Varia [Dezember 1912] /1912
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    Varia.

    Zum Thema Masochismus. „Dass die Vorahndung des Guten bei allen
    Menschen mit dem Wunsche es zu besitzen, verbunden sei, ist natürlich und fällt
    bald in die Augen; dass aber auch der Mensch eine Art Lüsternheit nach dem Übel
    und eine dunkle Sehnsucht nach dem Genusse des Schmerzens habe, ist schwerer zu
    bemerken, mit anderen Gefühlen verwandt, unter anderen Symptomen verhüllt, die
    uns leicht von unserer Betrachtung abführen können.“ A ‏.ד‎ Wi

    Zum Thema Grausamkeit. „Der gesunde Mensch kann durch nichts gerührt
    werden, dass nicht zugleich die Sniten seines Wesens erschiittert werden sollten, von
    denen die entzückenden Harmonien des Vergnügens auf ihn herabstrómen. Und
    selbst grausam zerstôrende Begierden, worüber man sich auch bei Kindern entsetzt,
    die man durch Strafen zu vertreiben sucht, haben geheime Wege und Schlupfwinkel,
    wodurch sie zu den allersiissesten Vergntigungen hiniibergehen. Alle diese innerlichen
    Gänge und Wege werden durch Schauspiele, besonders durch die Tragödie mit elek-
    trischen Funken durchschüttert, und ein Reiz ergreift den Menschen; je dunkler er
    ist, je grösser wird das Vergnügen,“ A. v. W.

    Zur Psychologie des Mädchens. „Lassen Sie mich, sagte Aurelia, auch
    eine Frage tun? Ich habe Opheliens Rolle wieder durchgesehen und bin zufrieden
    damit und getraue mir sie unter gewissen Umstånden zu spielen; nur sagen Sie mir,
    dürfte man die Wahnsinnige nicht andere Liedchen singen lassen, es könnten ja auch
    Fragmente aus Balladen sein, nur nicht solche Zweideutigkeiten und Zoten, wozu
    das?“ — „Beste Freundin, versetzte Wilhelm, ich kann nicht ein Jota nachgeben,
    auch darin liegt ein grosser Ausdruck.“ Wir sehen, womit das gute Kind im Gemiite
    beschäftigt war. Heimlich klangen die Töne der Lüsternheit in ihrer Seele, und sie
    wollte wie eine unkluge Wirterin ihre Sinnlichkeit zur Ruhe singen mit Liedchen,
    die sie nur mehr wach erhalten mussten. Stille lebte sie vor sich hin, und kaum
    verbarg sie ihre Sehnsucht und ihre Wünsche. Jetzt, da ihr jede Gewalt über sich
    selbst entrissen ist, da ihr Herz auf der Zunge schwebt, wird diese Zunge ihre Ver-
    råterin, und in der Unschuld des Wahnsinns ergótzt sie sich vor Konig und Königin
    an dem Nachklange ihrer lieben losen Lieder der Einsamkeit: vom Mädchen, das
    gewonnen ward, vom Mädchen, das zum Knaben schleicht, und so weiter. (Goethe,
    Wilhelm Meisters theatralische Sendung, herausgegeben von Harry Mayne, 1911,
    p. 108, 110, 390.)

    Uber die von der Psychoanalyse nachgewiesene enge Bindung von Liebe und
    Hass üussert sich La Rochefoucauld in nachstehender Weise: „Plus on aime une
    maîtresse, plus on est près de la hair,“ A. v. W.

    Zur Analerotik, Dass die Liebkosung der Afterzone ursprünglich ein Zeichen
    gegenseitiger Zärtlichkeit ist, dafür zeugt folgender Ausspruch eines Dienstmädchens,
    un den sich ein Patient aus seiner Kindheit erinnert: „Wer zürnt, der trinkt nicht
    aus meinem Hintern.“ EH

    Zum infantilen Charakter des Witzes. ,Die Kinder“, sagt Freud, ,be-
    handeln Worte wie Gegenstände“, Hier ein Scherz, dessen psychologische Erklärung
    im zitierten Satze zu finden ist: Ein Patient erzählt mir, er pflege an einen oder
    den andern seiner Freunde folgende Frage zu richten: „Magst du eine Blume?“
    Ist die Antwort bejahend, so schreibt er auf einen schmalen Zettel das Wort „Rose“,
    dann steckt er den Zettel ins Knopfloch des Betreffenden. J. H.

