Varia [Februar 1913] /1913
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    Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. Stuttgart, Ferdinand
    Enke, 1912.

    Nun liegt die von Professor Fuchs herausgegebene 14. Auflage des
    trefflichen Werkes vor uns. Wenn der Herausgeber auch bestrebt ist,
    das Buch durch Beriicksichtigung der neuesten Literatur, besonders iiber
    die kontråre Sexualempfindung, auf der Hohe der Zeit zu erhalten, so
    kann man sich doch des Eindruckes nicht erwehren, dass dies Riesen-
    gebiet einer umfassenden Erforschung psychologischer Art dringend be-
    dürftig ist. Fuchs meint: „Die biologische und experimentelle Methodik
    hat auf dem Gebiete der inneren Sekretionslehre einen Weg für das Ver-
    ständnis der Sexualvorgänge angebahnt und Ausblicke für die Zukunft
    eröffnet, welche die Hoffnung erwecken, dass einst auch die Psycho-
    pathia sexualis einen realen physiologischen Boden gewinnen werde.“
    Speziell die Lehre von der konträren Sexualempfindung! . Wir
    Psychoanalytiker haben bereits die Erforschung von der psychologischen
    Seite angebahnt und hoffen auf die Aufklärung dieser dunkeln Rätsel. Der
    Krafft-Ebing der Zukunft ist noch nicht erschienen. Aber dass dies
    Werk einmal neu geschrieben werden muss 一 und gerade vom p
    logischen Standpunkte — darüber sind wir uns alle einig. Wir würden
    gerne die physiologischen Funde als wertvolle Bereicherung ansprechen,
    wenn sie nur imstande wären, uns das Rätsel der Disposition vollkommen
    zu erklären. Stekel.

    Varia.

    Wem erzählt man seine Träume? Wir Analytiker wissen, dass man seine
    Träume gerade jener Person zu erzählen sich gedrängt fühlt, auf die deren Inhalt
    sich bezieht. Das scheint aber schon Lessing geahnt zu haben, als er folgendes
    Sinngedicht schrieb:

    Somnum.
    Alba mihi semper narrat sua somnia mane.
    Alba sibi dormit: somniat alba mihi.

    (Lessing, Sinngedichte. II. Buch.) Ferenezi.

    Zur Genese des Jus primae noctis. Es war mir von vorneherein wahr-
    scheinlich, dass das Recht des Gutsherrn zur Deflorierung jeder Leibeigenen ein Rest
    patriarchaler Zeiten war, in denen dem Familienoberhaupt das Verfügungsrecht über
    alle Weiber des Hauses zustand. Die autoritative Gleichstellung von Vater — Priester
    — Gott gestattet es, foleende religiósen Gebrüuche zur Stütze dieser Ansicht heran-
    zuziehen: „In der Umgebung von Pondichéry bringt die Neuvermåhlte dem Gøtter-
    gebilde ihre Jungfriiulichkeit dar. In einigen Gegenden Indiens vertreten die Priester
    die Stelle des Gottes. Der Konig von Calicut überlüsst dem angesehensten Priester
    seines Reiches während der ersten Nacht das Mädchen, das er heiratet.“ (H. Frei-
    mark, Okkultismus und Sexualität, S. 75.) In unserer nächsten Nähe, in Kroatien,
    Soll sich mancher Familienvater noch heute das Recht herausnehmen, die Schwieger-
    tochter bis zum Heranwachsen des sehr jung verheirateten Sohnes geschlechtlich zu
    gebrauchen. Eine neuropathologische Parallele dieser religiösen und ethnischen Bräuche
    finde ich in jenen, meist unbewussten Phantasien vieler Neurotiker, in denen beim
    Geschlechtsverkehr der Vater als Vorgünger postuliert wird. Ferenczi.

