen Krise“ heranzuziehen: „Feste und
    dauernde Monogamie ist ein ausgezeichneter Zustand, weil er die Energien des
    Menschen für andere ausserhalb der Erotik liegende hohe Aufgaben schont. Aber
    als erste Karte ist die richtige Monogamie wohl nicht im Lebensspiel zu ziehen.“
    Das Recht auf eine durch die Verhältnisse eventuell sich ergebende Aufeinanderfolge
    jeweilig monogamer Beziehungen muss auch ausserhalb der Ehe gesellschaftlich
    anerkannt werden. Die schlimmste Folge der herrschenden Moral, welche heute das
    freie Verhältnis brandmarkt, ist die Nötigung zur Hintertreibung der natürlichen
    Fruchtbarkeit, wodurch die echte Auslese darchkreuzt wird, während die ver-
    fúlschte Auslese flott ihr Spiel treiben kann. Dadurch wird die Entwicklungsmög-
    lichkeit der Art (Gattung, Rasse) zu immer höheren Exemplaren durchkreuzt. Nicht
    gegen die Ehe als Institution wird also gekämpft, sondern nur dafür, dass einer
    unerwünschten Ehe ein erwünschtes freies Verhältnis, auch wenn es die Ehe nicht
    bietet, vorgezogen werden könne und dürfe, ohne Gefahren für die Beteiligten. Ich
    führte aus, dass man die Ehe sogar erfinden müsste, wenn sie nicht bestünde und
    dass nur der terroristische Absolutismus, mit dem sie das ganze Geschlechts-
    leben unter ihr Schema zu bringen sich anmasst, zur Reform der sexuellen thik
    drängt. So gut es die knappe Zeit gestattete, schilderte ich die Verhcerungen, die
    die erzwungene Askese besonders auf die Frau ausübt, und die unheilvolle Kontra-
    selektion, die sich gerade dadurch ausbreitet, dass die reife Jugend von der Fort-
    pflanzung vielfach abgeschnitten ist, und der Mann erst zur Fortpflanzung gelangt,
    wenn er den Höhepunkt biologischer Reife und Kraft überschritten hat. Ich hob
    die Forschungen über die psychopathischen Folgen des unfreiwilligen Zblibats, wie
    sie besonders von Professor Freud klargelegt wurden, hervor und sprach über die
    Leiden, die aus der durch die Verhältnisse oft grôblichst mit Füssen getretenen
    Sehnsueht nach Mutterschaft resultieren. Ich forderte gesellschaftliche Mass-
    nahmen, die den Eltern die Kinder aufziehen helfen. Die Mittel dazu sollten durch
    Steuern, die in späteren Jahren, 2. 7. der vollen Erwerbsfähigkeit geleistet würden,
    hereingebracht werden. Keinesfalls dürften die beiden Momente der späten
    Zeugung und der späten vollen Erwerbsfihigkeit zusammenfallen, wie dies heute
    der Fall ist, wenn wirklich von der Erzeugung eines immer hóher qualifizierten
    Nachwuchses die Rede sein soll. Das hiesse, die Ehe und die Fortpflanzung wirk-
    samer begünstigen als wenn man die Schutzmittel verbietet. Ich versuchte dann
    verschiedene Reformvorschlüge, die der herrschenden sexuellen Not gegenüber ent-
    standen sind, zu charakterisieren und musste den Vorschlag des englischen Schrift-
    stellers Meredith auf ,Probeehe“ als besonders flach bezeichnen, weil er das wert-
    vollste Moment der Ehe, das Gefühl der dauernden Verbundenheit, ausschliesst.
    Die Reformvorschläge, die zur Lösung des sexuellen Problems gemacht wurden,
    teile ich in solche, die mit dem Prinzip der Monogamie brechen und jene, welche
    es bei aller Freiheit der Beziehungen erhalten zu sehen wünschen. Nur dieses

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    156 Aus Vereinen und Versammlungen.

