Varia [August 1913] /1913
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    556 Referate und Kritiken.

    rezidivierten. Wer die iibermoralische Tendenz der Impotenz einmal entschleiert
    hat, der wird sich hüten, die Neurotiker in so schwere Konflikte zu bringen. Das
    machten schon die Arzte der alten Schule. .

    Ich schliesse: Das Büchlein von Steiner ist überflüssig für den Fachmann
    und gefährlich für den Nichtfachmann. Es könnte ihn leicht verleiten, seine Fälle
    von Impotenz psychoanalytisch anzugehen und ihnen mit der stumpfen Waffe des
    Inzestkomplexes (der sicherlich eine gewisse — aber nur eine gewisse Rolle spielt),
    an den Leib zu rücken. Es könnte sio verleiten, Analyse zu treiben und sich die
    Sache leichter vorzustellen, als sie in Wahrheit ist. Das Buch über die „psychischen
    Störungen der männlichen Potenz“ muss erst geschrieben werden. Stekel.

    Varia.

    Ein erotisches Gedicht von Mozart,

    In seiner soeben erschienenen Mozart-Biographie (Schlesische Verlagsanstalt
    [vorm. Schottlaender] G. m. b. H. in Berlin W, 85) gibt Dr. Leopold Schmidt
    ein ansprechendes Bild von des grossen Meisters harmlos-frghlichem Gemüt. Eine
    lustige Kumpanei fand ihn stets bereit, insbesondere jeder Mummenschanz,
    Maskeraden, Komödien und Redouten waren so recht nach seinem Gusto. Da konnte
    er, ein echter Süddeutscher, Geschäftigkeit und Phantasie entwickeln und seinem
    Hang zu Foppereien die Ziigel schiessen lassen. Da erwachte auch in ihm der Ge-
    legenheitsdichter und Improvisator. Wie fein er seine Spåsse gelegentlich pointieren
    konnie, zeigt folgendes Gedicht, das er zur Hoehzeit seiner Schwester (18. Aug. 1784)
    verfasste:

    Du wirst im Eh’stand viel erfahren,

    was dir ein halbes Riitsel war,

    bald wirst du aus Erfahrung wissen,

    wie Eva einst hat handeln miissen,

    dass sie hernach den Kain gebar,

    Doch, Schwester, diese Eh'standspflichten
    wirst du von Herzen gern verrichten,
    denn, glaube mir, sie sind nicht schwer.
    Doch jede Sache hat zwo Seiten:

    der Eh'stand bringt zwar viele Freuden,
    allein auch Kummer bringet er.

    Drum, wenn dein Mann dir finstre Mienen,
    die du nicht glaubtest zu verdienen,

    in seiner üblen Laune macht:

    so denke, das ist Månnergrille,

    und sag: Herr, es gescheh’ dein Wille
    bei Tag — und meiner in der Nacht!

    Die Wiener Kunstzeitschrift „Der Merker“, der wir diese Notiz entnehmen,
    leistet sich einen artigen Druckfehler, der beweist, an was der Setzer wåhrend seiner
    Arbeit denken musste. Es steht dort statt Mummenschanz 一 Mummen-
    schwanz zu lesen . . . ・ Stekel.

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    Varia. 557

    Edmond Rostand über die Entstehung des „Cyrano“,

    (Der grossnasige Held, als Werber für die Liebe eines andern.)

    ... Auf eine ganz merkwürdige Weise aber kam die Gestalt zu jenem charak-
    teristischen und schönen Zuge, dass der grossnasige Held der Freiwerber für die
    Liebe eines anderen wird. „Ich verbrachte“, so erzählte Rostand, „in einem Sommer
    meine Ferien in Luchon. Einer meiner Freunde war in eine junge Dame verliebt,
    mit der er sich verloben sollte. Aber in Gesellschaft des jungen Mädchens war er
    immer so bedriickt und verlegen, dass er kaum ein Wort stammeln konnte.
    „Willst du mir helfen?* kam er eines Tages zu mir. „Willst du für mich mit
    meiner Braut, mit ihrer Familie sprechen?" Ich ging darauf ein. Mehr noch! Ich
    instruierte meinen Freund. „Tue dies! Unterlasse jenes. Sprich so...“