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    Die Psychoanalyse in der modernen Lyrik, In den Versen von Johannes
    R. Becher (Verlag von Heinrich F. S. Bachmair, Berlin, 1912) finden sich sehr
    viele Stellen, welche die Kenntnis der Freud'schen Werke verraten, es sei denn,
    der Dichter habe seine Erkenntnisse aus dem Unbewussten seiner Kunst geschôpft.
    So finden wir ein Gedicht „Befreiung“, dem die folgenden Verse entnommen sind:
    „Die Wünsche, die ich tags gedacht,

    Sehnsiichte, die ich tags nicht stillen konnte,

    werden die Angste meiner Nacht.

    Sie glåh'n Wahn,

    den ich nicht fliehen kann,

    dass ich in Feuer rings und Flammen steh’,

    in der Geliebten meine Mutter seh’,

    meinen Vater, wie einen Frass der Hunde

    Und! Und!

    mein lieb Mutter fass ich sanft am Mund! Mund!

    drück ihr den letzten Atem zu,

    stehl mich fort — und

    weıf mich meinem Vater in die Arm.“

    Vom Wesen des Traumes spricht eine andere Stelle:
    „Und eine nach der anderen Gestalt
    stirbt hin vor mir. Und bin doch alles ich.
    Lustwandle selbst in Tausender Gestalt,
    Liebe mich selbst in jeglicher Gestalt,
    toto mich selbst — oh, höchste Angst! 一 in Tausender Gestalt.“
    Stekel.

    Masken der Homosexualität,

    Als eine sehr häufig anzutreffende Maske der Homosexualität habe ich die
    Liebe zu einer Frau beschrieben, deren Mann man liebt, Es ist dies der bekannte
    Umweg über das Weib. Maupassant, der feine Psychologe, schildert in der
    Novelle Misti, die sich in dem gleichbenannten Novellenbande als erste befindet,
    einen Don Juan, der nur verheiratete Frauen lieben kann, deren Männer ihm gefallen.
    Er hat einen wahren Abscheu vor Mädchen. „Es ist eine Schwäche“ — führt er aus
    — „aber ich gestehe sie freimütig. Ich habe aber noch eine Schwäche: Ich liebe die
    Männer meiner Maitressen. Ich bekenne auch, dass gewisse kommune oder prahlerische
    Gatten mir ihre Frauen verekeln, mögen sie noch so scharmant sein. Aber wenn
    der Ehemann Geist hat oder den Zauber der Persönlichkeit (,charme“), dann werde
    ich unfehlbar wahnsinnig verliebt. Ich bewahre mir die Freundschaft des Mannes,
    wenn ich mit seiner Frau breche. Auf diese Weise habe ich meine besten Freunde
    gewonnen. Auf diese Weise konnte ich viele Male die Uberlegenheit des Mannes iiber
    das Weib konstatieren. Diese macht dir alle mögliche Verlegenheiten, Szenen, Vor-
    wiirfe; jener behandelt dich wie die Vorsehung seines Hauses, obgleich er wirklich
    ein Recht hätte, sich zu beklagen.“ Diese Zeilen sprechen deutlich genug. Übrigens
    findet sich in dem Novellenbande Misti noch eine Reihe feiner psychologischer
    Details, auf die ich gelegentlich noch zurückkommen werde. Stekel.

    Aus Theodor Fontane's Werken. Glaubst du denn, dass Mutter und Vater
    ausserhalb aller Kritik stehen?“ — „Wenigstens ausserhalb der ihrer Kinder.“ —
    „Mit nichten. Im Gegenteil. Die Kinder sitzen überall zu Gericht. Still und uner-
    bittlich.“ Dr. Theodor Reik,

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    260 Varia.

    Psychoanalytische Momentbilder aus dem Alltagsleben,

    Die Schwester einer Malerin klagte über Leibschmerzen und legte sich aufs
    Sofa in die Position, die ihr am meisten Erleichterung gab: etwas gekrümmt, mit
    angezogenen Beinen, den Rücken gegen den Beschauer gekehrt. Der Malerin schien
    die Lage charakteristisch und sie fixierte dieselbe in einer Skizze, von der sie nicht
    besonders viel hielt, die sie aber doch mit andern Bildern nach Berlin zur Ausstellung
    sandte. Zum eigenen Erstaunen der Künstlerin wurde die Skizze zur Ausstellung
    angenommen, während nach ihrer Ansicht wertvollere Sachen zurückgewiesen wurden.
    Ein biederer Mecklenburger kam mit Frau und Tochter vor das Bild und rief voll Ent-
    zücken: „Ach, sieh’ da, ein hübsches Bild. Siehst Du, die liegt einmal richtig.“ Und
    er kaufte die Skizze sofort, ohne wahrscheinlich zu ahnen, wie viel er mit dem
    Ausruf verraten hatte. — Vielleicht haben bei der Jury ähnliche Seelenstimmungen
    die Annahme des Bildes bewirkt.