    letztere Prinzip, welches die jeweilige Monogamie (denn selbstverständlich muss mit
    einer eventl. sich ergebenden Sukzession geschlechtlicher Verhältnisse gerechnet
    werden) zum mindesten als das anzustrebende, wenn auch nicht immer erreichte
    Ideal erhalten sehen will, kann ich anerkennen, alles andere würde nur weitere
    Leiden und unendliche Konflikte schaffen, (Eingehend kann ich mich über die Ge-
    staltung einer kommenden anderen Sexualordnung, wie sie sich aus den vorhandenen
    Ansätzen schon deutlich ergibt, erst in meinem zweiten Buch zur „sexuellen
    Krise“ äussern.) Das Wort „Ideal“ in bezug auf die Monogamie ist aber hier nicht
    in jenem schwiilstigen Sinne gemeint, mit dem es von Reformethikern breit und
    flach getreten wird. Ich gebrauche das Wort her in rein phylosophischem Sinne,
    im Sinne der platonischen Eidea, welche zielweisend iiber unserem oftmals anarchi-
    schem und gestaltlosem Treiben wirkt. In diesem Sinne karn die reine „Idee“ der
    Liebe und des ehelichen Biindnisses nicht anders gedacht werden als monogam.
    Selbstverständlich muss damit gerechnet werden, dass das Ideal nicht erreicht wird,
    aber dann kann auch von der Befriedigung tiefsten Sehnens keine Rede sein. Aller-
    dings ist mir Monogamie, wie schon erwähnt, durchaus nicht identisch mit der
    lebenslinglichen Dauer einer Beziehung, so sehr sie auch zu wünschen ist, und so
    sehr ich auch überzeugt bin, dass sie, bei voller Freiwilligkeit, die höchste Glücks-
    form darstellt. Trotzdem ich in meinem Buch nirgends gegen die Monogamie Front
    gemacht babe, wie zahlreiche andere Reformer, mit denen ich mich im zweiten Buch
    befassen werde, wurde mir diese angebliche Stellungnahme dennoch fålschlich unter-
    schoben, was ich nur damit erklären kann, dass das iiberreiche Material, das sich
    der Analyse aufdrängte und meine Methode, das „Ding“ von allen Seiten pro und
    kontra anzusehen, gewisse Rezensenten verwirrte. Allerdings entriisteten sich
    auch manche über die von mir verlangte Anerkennung der Sukzession monogamer
    Verhältnisse. Wenn man aber das Problem voraussetzungslos, moralinfrei und den
    wahren Bedürfnissen der menschlichen Natur und Kultur entsprechend anschaut,
    so ergibt sich die Notwendigkeit dieser Sukzession bis zur Erreichung einer gewissen
    Reife überall dort, wo nicht besondere Glückszufälle vorliegen. Darum muss auch
    ihre gesellschaftliche Anerkennung gefordert werden; denn nur unter dem Mautel
    der Heuchelei können alle die widerlichen Erscheinungen unserer heutigen Sexual.
    moral sich ausbreiten. Auch die Bekämpfung der doppelten Moral, die wir fordern
    müssen, wird gewöhnlich falsch verstanden. Es handelt sich weder darum, dass
    das Weib die Freiheiten der Ausschweifungen begehrt, noch dass der Mann in Askese
    leben soll bis zur Ehe, sondern die simple Wahrheit liegt wieder einmal in der
    Mitte. Weder Askese noch Debauche ist anzustreben; aber die Möglichkeit eroti-
    schen Erlebens muss sowohl für den Mann wie für die Frau gelten. Mit den Forde-
    rungen nach Freiheit gehen Hand in Hand solche der Beschränkung, der strengsten
    Selbstzucht, im Hinblick auf das Wohl und Wehe der Nachkommenschaft.

    In Frida Stéenhoff lernten wir die uns schon vorher durch ihre Schriften
    vertraute radikale Vertreterin sexual-reformatorischer Ideen in Schweden kennen,
    Diese Frau, eine hohe schlanke Blondine, die in einer ideal glücklichen Ehe lebt
    und schon erwachsene Kinder hat, hat die Würde, die Güte und das schlichte, leuch-
    tende Wesen, mit dem man sich etwa eine nordische Königin vorstellt. Und dann
    kommt sie aufs Podium und mit dem Harfenklang ihrer Stimme, die einen rechten
    Gegensatz bildet zu allem Suffragettengepolter, verficht sie die letzten, die schärfsten,
    die äussersten Forderungen unseres Reformkampfes! Sie geht noch weiter als ich,
    — sie verwirft die Ehe en bloc. Sie verlangt die volle Freiheit der Beziehungen
    und führt aus, dass durch das Vorhandensein der Ehe das Kind riskiere — unehe-
    lich geboren zu werden. In der gesetzlichen Familie sieht sie das wesentlichste
    Kampfmittel für die ungerechte soziale Machtverteilung. 一 Ich glaube, dass das

  • S.

