Aus Vereinen und Versammlungen [September 1912] 1912-774/1912
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    Referate und Kritiken. 671

    allgemein nur im wachen Zustande auftreten, werden oft auch beim
    Einschlafen oder Erwachen, manchmal auch im tiefen Schlaf beobachtet
    (Trömner, Zappert, Ungar, Stamm, Oppenheim). Sie sind
    ausgesprochen „neuropathischer Genese‘ und dürften auf eine „dissoziierle
    Erregung des Grosshirns" zurückzuführen sein.

    Sehr ausführlich behandelt Verf. Enuresis nocturna. Zusammen-
    hang mit Epilepsie besteht im allgemeinen nicht, in 28% der Fälle fehlte
    jedes neuropathische, hereditire oder konstitutionell verantwortliche
    Moment, auch in den anderen Fillen hatte keines der als konstitutionell
    schwüchend anzusehenden Momente dominierenden Einfluss. Verf. kommt
    zu dem Resultat ,Reflexinfantilismus". Es handelt sich wieder um eine
    Art Dissoziationszustand und zwar entweder so, dass bei schlafendem
    Kortex das im Thalamus gelegene Blasenzentrum wacht, oder es handelt
    sich, analog dem Nachtwandeln, um einen motorischen Rindenvorgang
    bei gehemmtem Sensorium.

    Wie aus dem Vorstehenden ersichtlich, wird immer nur nach neuro-
    logischer, nie nach psychischer Atiologie gefahndet. Im Gegensatze dazu
    rät Verf. fast ausschliesslich psychische Therapie, nämlich hypnotische
    Suggestion. In der bei weitem überwiegenden Mehrzahl der Fülle hat er
    Heilung oder wenigstens Besserung erzielt. Misserfolge sind Schuld des
    Hypnotiseurs. Bei deu Stórungen der 2. Gruppe sind auch sedierende,
    hydropathische Massregeln von Vorteil Das ifische Heilmittel dieses
    „funktionellen Neurosen" jedoch ist die hypnotische Suggestion, die auch
    der Wachsuggestion vorzuziehen ist, weil sie allgemeiner, sieherer und
    schneller wirkt. Sie erfüllt nicht nur die Forderungen des tuto, cilo et
    iucunde", sondern auch des „nil nocere". Marcus.

    Aus Vereinen und Versammlungen.

    Dr. Karl Schrótter: „Zur Psychologie und Logik der Lüge“.

    Vortrag, gehalten am 31. Januar 1911 in der Philosophischen Gesellschaft an
    der Universität zu Wien. Enthalten im 24. Jahresbericht (1911) der Philosophischen
    Gesellschaft an der Universität zu Wien. Leipzig 1912, J. A. Barth.

    Der Autor beginnt mit einer logischen und psychologischen Untersuchung des
    Urteils, stellt den Unterschied von Ausdrucks- und Tendenzurteilen fest und leitet
    zunächst aus dem letzten die Lüge ab. Damit aus dem Tendenzurteil eine Lüge
    werden, muss ein anderes Urteil oder eine ,Urteilsmóglichkeit^ vorhanden sein, die
    dem Tendenzurteile widerspricht. Und dieses zweite Urteil muss mit dem sogenannten
    »Wahrheitsbewusstsein* ausgestattet sein. Beim Lügen sind neben dem ausge-
    sprochenen Tendenzurteile andere Urteilsmåglichkeiten im Bewusstsein vorhanden.
    Die Wahrinhalte suchen bisweilen sprachmotorischen Ausdruck, drängen sich
    in die Rede, so dass wir uns infolgedessen versprechen: die Lüge besteht in einem

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    Verdringungsversuche des Wahrinhaltes und seine Ersetzung resp. Entstellung
    durch ein Tendenzurteil.

    Der Verfasser unterscheidet drei Hauptformen der Liige:

    1. Die Abwehrliige. Diese wird provoziert. Der Wabrinhalt ist immer
    ein peinlicher, ein Inhalt, dessen Anerkennung tible Folgen nach sich ziehen wiirde,
    deshalb wird er abgewehrt. — Fehlreaktionen lassen die schlimme Absicht erkennen.
    „Peinliche Bewusstseinsinhalte haben überhaupt keine grossen Chancen reproduziert
    zu werden. Die mit ihnen verbundene Unlust selbst, die Scham, endlich neue
    Tendenzen, die über früher herrschende den Sieg errungen haben, bewirken eine
    dauernde Verdrängung“.