    In einer jungen Ehe besteht ein tiefes Zerwürfnis zwischen den Gatten. Das
    kleine, 16 jährige Dienstmädchen verrät ihr Verständnis der Sachlage und ihre Lebens-
    kenntnis sehr hübsch, indem es beim Tischdecken mit Vorliebe vergisst, dem Haus-
    herrn ein Obstmesserchen zu geben und indem es überdies gleichzeitig einmal der
    Hausfrau kein Wasser in die Fingerschale gibt. Dr. Marg. Stegmann.

    Eine bezeiehnende Symptomhandlung.

    Eine meiner analytisch behandelten Patientinnen dringt auf eine genaue Unter-
    suchung der inneren Organe, was ich ablehne. Ihre Magenschmerzen seien psycho-
    gener Natur und bedeuteten die Ablehnung einer bewusstseinsfremden peinlichen
    Vorstellung. Die Kranke besteht auf Untersuchung und droht, sie werde sich einen
    anderen Arzt holen lassen, was ich ihr freistelle. Sie lässt in der Tat um einen Arzt
    telefonieren, erkundigt sich beim Hotelier über die Grósse des Honorars und steckt
    einen Zehnkronenschein in ein Kuvert hinein. Während der Untersuchung des Arztes
    bereut sie den Schritt, hört sehr zerstreut auf seine Ausführungen und denkt: Wozu
    habe ich mich mit diesem Ignoranten eingelassen? Der Arzt gibt ihr genaue Diät-
    vorschriften und ein Rezept. Sie geht ins andere Zimmer und bringt das Kuvert
    mit der Banknote. Der Arzt dankt hóflich und óffnet vorsichtigerweise das Kuvert
    auf der Stiege. Sein Erstaunen und seme Entrüstung waren grenzenlos, als er in
    dem Kuvert seine Diütvorschriften und das Rezept aber kein Honorar findet. Er
    kommt zurück und verlangt Aufklirungen. Die Dame entschuldigt sich. Sie habe
    in der Aufregung die beiden Kuverts verwechselt. In Wahrheit hatte sie nur ein
    Kuvert und — erzählte mir den Vorfall am nächsten Tage mit der richtigen Deutung:
    Sie hatte nämlich die Zehnkronennote in die Tasche gesteckt, wo eine Visitenkarte
    von mir lag... Stekel.

    Liébeault über die Rolle des Unbewussten bei psychischen Krankheitszustinden.

    Liébeault, dem wir die Begründung unseres heutigen Wissens über die
    Hypnose verdanken, entwickelt in seinem trefflichen Werke: ,Le sommeil provoqué
    etles états analogues*, Theorien, die wie eine Vorahnung psychoanalytischer Erkennt-
    nisse klingen. Sie verdienen wörtlich zitiert zu werden:

    „Une émotion . . ., une fois développée, ne s'éteint pas en même temps, que
    "idee qui en est la cause occasionnelle; elle persiste même, lorsqu' une seconde idée
    affective et contraire vient lui succéder... Il nous arriva, une nuit, de nous reveiller
    avec un sentiment de peur, sans en connaitre la cause; ce sentiment n'était, sans

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    doute, qu’ un ébranlement, suite de l’émotion d’un rêve dont les idées étaient déjà
    effacées de notre pensée.“ (l. с. p. 138.)