    Aus Vereinen und Versammlungen. 157

    Band der Ehe von selbst immer lockerer werden wird, je mehr andererseits bei
    freien Bündnissen die Usancen notarieller Kontrakte üblich werden. Ich sehe aber
    besonders in dem erwähnten Suggestionsmoment der Ehe einen so hohen Wertfaktor,
    dass ich ihn heute noch nicht missen möchte. Ich halte darum auch die von der
    von mir sehr geschätzten Frau Stéenhoff geführte Propoganda fiir aussichtslos
    und den Zeitverhältnissen gegenüber unproportioniert. Dass das freie Verhältnis
    neben der Ehe Achtung erlange, dass Mutter und Kind auf alle Fälle geschützt
    seien und dass jede gesunde Fruchtbarkeit von der Gesellschaft mit Freuden begrüsst
    werde, ebenso wie jede Vermehrung minderwertiger Erbwerte verhindert werden
    muss, — das scheint mir das Erstrebenswerte, und ich sehe keinen Grund, der
    unter diesen Voraussetzungen dagegen sprechen sollte, dass die Ehe neben anderen
    Formen des sexuellen Lebens erhalten bleibt. Einen wahrhaft herzerfreuenden An-
    blick bot auch der greise Dr. Rutgers (Haag). Dieser alte Mann mit dem feurig
    begeisterten, durchstrahlten Gesicht gehörte beiden Kongressen an und beteiligte
    sich aufs aktivste an den Debatten auf der linksten radikalsten Seite in enger Ver-
    bindung mit unserem Reformkampf. Wenn junge Menschen, wie wir, an der Zukunft
    bauen helfen, um sie für die, die nach ihnen kommen, besser zu gestalten, wenn sie
    auf diesem Wege auch dort nicht stocken, wo es gilt, das gefährliche Werk der
    Niederlegung alter Barrikaden zu vollbringen, so braucht es, um sie zu solchem
    Kampfe zu befähigen, nur eines grossen Masses durchlebter Leiden und einiger
    Fähigkeit, die sich daraus ergebenden Schlüsse zu ziehen. Wenn aber das hohe
    Alter in dieser Weise mit der reifen Jugend geht, dann handelt es sich um mehr:
    nur genialische Instinkte können dies Wunder vollbringen. Die alte Hedwig
    Dohm in Deutschland, Popper-Lynkeus in Österreich und jener herrliche alte
    Rutgers aus dem Haag sind solche Phänomene. . . . Am letzten Abend sprach
    in öffentlicher Versammlung, die die grosse Kongresshalle bis aufs letzte Plätzchen
    füllte, Dr. Iwan Bloch über die sexuelle Frage im Altertum und ihre Bedeutung
    für die Gegenwart. Er wies darauf hin, dass die herrschende sexuelle Moral ein
    Produkt des griechischen Altertums ist, welches einen typischen Sklavenstaat auf
    der einen und ein absolutes Patriarchat auf der anderen Seite hatte, und welches
    sich im wesentlichen auf die Missachtung der Frau, Missachtung der individuellen
    Liebe und Missachtung der Arbeit stützte, daher sei diese Moral für uns unbrauchbar.
    Hierauf sprach Dr. Helene Stöcker (Berlin) und wies auf den Zusammenhang der
    modernen sexuellen Reformbewegung mit den grossen Revolutionen, die die Moral
    durch die Romantiker, durch Kant, Fichte und Nietzsche erfahren habe, hin.
    Anstelle von Geheimrat Professor Dr. Eulenburg, der durch einen Todesfall in
    der Familie am Erscheinen verhindert war, hielt Dr. med. Julian Marcuse (Parten-
    kirchen) das Schlussreferat. Er schilderte die Notwendigkeit einer strengen Askese
    für die Jugend bis zum Alter der Pubertät. (Mir scheint diese Grenze zu niedrig
    gegriffen; die Askese dürfte auch noch für die ersten Jünglingsjahre, nach der
    Pubertät zu empfehlen sein.) Habe man es aber mit geschlechtsvollreiten Menschen
    zu tun, so sei die Frage eine ganz andere, und es müssten Reformen geschaffen
    werden, die nicht Millionen Menschen zu gefährlichem Verzicht verurteilen.

    Damit schloss unter grossem Beifall der bedeutsame Kongress, Am nächsten
    Vormittag wurde eine „Internationale Vereinigung für Mutterschutz
    und Sexualreform“ konstituiert, der die sämtlichen anwesenden Ausländer
    beitraten. Nicht nur eine Schar konsequent Denkender und mutig Kämpfendert
    sondern eine Reihe der edelsten menschlichen Persönlichkeiten haben diese beiden

    Kongresse vor unsere Augen geführt und uns darum auf lange hinaus Lebenskraft
    und Lebensfreude vermittelt.

    Zentralblatt für Psychoanalyse. II. 41