    Eines Tages traf ich den Vater der Braut. Wir plauderten den ganzen Weg
    entlang. Plötzlich sagte mein Begleiter zu mir; „A propos! Wissen Sie, dass Ihr
    Freund durchaus nicht so dumm ist!“ Ich war hochbeglückt für meinen Ereund.
    Und da kam es plótzlich in mir auf, das Problem! Der, der für den andern
    spricht.... Die Gedanken flogen mir zu. Sie reihten sich aneinander. Ich
    dachte: „Wenn ich nun auch in dieses junge Mädchen verliebt wäre...
    Und... Und wenn ich hässlich wäre, missgestaltet? . . , Ah! Wie Cyrano , . .%

    Das war der Lichtstrahl, der mich durchzuckte. Cyrano war gefunden.
    Mein Cyrano hatte Gestalt angenommen, Ich hatte ihn nur noch zu schreiben.

    Birstein.

    Ad hoc! Hier scheint recht deutlich das prinzipielle Problem der Neurose
    aufgedeckt zu sein und zwar als eine unterbewusste Losung: ,Strebe nach Macht,
    erreiche den Sieg, aber unter bestimmter Bedingung — der ev. Niederlage (,Furcht
    vor der Frau“, Adler) ausweichen zu können,“ Deshalb die indirekten, tastenden,
    zógernden, neurotischen Symptome des gehemmten Aggressionstriebes, der das
    passive Verhalten in einer konstruierten Souffleurrolle dem Cyrano, die einzige
    Möglichkeit fürs Handeln in der Richtung seines neurotischen Charakters zur Ver-
    fügung stellt. B.

    Ein Traum Julius Caesars.

    Über Cajus Iulius Cäsar wird berichtet:

    Als Quästor fiel ihm die Provinz Hinterspanien zu. Während er dort im Auf-
    trage des Prütors dio Kreistage, um Recht zu sprechen, bereiste, fiel ihm bei seiner
    Ankunft in Gades der Anblick einer Statue Alexanders des Grossen bei dem dortigen
    Herkulestempel schwer aufs Herz, und gleichsam als sei er überdrüssig seiner Taten-
    losigkeit, weil er, wie er sich ausdrilekte, noch nichts Denkwürdiges vollbracht habe
    in einem Alter, wo Alexander bereits den Erdkreis erobert gehabt habe, forderte er
    dringend sofort seine Entlassung, um sobald als möglich jede günstige Gelegenheit
    zu grösseren Unternehmungen in der Stadt benützen zu können. Zugleich spornten
    Traumdeuter, als ein Traumbild der folgenden Nacht ihn verwirrt hatte (er hatte
    geträumt, er habe seiner Mutter beigewohnt), seine Hoffnungen auf das Ausserste,
    indem sie dies dahin auslegten, dass ihm die Herrschaft der Welt dadurch ver-
    kündigt werde, sintemal die Mutter, die er von sich überwältigt gesehen habe, keine
    andere sei als die Erde, die ja als Mutter aller angesehen werde.

    (Aus: Klassiker des Altertums, herausgegeben von Heinrich Conrad, zwólfter
    Band.) Dr. C. Schneiter.

    Von der Verblendung der Mütter.

    Eine zirka vierzigjåhrige, sehr jugendlich aussehende, schöne Mutter bringt
    mir ihren achtzehnjährigen Sohn, der schon seit vier Wochen an quålendem Kopt-

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    558 Varia.

    schmerze leidet. Der Kopfschmerz trat im Anschluss an eine Influenza auf. Alle
    bisher angewendeten Mittel erwiesen sich als vollkommen machtlos. Antipyrin,
    Phenacetin, Aspirin, Pyramidon, selbst Morphium konnten den unertrüglichen
    Schmerz nicht einmal lindern. Schon dieser Umstand spricht für einen neurotischen
    Kopfschmerz. Immer wieder habe ich das wichtige differentialdiagnostische Symptom
    der Unwirksamkeit aller Analgetika bei den Formen neurotischen Kopfschmerzes
    finden künnen,