    „On a avancé que les émotions, les sentiments etc, peuvent naître sans des
    idées qui les reveillent, et qu'ils ne tiennent de ses idées leurs caractères spéciaux.
    Pour soutenir ce paradoxe, on s'est basé sur ce que des hypochondriaques, des épi-
    leptiques, des maniaques ont assuré éprouver le sentiment de la peur sans motif.
    Il en était du sentiment de ces malades, comme de leur es halluci-
    nations; il prenait son origine dans une inconscience de sa cause
    et dans des réveries dont ils avaient perdu le souvenir*'). (l.c. р. 140).

    Diese Theorien konnte Liébeault allerdings in Ermangelung unserer analy-
    tischen Hilfsmittel nicht durch Beweise unterstützen. Liébeault's Arbeiten stammen
    aus dem Jahre 1866. Das zitierte Werk schrieb er in 1888. Ferenczi.

    Ein Schreibfehler als Antwort auf einen anderen.

    Ein Mädchen meiner Bekanntschaft korrespondiert während des Sommers mit
    einer jungen Freundin, gegen die ihr Gefühl in hohem Masse zwiespåltig ist. Einmal
    widerfihrt es ihr, dass sie der gewohnten Anredeformel „Liebe Anna!“ statt eines
    Ausrufungszeichens ein Fragezeichen hinzusetzt und den Brief abgehen lässt, ohne
    den Irrtum zu bemerken. In dem Antwortschreiben macht die Freundin sie auf ihr
    Versehen aufmerksam und begeht wenige Zeilen später selbst ein anderes, welches
    beweist, dass jener psychischen Instanz, durch die es verursacht wurde, auch das
    Verständnis für die Motivierang des fremden Schreibfehlers nicht abging. Die Brief-
    schreiberin beklagt sich nämlich über den Mangel an Zuneigung und Liebe, den sie
    bei ihren Verwandten fühle und schreibt von ihnen: „so kalt sind sie“ — verschreibt
    aber das „sie“, indem sie ihm einen grossen Anfangsbuchstaben gibt.

    Dr. Hans Sachs.

    Zur Frage der Sehüdliehkeit der Onanie.

    Dem „Buch vom gesunden und kranken Menschen“ von Dr. C. E. Bock,
    weiland Professor der pathologischen Anatomie in Leipzig, entnehme ich die folgen-
    den Stellen. Wann das Buch erschienen ist, ist mir nicht bekannt. Ich weiss nur,
    dass es um das Jahr 1870 schon ein altbeliebtes Hausbuch war. Die mir vorliegende
    sechzehnte Auflage (neu bearbeitet von Dr. W. Camerer, Oberamtsarzt in Arach)
    stammt aus dem Jahre 18982).

    „Dass durch dieselbe die Lebensfrische eines guten Teiles unserer jetzigen
    Generation schon in der Jugend untergraben wird, ist gewiss, allein dass die
    FolgenderOnanie so schlimm wären, wie sie invielen Biichern
    geschildertwerden,istun w hr. Schon oft wurden durch diese übertriebenen
    Schilderungen Personen, die früher einige Zeit der Onanie ergeben waren, ganz un-
    nützerweise in Angst und Verzweiflung gebracht. — „Das Unvermägen zum
    Beischlaf bei solchen, die früher Onanie getrieben haben, ist
    meist eineFolgederMelancholie unddes Misstrauens auf ihre
    eigene miinnliche Kraft, welches vielen Onanisten eigenist,
    und verschwindet in der Ehe, bei regelmissigem Geschlechts-
    verkehrin solchen Fällen stets.“ 一 „Es ist daher nichts verkehrter, als
    die Onanisten barsch zu behandeln und als die ärgsten Sünder zu betrachten.“ —
    „Nicht genug kann bei Knaben vor heftigen und häufigen Rutenhieben auf den

    1) Vom Ref. gesperrt.