    2. Die Interessefälschung. Die Gruppe unterscheidet sich von der früheren
    durch das Moment der spontanen Entstehung, Im ersten Falle will der
    Lügner sein Ich schützen, im anderen Fall will er es durchsetzen, also sein Ziel
    erreichen. Bei der Abwehr ist der ersetzende Inhalt etwas Negatives, bei der
    Interessefälschung enthält er positive Daten, Der Wunsch hat die Fäbigkeit, die
    Illusion des Wahrheitsbewusstseins zu erzeugen. Sowohl Affekt als Gewohnheit
    verdrängen die korrigierenden Elemente, so dass oft keine Gegenvorstellung auf-
    kommt. Wichtig werden diese Feststellungen zur Erklärung der Suggestion, des
    Demagogen, des Reklamemachers.

    Die 3. Gruppe verdankt ihre Entstehung einer Mannigfaltigkeit von drei
    Momenten, der Lust am Fabulieren, der Tendenz, unser Ich in den Mittelpunkt zu
    rücken, endlich der Gesamtheit unserer Wünsche. Die meisten Phantasielügen er-
    weisen sich als Wunschlügen und sind ausgesprochene, anderen Personen mitgeteilte
    Wachträume. Der Phantasielügner teilt sie aber nicht als Traum mit, er nimmt
    für sie den Glauben in Anspruch, den man Tatsachen zollt. Das erst verschafft
    ihm volle Befriedigung, Die von Freud angegebenen Motive (Ehrgeiz und Krotik)
    werden vom Verfasser bestätigt. Andere Phantasien aber verdanken ihre Entstehung
    nur einem dunklen Erlebnisdrange. Beim Phantasielügner sind die Tendenzen un-
    bewusst, er ist auf einer kindlichen Denkstufe zurückgeblieben. Aber die Korri-
    gierenden Elemente bleiben normalerweise erhalten, es besteht keine Erinnerungs-
    täuschung; diese ist erst der pathologischen Vergröberung, der Pseudologia
    phantastica vorbehalten. Das Problem des unbewussten Wunsches wird gestreift,
    aber dessen Erörterung für einen anderen Zusammenhang vorbehalten.

    Der Autor hat das Problem genau studiert und sehr wertvolle begriffliche
    Gliederungen gegeben. Der Aufsatz ist anregend geschrieben, die Formulierungen
    mit mehreren Beispielen erläutert. Wichtig scheint mir vor allem die Feststellung
    der „Verdrängung von Wahrinhalten“ und ihres teilweisen Misslingens, die mir
    auch für andere psychoanalytische Gedankengänge wichtig scheint und vielleicht
    eine Erweiterung der Verdrängungslehre repräsentiert. Gaston Rosenstein.

    Kongress für Familienforschung, Vererbungs- und Regenerationslehre.
    Giessen 9.—13. April 1912.
    Bericht von Dr. Lilienstein, Bad Nauheim.
    Wenn man aus der Ankündigung des Kongresses und der Liste der Vor-
    tragenden, die sich aus Ärzten, Juristen, Genealogen ete. zusammensetzte, hätte
    schliessen wollen, so hätte mancher vielleicht nicht erwartet, dass hier auf rein

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    biologisch-naturwissenschaftlicher Grundlage, die so viele geisteswissen
    schaftlichen Gebiete bertthrenden Fragen der Vererbung erörtert werden würden.
    Allerdings bot die Führung Sommers, der als Organisator dieser Kongresse an-
    gesehen werden muss, schon die Garantie, dass die naturwissenschaftliche Forschungs-
    methode in jeder Hinsicht zur Geltung kommen musste.

    Mit einem Überblick über die Geschichte und den Zweck des Kongresses
    eröffnete Sommer die Verhandlungen, die folgende Teilgebiete umfassten:

    1. Methodik und Vererbungsregeln. 2. Normale und geniale Anlagen. 3. Ab-
    norme Anlagen. 4. Kriminelle Anlagen. 5, Erforschung bestimmter Familien.
    6. Vererbungslehre und Soziologie. 7. Vererbung und Züchtung. 8. Regeneration.