    Die Mutter führt in der Schilderung der Kopfschmerzen fort. ,Der Junge
    jammert die ganze Nacht. Ich nehme ihn dann in mein Bett, und er beruhigt sich
    ein bisschen. Aber der Schmerz ist doch so gross, dass er nicht schlafen kann. Wir
    liegen dann beide die ganze Nacht fast schlaflos.*

    Ich sehe ein, dass in diesem Falle die Trennung des Sohnes von der Mutter
    das wiehtigste ist und empfehle sofortige Unterbringung des Jungen in einem Sana-
    torium, aber ohne Mutter.

    Die Mutter willigt schweren Herzens ein. Ich ersuche sie, nach einigen
    Tagen zu mir zu kommen und mir über den Zustand ihres Sohnes zu berichten.
    Sie kommt nach einer Woche und berichtet, der Zustand solle sich allmählich
    bessern, der Sohn könne schon schlafen.

    Nun halte ich ihr vor, dass man achtzehnjährige Söhne nicht ins Bett nehme
    und dass das Verlangen nach den Zürtlichkeiten der Mutter eine der Ursachen
    der Krankheit gewesen.

    Sie protestiert aber energisch gegen die Zumutung, dass ihr Sohn schon
    ein erotisches Gefühl empfinden künne. Ihr Haus sei ein reines Haus, in dem die
    Kinder nie ein unanstündiges Wort gehört hätten, Selbst der zwanzigjåhrige Bruder
    des Kranken sei noch vollkommen unschuldig und küme auch in der Krankheit in

    ihr Bett.
    „Was hat man denn vom Leben, wenn man mit seinen Kindern nicht zärtlich
    sein darf? , . ." ruft sie gekrünkt und entrüstet aus. Schliesslich liess sie sich

    überzeugen und versprach, diese nüchtlichen Zürtlichkeiten zu unterlassen. Denn sie

    gesteht, dass sie des Nachts die ganze Zeit miteinander „sehr zärtlich“ waren...
    Stekel.

    Moderne französische Traumtheorien.

    Es wird unsere Leser gewiss interessieren, wie die angesehensten französischen
    Geister über den Traum denken.. Wir entnehmen die nachfolgenden Ausführungen
    einer Enquete der bekannten franzósischen Zeitschrift ,Je sais tout*. Trotzdem
    Scheinen die guten Psychologen an der Seine nicht eine blasse Ahnung zu haben
    von all den Fortschritten der Traumforschung, die sich an Freud und Stekel
    knüpfen.
    Den Reigen erüffnet der bekannte Professor der Akademie Maurice de Fleury.
    Dr. Maurice Fleury berichtet über die Einziehung der feinsten Ausläufer der
    Neurone.

    . „Die Beschaffenheit des während des Traumes verminderten Gehirnkreislaufes
    ist bekannt. Vor ungefähr 15 Jahren ist über die Einziehung der Ausläufer der
    Neurone geschrieben worden, durch welche der Kontakt und die im wachen Zustande
    bestehende Verbindung aufgehoben wird. Diese Trennung ist für den tiefen Schlaf
    charakteristisch; der Traum wird durch die partielle, zum Teil gestörte
    Wiederherstellung dieser Kontakte veranlasst... Die im schlafenden
    Gehirn während des Träumens vorhandene Energie, welche als ,Influx nerveux“
    bezeichnet wird, zirkuliert in Wellen, die hin- und herlaufen, ungefähr wie Funken

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    Varia. 559

    ein angekohltes Blatt Papier durchdringen, das dann im Feuer verbrennt. Die
    Assoziationen von Bildern und Gedanken sind mangelhaft und ohne Zusammenhang,
    weil der Kontakt zwischen den Neuronen nieht mehr ganz herzustellen ist, und doch
    bleibt noch etwas von Logik bestehen, weil die gebrüuchlichsten Assoziationen immer
    die leichtesten bleiben, selbst wührend des Schlafes.*

    „Dr. Bérillon, der berühmte Psychologe, hält — so lautet der Bericht —
    den Traum für einen Feind und gibt vorzügliche Ratschlüge.*

    „Le sommeil général n'est que l’ensemble des sommeils particuliers.“ (Der
    ganze Schlaf ist nur eine Summe von Teilschláfchen.)