    2) Ebenda 8. 440: „Die Eindrücke der Jugend sind die wichtigsten und können
    oftmals die bewegenden Ursachen aller Handlungen für das ganze Leben werden,“

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    Hintern gewarnt werden, weil diese einen sehr grossen Reiz auf die Zeugungsteile
    erregen und so zur Onanie verleiten, wie die Geständnisse vieler Onanisten beweisen.“
    — „Wichtiger sind die psychischen Störungen der Onanisten. Die meisten kämpfen
    gegen ihre Unart an, aber häufig genug erfolglos. Gewissensbisse, Furcht vor Ent-
    deckung, vor Strafe und Schande, Verbergung des Hanges durch Lüge und sonstige
    unerlaubte Mittel, dazu immer wieder die Begierde nach dem Genuss machen
    den Geisteszustand eines in jugendlicher Entwicklung befindlichen Menschen zu
    einem sehr unglücklichen und hemmen seine gesunde Entwicklung in den meisten
    Fällen erheblich. Dazu kommt noch der Einfluss populärer Schriften über Onanie,
    welche die Folgen desselben in massioser Weise übertreiben.“ — „Denn die Onanie
    ist an sich dem Erwachsenen nicht schädlicher, als der gewöhnliche geschlechtliche
    Verkehr, schädlich ist nur das Ubermass der geschlechtlichen Reizung, in welche
    der Onanist fast immer verfållt, Thm ist die Gelegenheit zur Befriedigung ja so
    viel leichter, als dies beim normalen Verkehr der Fall.“ (S. 818 ff.) Marcus.

    Zum Thema Enuresis, Harnreiztraum, psychisehe Hemmung finde ich eine
    überraschend kenntnisreiche Stelle in dem in der Goethe-Zeit geschriebenen autobio-
    graphischen Roman, betitelt „Anton Reiser“, von B. P. Moritz:

    „Es fällt auch wirklich in der Kindheit oft schwer, das Wachen vom Traume
    zu unterscheiden; und ich erinnere mich, dass einer unserer grössten jetzt lebenden
    Philosophen mir in dieser Rücksicht eine sehr merkwürdige Beobachtung aus den
    Jahren seiner Kindheit erzählt hat.

    Er war wegen einer gewissen bösen Angewohnheit, die bei Kindern sehr ge-
    wühnlich ist, oft mit der Rute gezüchtigt worden. Es hatte ihm aber, wie es auch
    gewöhnlich ist, immer sehr lebhaft geträumt, er habe sich an die Wand gestellt
    und... Wenn er sich nun manchmal bei Tage zu dem Ende wirklich an die Wand
    gestellt hatte, so fiel ihm die harte Züchtigung ein, die er so oft erlitten hatte —
    und er stand oft lange an, ehe er es wagte, einem dringenden Bedürfnis der Natur
    Genüge zu tun, weil er befürchtete, es möchte wieder ein Traum sein, für den er

    wieder eine scharfe Züchtigung erwarten müsste — bis er sich erst allenthalben
    umgesehen und dann auch in Ansehung der Zeit zurückgerechnet hatte, ehe er sich
    völlig überzeugen konnte, dass er nicht träume.“ Dr. E. Hitschmann.

    Der Dichter als Seelenarzt. Der berühmte französische Romancier Marcel
    Prévost legt in einer kleinen Novelle „Der Andere“ dem Helden, einem Arzt,
    folgende Worte in den Mund: „Übrigens habe ich schon früher ziemlich gründlich
    Nervenleiden der Frauen studiert. Ich habe mich überzeugt, dass deren Ursache
    immer ein Liebesgeheimnis, oder eine traurige Geschichte einer sexuellen Anomalie
    ist. Solange der Arzt das Geheimnis nicht erfährt, behandelt er auf's Geradewohl.
    Unsere Kunst besteht darin, die Kranke zu bewegen, uns ihr Geheimnis mitzuteilen.“

    Es ist doch merkwürdig, dass einem Mann, der Nervenleidende nur zufällig,
    vorübergehend, nicht systematisch, laienhaft und nicht professionell beobachtet, Tat-
    sachen nicht entgehen, die Männer von Beruf, Spezialisten, die ihr Leben lang in
    ernster Arbeit dem Studium der Nervenkrankheiten widmen, nicht merken. Alles nur
    auf den Unterschied in der Beobachtungsgabe zurückführen zu wollen, wire doch
    wenig befriedigend. Die Ursachen müssen tiefer liegen und ihre Aufdeckung und
    Darstellung wird einst eine der interessantesten Seiten einer zukünftigen Geschichte
    der Medizin, ja, vielleicht der ganzen gegenwärtigen Kultur sein,

    Dr. M. Wulff.