    Medizinisches Interesse boten zunüchst die Vortrüge von Dr. F. Hammer (Stutt-
    gart) und Dr. Romer (lllenau). Hammer wies an einzelnen Krankheitsbildern die
    Bedeutung der Mendel'schen Vererbungslehre für den Menschen nach. So ent-
    Spricht die Vererbung der Pigmente der Augen, des Haares und der Haut durchaus
    derjenigen bei den Tieren. Die dunklere Pigmentierung „dominiert“ über die hellere,
    der Albinismus lässt ,rezessive Vererbung“ erkennen. Dominierend sind ferner Hypo-
    daktylie, bestimmte Formen des Stars, Teleangiektasie, Hypotrichosis, Diabetes
    insipidus u. a. Dominierend, aber auf ein Geschlecht beschränkt (wie die Horner
    bei männlichen Tieren) sind Hämophilie, Farbenblindheit, Pseudohypertrophie der
    Muskeln. Rümerhob die Bedeutung der Methodik für die psychiatrische Forschung
    hervor. Er behandelte die Forderungen, die von Irrenürzten an statistische Erhebungen
    gestellt werden müssen. Er betonte die Notwendigkeit des Ausbaus der Medizinal-
    abteilung bei den staatlichen statistischen Ämtern nach der psychiatrischen Seite
    hin und verlangte die Einrichtung einer psychiatrischen Abteilung im Reichsgesund-
    heitsamt. Als Grundlage für statistische Erhebungen demonstriert Römer ein Ein-
    teilungsschema der Psychosen, das in badischen lrrenanstalten eingeführt ist.

    Auch der Vortrag von Wilh. Ost wald ist erwähnenswert. Ostwald findet
    auch bei der Entwicklung der Genies die biologischen Vererbungsgrundsätze be-
    ståtigt, nach denen sich in jedem Individuum die Eigenschaften seiner Vorfahren
    nicht durch die Kreuzung ständig ändern; es findet sich vielmehr stets eine endliche
    Zahl von bestimmten, ihrerseits fast unveründerlichen Elementen als Mosaik. Betz
    (Mainz) verbreitet sich über den Begriff des Durchschnittsmenschen und konstatierr,
    dass es fast unmüglich ist, einen Typus desselben zu umschreiben.

    Mehr auf empirischer Grundlage beruhten die Vortrüge, die sich mit abnormen
    und kriminellen Anlagen befassten. Der Augenarzt Dr. Crzellitzer aus Berlin
    hat mittels seiner Familienkarte Erhebungen in den Familien von Augenkranken
    (Kurzsichtigkeit, hochgradige Übersichtigkeit, Schielen, Augenzittern und Star) an-
    gestellt. Bei 31% fand sich direkte Vererbung. Mit dem ,Intensitätsindex“ gibt
    Crzellitzer den Grad der Häufung erblicher Krankheiten bei Geschwistern an.
    Dannenberger (Goddelau) beschreibt die b:kannte Mikrozephalenfamilie Becker
    aus Bürgel.

    Erziehungsfragen bei abnormen Anlagen mit Rücksicht auf die Rassenhygiene
    behandelten Dannemann und Berliner (Giessen) Dabei wird vor allem der
    günstige Einfluss ärztlich geleiteter oder beaufsichtigter Spezialanstalten hervor-
    gehoben, nur weist Dannemann noch darauf hin, dass auch nach der Ent-
    lassung aus diesen Anstalten die Züglinge im Auge behalten werden müssten, um
    eventuell ihre Fortpflanzung durch dauernde Internierung hintanzuhalten. Den
    radikaleren Vorschligen Oberholzers (Breitenau b. Schaffhausen), der eine
    Sterilisierung bei gewissen psychiatrischen Krankenkategorien befürwortete, wurde
    indessen von allen Seiten lebhaft widersprochen. Berliner demonstrierte noch

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    Bilder aus der Arbeitslehrkolonie für Jugendliche, Steinmühle bei Homburg, deren
    konsultierender Arzt er ist.