    „Diese Formel von Bichat bezieht sich darauf, dass die verschiedenen Regionen
    des Nerven-Centrums ihren besonderen Schlaf haben und nicht gleichzeitig einschlafen,
    Daraus folgt, dass hestimmte Regionen schlafen oder ruhen, also ihre Tütigkeit ein-
    stellen, wührend andere mehr oder weniger aktiv bleiben. Man glaubt, dass die
    Entstehung der Trüume darauf zurückzuführen ist, dass einer der Gehirnflügel wach-
    bleibt und die vor dem Schlafengehen unterbrochene Arbeit fortsetzt, wührend das
    übrige Gehirn schläft.“

    „Der Traum ist als ein anormaler Zustand zu betrachten. Es ist eine Art von
    kleinem Delirium, der Beweis hierfür ist, dass die Träume im Zustand der Indigestion,
    Intoxikation oder des Fiebers häufiger und lebhafter sind.“

    „Viele Störungen, die man bei nervösen und geistigen Erkrankungen beobachtet,
    besonders fixe Ideen und Zwangsvorstellungen haben häufig in einem Traum ihren
    Ursprung, den die Nacht nicht verwischt hat und der sich nach dem Erwachen fort-
    setzt. Diese Störungen sind immer von Willensschwäche begleitet. Menschen mit
    normaler Willenskraft leiden nicht an fixen Ideen und so ist wohl das beste Mittel
    zur Heilung der fixen Ideen eine Erziehung und Stärkung des Willens.“

    „Das ist eines der hauptsächlichsten Ziele der Psychotherapie. In das Bereich
    der Psychotherapie gehört auch die Kontrolle des Schlafes, seine Hygiene und
    Disziplin, Sie will die Schlaflosigkeit heilen und diejenigen Träume, die den
    Schlummer stören, unterdrücken. Der Traum ist als ein Parasit zu be-
    trachten, gegen den man Krieg führen muss, Wenn die Träume uns
    erschöpfen und unserer Gesundheit gefährlich werden, so muss man zu einer
    methodischen Psychotherapie Zuflucht nehmen, welche durch Stärkung und Pflege
    der latenten Kräfte es denselben ermöglicht, auch während des Schlafes eine Kon-
    trolle und geistige Disziplin auszuüben.“

    „Vielleicht ist es von allgemeinem Interesse, zu hören, dass ich durch ein
    gewisses Training dahingelangt bin, meine Träume zu regulieren, zu schlafen wann
    ich will, zu einer bestimmten Stunde aufzuwachen und nicht zu träumen, wenn
    ich nicht will.“

    „Andererseits kann ich durch mässigen Gebrauch von Kaffee oder anderen
    Reizmitteln Träume hervorrufen. Diese Träume beziehen sich meist auf Situationen,
    in denen ich eine Rolle spiele, und ich habe aus diesen Träumen schon viele An-
    regungen, Gedanken für Vorträge, Artikel und Vorlesungen geschöpft. Um diese
    fliichtigen Ideen festzuhalten, schreibe ich manchmal in halbwachem Zustand einige
    Worte auf ein Blatt Papier. Am nächsten Mcrgen kann ich das Gekritzel oft kaum
    entziffern, Das ist ein Beispiel von der Nutzbarmachung der Träume, Aber ich
    muss zugeben, dass mein Schlaf darunter leidet, Der Schlaf während einer Eisen-
    bahnfahrt hat mir oft ähnliche Dienste geleistet, So kann der Traum, wenn er auch
    meist schädlich ist, doch literarischen und schöpferischen Zwecken dienen, aber nur
    wenn er beaufsichtigt und dirigiert wird.“ .