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    Varia. 263

    Selbsthefriedigung in Fusssymbolik.

    „Es wäre schön,“ sagte mir eines abends ein als gesund geltendes Mädchen,
    „wenn man sich selbst lieben könnte. Da gäbe es keine Sehnsuchtsschmerzen auf
    der Welt, weil man ja sich selbst stets treu bleiben würde.“

    „Passen Sie auf, was Sie diese Nacht träumen werden,“ meinte ich darauf.

    Nächsten Morgen erzählt die junge Dame: „Ich träumte, es wurde mir ein
    menschlicher Fuss zum Essen gereicht, den ich bald als meinen eigenen Fuss er-
    kannte. Ich ass ein wenig mit grossem Widerwillen, weil ich doch nicht anders sein
    wollte, wie die übrigen Menschen, welche, ohne den geringsten Anstoss daran zu
    nehmen, menschliches Fleisch essen. Eine Weile konnte ich mich so überwinden,
    aber dann war die Abscheu doch zu gross: wenn ich den Fuss nicht gesehen hätte
    und nicht wissen würde, dass er ein menschlicher und, noch schrecklicher, mein
    eigener Fuss ist, dann würde ich ihn schon essen. So geht das über meine Kräfte.“

    Der Traum leuchtet jedem als Darstellung der Selbstbefriedigung in Ess-
    symbolik ein, Die Symbolik ist eine der typischen, denn sie ist der Völkerpsycho-
    logie geläufig. Die philogenetische Disposition und entsprechende kindliche Spiele
    (Erlebnisse) dürften das Material zu diesem Traume liefern. Man weiss ja wie gerne
    die Kleinen den Fuss in den Mund nehmen zum Lutschen und in einem gewissen
    Alter wird geradezu Sport damit getrieben, wer noch die Grosszehe in den Mund
    stecken kann. .

    Warum das Mädchen gerade diese und nicht eine andere Symbolik zur Dar-
    stellung der Selbstbefriedigung り wählte 一 darüber könnte nur eine genauere Ana-
    lyse Auskunft geben. Dr. S. Spielrein.

    Psychologisches aus der Kinderstube.

    Ein fiinfjihriger Junge kommt zu einer Dame auf Besuch, deren Mann soeben
    nach einer lingeren Mastkur aus einem Tuberkulosesanatorium zuriickgekehrt ist.
    Der Mann hatte 32 Pfund zugenommen und sah auffallend dick aus. Der Junge
    starrt den Mann lange verwundert und misstrauisch an. Dann zieht er die Dame
    in ein anderes Zimmer und sagt ihr heimlich ins Ohr: Tante — weisst du, der Onkel
    wird dir bald einen Jungen bringen. Deshalb ist er krank und wird immer dicker.
    Immer dicker, bis er so dick wird, so dick, dass er platzt. Denn musst du ihn ins
    Bett legen und darfst nicht hineingehen, bis das Kind dich ruft. So wars auch bei
    Mama, als Bubi kam... Margarete Petersen.

    Der Herr Major kommt nach lingerer Abwesenheit zu seiner Frau auf Besuch.
    Die kleine Marie erkennt den Papa nicht. Papa sitzt bei der Mama und streichelt
    ihre Hand. Marie sieht eine Zeitlang zu, dann geht sie auf Papa zu, zieht die Hand
    weg und versucht in ungeschickter Weise das Streicheln nachzumachen. Thre Miene
    drückt deutlich aus: Die Hand gehört mir, das ist meine Mama! Stekel.

    Goethe soll an Pavor nocturnus gelitten haben, wenn man den Berichten
    der Bettina von Arnim trauen darf. Auch scheint er den Tod seines Bruders
    mit innerer Genugtuung begrüsst zu haben. Wir finden in den Briefen Bettinas an
    Goethe folgende zwei sehr interessante Stellen:

    „Von seiner (Goethe's) Kindheit — wie er schon mit 9 Wochen ångstliche
    Träume gehabt, wie er allerlei sonderbare Gesichter geschnitten und wenn er auf-

    ia Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Midchen in der Kindheit was ,ge-
    sehen“ hat. Ich wollte sie nicht dariiber ausfragen.