    Von den Familien, deren Stammbäume unter biologischen Gesichtspunkten
    erforscht wurden, seien die Habsburger und die Familie von Schillers Mutter er-
    wühnt. Bei den ersteren fand Strohmayer bestitigt, dass die morphologischen
    Merkmale der Habsburger (starke Unterlippe und Prognathismus inferior) Dominante
    im Sinne Mendels sind. Forst (Wien) hat die Ahnentafel des österreichischen
    Thronfolgers Franz Ferdinand bis in die 15. Generation verfolgt. Die theoretische
    Ahnenzahl beträgt in dieser 16848, in Wirklichkeit finden sich in ihr bei Franz
    Ferdinand nur 1514 Ahnen. ,Ahnenverluste*, wie diese Differenz genannt wird,
    hat jeder Mensch, da ja die tatsüchlich vorhandene Zahl von Menschen (z. Zt. Karls
    des Grossen z. B.) nicht für die theoretische Ahnenzahl genügen würde. Bei Inzucht
    wird der Ahnenverlust naturgemáss grösser. Mit der Familie von Schillers Mutter
    beschäftigte sich Sommer (Giessen), der Blutsverwandte von ihr in Esslingen
    kennen gelernt und untersucht hat und bei einem Midchen eine ganz ungewóhn-
    liche Übereinstimmung in der Gesichtsbildung mit Schiller fand.

    Einen wertvollen Beitrag über den Zusammenhang von Hereditütsforschung
    und Soziologie brachte Weinberg (Stuttgart) Der Kinfluss des Milieus auf die
    Lebenserscheinungen der menschlichen Gesellschaft ist in neuerer Zeit gründlich
    studiert worden. Dadurch wurde die Vererbungslehre etwas in den Hintergrund
    gedrängt. In der Fruchtbarkeit der minderwertigen Elemente sieht Weinberg
    keine so grosse Gefahr, weil ihr die grüssere Sterblichkeit derselben Elemente ent-
    gegensteht. Roller (Karlsruhe) gibt einen geschichtlichen Überblick über die Wand-
    lungen der Lebensdauer in Deutschland seit dem Mittelalter, die nach seiner Ansicht
    von Bedeutung für die rechtlichen und sozialen Zustände gewesen sind. Macco
    (Steglitz) hat die Archive von Aachen, Köln, Düsseldorf, Brüssel, Wetzlar etc.
    durchforscht und das Schicksal der Aachener Schôffenfamilien verfolgt, das ihm in
    soziologischer Hinsicht interessant und typisch zu sein schien. Das Anschwellen
    der Vermögen und der Beginn des Wohllebens führte in diesen Füllen meist rasch
    zum Verfall.

    Die Erfahrungen, die Gisevius (Giessen) bei der Tierzüchtung gesammelt
    hat, lassen erkennen, dass entgegen der allgemeinen Annahme, auch die Inzucht eine
    Steigerung wertvoller Eigenschaften und eine Regeneration bewirken kann. Voraus-
    setzung ist dabei aber, dass die Inzucht nicht wahllos, sondern mit Auslese erfolgt.

    Über die Bewegung, die in England zur Regeneration des Volkes eingesetzt
    hat, dem Eugenic movement unter Sir Francis Galton, wird durch einen
    Bericht dieser Gesellschaft, den Som m er zur Verlesung bringt, Kenntnis gegeben.
    Den Schlussvortrag hielt Som mer über Renaissance und Regeneration. Er weist
    darauf hin, dass abgesehen von einer grossen Reihe von Momenten, die zu einer
    solchen Kulturblüte führen, die sozialen und politischen Verhältnisse, der Land-
    schafts- und Volkscharakter usw. auch biologische Momente wesentlich mit-
    wirken: 1. Die Periodizitåt, die sich in der ganzen organischen Natur und be-
    sonders beim Menschen überall nachweisen lasse. Ganz besonders günstig für die
    Entstehung der Henaissance sei 2. die Vermischung von reingezüchteter Militür-
    aristokratie mit einer reingezüchteten Bürgeraristokratie in Florenz um die Mitte
    des 15. Jahrhunderts gewesen.