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    Zum Verhältnis von Vater und Tochter. Hebbel schreibt über seine
    Geliebte: „Bevor B. die Menstruation gehabt, hat sie immer an fürchterlichen
    Schmerzen im Unterleib gelitten, wenn sie sich dann zum Vater ins Bett gelegt und
    dieser die Hand auf ihren Bauch gelegt, hats nachgelassen; bei der Mutter hats
    nicht geholfen.“ (Fr. H. Tagebücher, 1. Bd., S. 90. Berlin, 1905.) J. E

    Hebbel über den Traum. „Das weiss ich, solche Träume soll man nicht
    gering achten! Sieh, ich denke mir das so. Wenn der Mensch im Schlaf liegt, auf-
    gelöst, nicht mehr zusammengehalten durch das Bewusstsein seiner selbst, dann ver-
    drängt ein Gefühl der Zukunft alle Gedanken und Bilder der Gegenwart, und die
    Dinge, die kommen sollen, gleiten als Schatten durch die Seele, vorbereitend, warnend,
    trostend. Daher kommts, dass uns so selten oder nie etwas wahrhaft überrascht,
    dass wir auf das Gute schon lange vorher so zuversichtlich hoffen und vor jedem
    Übel unwillkürlich zittern.“ (Aus: „Judith“, II. Akt.) J.H.

    Hebbel über Ahnungen und Vorahnungen. „Unser Ahnen, Glauben, Vor-
    empfinden etc. haben wir bis jetzt nur als den Beweis får die Existenz einer uns in
    ihrer Realität noch unfassbaren, ausser uns vorhandenen Welt in Anwendung ge-
    bracht; mir sind sie mehr, sie sind mir zugleich die ersten Pulssehlige einer noch
    schlummernden, in uns vorhandenen Welt.“ (Fr. H. Tagebücher, Bd. I, S. 146.
    Berlin, 1905.) JAH.

    Zum psychologischen Verhiltnis von Wort und Tat. „Die Perser glauben,
    dass jedes ausgesprochene Wort zu einem geisterartigen Wesen sich umwandle,
    welches die Welt unablissig bis an die Pforten des Paradieses durchstreift, bis es
    zur Tat wird.“ (Zitiert nach Hebbel's Tagebücher, Bd. I, S. 45. Man vgl. dazu
    die Ausführungen Ferenczi's in seiner Abhandlung „Uber obszóne Worte“, Dieses
    Zentralblatt, I. Jahrg. S. 390.) J. H.

    Die „Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre“, zweite Folge,
    von Freud (Verlag von Franz Deuticke, Leipzig und Wien) ist in zweiter Auflage
    erschienen.

    Von Professor Ernest Jones ist ein stattlicher Band „Papers on Psycho-
    Analysis“ in London im Verlage von Bailliére, Tindall and Cox erschienen. Wir
    werden auf dieses Buch, das eine Sammlung seiner besten Arbeiten darstellt, noch
    zurückkommen.

    Stekel's „Ursachen der Nervosität‘ sind in russischer Übersetzung in
    der von Ossypow herausgegebenen psychologischen Bibliothek erschienen.

    Von den Schriften des Vereines für freie psychoanalytische Forschungen sind
    bereits drei Hefte erschienen. „Psychoanalyse und Ethik“ von Dr. Karl Furt-
    müller, „Der Fall Gogol“ von Otto Kraus, und „Bergsons Philosophie der
    Persönlichkeit und das Persónlichkeitsideal*. Alle drei im Verlage von Ernst
    Reinhardt in München,

    Von unserem fleissigen amerikanischen Kollegen Dr. Isador H. Coriat
    (Boston), dem Autor des Werkes „Religion und Medizin" ist ein neues Buch
    „The Hysteria of Lady Machbeth* in New York im Verlage vou Moffat, Yard
    and Comp. erschienen,