    Mr. Emile Fagnet sagt: „Ich träume niemals“. „Ich träume niemals,
    es sei denn morgens im Moment des Erwachens, und immer sagt mir dann eine

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    560 Varia.

    innere Stimme: „Du weisst genau, dass du Dummheiten denkst, das macht, weil du
    triumst, wache auf.“

    „Und ich wache auf. Ich bin davon überzeugt, dass man die ganze Zeit, die
    man schläft, auch träumt. Einige können sich an ihre Träume erinnern, andere
    nicht. Letztere haben einen tiefen Schlaf. Ich gehöre zu diesen und kann daher
    über das Träumen keine Aufklärung geben."

    Den Träumer als Feind behandelt M. Edmond Harancourt: „Träumen?
    Nein, nein! Das ist verboten — ich verbiete es mir“.

    „Übrigens kenne ich nur einen Traum, er ist reizend und bleibt sich immer
    gleich: In der Luft schweben, ohne Anstrengung, wie man schwimmt, sich durch
    eine einfache Lage des Rumpfes vorwiirtsbewegen und sich mit den Fussspitzen vom
    Erdboden abstossen — um sich manchmal an einer Wegbiegung an einer grossen
    Mauer zu stossen und zu verletzen,“

    „Ich weiss, dass dieser Traum banal, sehr bekannt, klassisch und klassifiziert.
    ist; ich gebe mich damit zufrieden, erstens weil er physiologisch ein gutes Symptom
    ist und dann, weil ich mich damit begniige.*

    „Denn jeder Traum ist eine unnötige Ausgabe des Organismus,
    eine vergeudete Kraft, Arbeit ohne Zweck.“

    „Er ist ausserdem ein Eingriff in die Rechte des Schlafes. Der Schlaf, der
    eine chemische Wiederherstellung der Gewebe mit sich bringt, ist eine treffliche
    Nahrung fiir dieselben mit Elimination der Toxine.*

    „Träumen heisst: seinen Schlaf schlecht verdauen. Ich habe
    das abgeschafft. Man erreicht es schliesslich. — —“

    Der Traum ist ein Fround. Dies die Ansicht von M. J. Claretie,

    Träume sind Vorboten von Krankheiten oder Unpisslichkeit, sie bilden die
    Vorrede zu unserem Leiden. Man träumt, dass man leidet, und das Leiden ist
    schon da. So öffnet der Traum dem Arzt die Türe, er kündigt seinen Besuch an.

    Träume sind auch manchmal Gehilfen bei der Arbeit. Man findet im Traum
    die Lösung von Fragen, die man im wachen Zustand vergeblich zu lösen suchte.
    Die unbewusste Gehirntåtigkeit findet das, was die bewusste Denkarbeit nicht leisten
    konnte. Dies ist kein regelmiissiger Vorgang, tritt aber öfter ein. Und endlich —
    die spårlichen Schreckbilder abgesehen — wieviel schöne Träume!

    Gérard de Nerval behauptete sogar, das Leben sei ein Traum. Und da er
    den Verstand verloren hatte, war dieser falsche Prophet vielleicht sogar im Recht.

    M. Romain Romain Coolus, der Professor der Philosophie, behauptet:
    Das Problem des Traumes ist so verwickelt, dass es kaum möglich ist es zu erörtern,
    ohne die schwierigsten Fragen zu berühren. Träume sind Zusammenstellungen von
    Bildern, welche in keiner Weise durch die Einmischung des Willens verfälscht,
    sondern genau nach den Gesetzen unserer Vorstellungswelt geordnet sind, Sie
    ergeben deshalb als psychologische Notwendigkeit eine verschwommene Vorstellung
    des Weltalls und sind diesem dadurch in Wahrheit ähnlicher als in der bewussten
    Vorstellung. Aber die richtige Deutung dieser dunkeln Kunde wird
    uns noch lange, vielleicht für immer verborgen sein.

    Wir lassen ein neues Bild folgen: Pierre Loti's geheimnisvolle Hol-
    länderinnen.

    Pierre Loti erwähnt, dass er in „Figures et choses qui passaient“ einen
    Traum erzählt hat, in dem er ein unbekanntes junges Mädchen in einem ihm fremden
    Haus sieht. Einige Jahre später hörte er, dass sein Grossonkel in Guadeloupe ein
    Haus besass, das nach der Beschreibung mit dem Haus, von dem er geträumt hatte,

  • S.