  • S.

    264 Varia.

    gewacht, in ein sehr betriibtes Weinen zerfallen, oft auch sehr heftig geschrien hat,
    so dass ihm der Atem entging und die Eltern fiir sein Leben besorgt waren; sie
    schafften eine Schelle an; wenn sie merkten, dass er im Schlaf unruhig ward,
    schellten und rasselten sie heftig durcheinander, damit er bei dem Aufwachen gleich
    den Traum vergessen móge....*

    „Sonderbar fiel es der Mutter auf, dass er bei dem Tod seines jüngeren Bruders
    Jakob, der sein Spielkamerad war, keine Tråne vergoss, er schien vielmehr eine Art
    Ärger über die Klagen der Eltern und Geschwister zu haben. Da die Mutter nun
    acht Tage nachher den Trotzigen fragte, ob er den Bruder nicht lieb gehabt habe,
    lief er in seine Kammer, brachte unter dem Bett hervor eine Menge Papiere, die mit
    Lektionen und Geschichtchen beschrieben waren, er sagte, dass er dies alles ge-
    schrieben habe, um es dem Bruder zu lehren!“ M. P.

    Redaktionelle Mitteilung.

    Um Missverståndnissen und Reklamationen vorzubeugen,
    machen wir aufmerksam, dass die Beitråge von Reik, Ferenczi,
    Hitschmann, Sachs, Spielrein schon gedruckt waren, als diese Autoren
    ihre Mitarbeiterschaft bei dem „Zentralblatt får Psychoanalyse“ zurückzogen. Wir
    sprechen allen Kollegen, welehe die Sezession nicht mitgemacht
    haben und allen jenen zahlreichen objektiven Forschern, die uns
    ihrer aktiven Unterstützung und Sympathie versichert haben, bei
    dieser Gelegenheit unseren herzlichsten Dank aus.

    Von unserem russischen Kollegen Dr. W.N. Lichnizki (Odessa) ist im
    Verlage der Zeitschrift „Therapeutische Revue“ eine Broschüre erschienen, die sich
    „Psychotherapie und Psychoanalyse“ betitelt. Wir werden auf das kleine fesselnde
    Büchlein, das uns beweist, wie mächtig ‘das Interesse für die Psychoanalyse in
    Russland ist, noch zurückkommen.

    Ein Institut für Kriminalpsychologie soll nach einer Vorlage des Parlamentes
    in Frankreich geschaffen werden. Dies Institut soll die Psychologie der Verbrecher
    studieren, wobei ihre Herkunft, ihre Konstitution, ihr ethischer Besitzstand und die
    Einflüsse des Milieus berücksichtigt werden sollen. Durch diese Forschungen, die
    von einer genauen Statistik unterstützt werden, hofft man die Gesetze zu ergründen,
    welche die Entwicklung der Kriminalitit beherrschen. So hofft man dann auch zu
    prophylaktischen Gesetzen und Massnahmen zu gelangen, um die stetig anwachsende
    Kriminalität erfolgreich einzudämmen.

    Vom Oberarzt der Bleuler’schen Klinik in Burghölzli, Herrn Dr. Hans W.
    Maier ist im Verlage von Julius Springer in Berlin die Habilitationsschrift „Über
    Katathymie, Wahnbildung und Paranoia“ erschienen. Ein ausführliches Referat er-
    scheint in einer der nächsten Nummern,

    Aus Versehen ist in dem letzten Hefte der Autor des III. Heftes der Schriften
    des Vereines für freie psychoanalytische Forschung ,,Bergsons Philosophie der Per-
    sönlichkeit und das Persönliehkeitsideal* nicht genannt worden. Es ist dies Dr.
    Paul Schrecker, den unsere Leser in diesem Hefte auch als Mitarbeiter des

    Zentralblattes kennen gelernt haben.