    Varia. 561

    identisch war, und dass dieser Grossonkel eine Tochter hatte, die das genaue Eben-
    bild des jungen Mädchens war, von der er geträumt hatte.

    Ausserdem erzählte M, Pierre Loti, dass er häufig von Gärten, Menschen
    und Räumen träumte, die er in Wirklichkeit nie gesehen hat. Das kann bei einem
    so weit Gereisten wie Pierre Loti nicht wundernehmen! Wie sollte es nicht
    möglich sein, dass sich unklare Erinnerungen an fremde Linder in der Wirrnis des
    Traumes zu unbekannten, in Wirklichkeit nicht existierenden Ländern verschmelzen?

    Zum Schluss noch ein häufig wiederkehrender Traum des bekannten Schrift-
    stellers: er sieht Frauen in holländischer Tracht, die sich, während er schläft, mit
    verstörter Miene über ihn beugen und mit einem kleinen Hammer sein Gesicht fast
    berühren, als ob sie ihn damit schlagen wollten . . . Pierre Loti wacht auf und
    ist ganz verstort. Er kann den Sinn dieses Traumes nicht deuten. Der einzige
    Anhaltspunkt für diese Halluzination besteht seiner Ansicht nach darin, dass seine
    Vorfahren nach Aufhebung des Ediktes von Nantes in Holland lebten.

    Besonderes Interesse wird die Auskunft von Henry Bergson erregen:

    Tch bemerke Gegenstände, und es ist nichts da. Es ist, als ob Sachen und
    Personen wirklich vorhanden wären, während beim Erwachen alles verschwunden
    ist, Personen und Gegenstände, Welchen Grund hat das? Ist es wirklich wahr,
    dass nichts da ist? Ist eine gewisse, wahrnehmbare Materie nicht unseren Augen
    sichtbar, sowohl während des Schlafes wie im wachen Zustand?

    Wenn man seine Aufmerksamkeit konzentriert, werden allmählich verschiedene
    Dinge sichtbar werden. Zuerst gewöhnlich ein dunkler Hintergrund. Auf diesem
    dunklen Hintergrund leuchtende Punkte, die kommen und gehen, auf- und nieder-
    steigen — oder auch farbige Flecke. Die Physiologen haben sich mit diesem
    leuchtenden Spiel beschäftigt . . . „Spektral-Analyse“ . . . „farbige Flecke“ . . 、
    „Phosphone* sind die Namen, die sie diesen Phänomenen gegeben haben.

    Aber es handelt sich hier nicht um die Erklärung dieses Phänomens oder um
    seine Bezeichnung. Es tritt bei jedermann in die Erscheinung und bildet die haupt-
    sichlichste Materie, den Stoff, aus dem sich unsere Träume zusammensetzen.

    Es gibt also wirklich und uns wahrnehmbar während des Schlafes visuelle
    Keime, welche das feine Gewebe unserer Träume spinnen.

    Was mag sonst noch dazu beitragen? Ausser der angezündeten Kerze in
    unserem Schlafzimmer werden noch andere visuelle Sensationen vorhanden sein...
    Gehörs-Sensationen . . . Gefühls-Sensationen.

    Aber alle diese Angaben sind doch nur das Material unserer Träume. Sie
    würden nicht fähig sein, dieselben hervorzurufen. Was diesem Traum- Material
    Gestalt verleihen konnte, das sind unsere Erinnerungen.

    An diese einleitenden Worte knüpft nun Bergson eine lüngere Auseinander-
    setzung, die sich mit dem Einfluss der Erinnerung auf das Unbewusste beschäftigt.
    Von allen französischen Autoren hat der grosse Philosoph — wie vorauszusehen
    war — die beste Kenntnis von dem Wesen des Traumes:

    „Die Natur entwirft menschliche Körper nur in allgemeinen Umrissen. Allein,
    aus eigener Kraft wird sie nicht bis zum åussersten Punkt gehen, Seelen leben in
    der Welt der Gedanken. Unfähig selbst zu handeln schweben sie über Zeit und
    Raum. Unter den Kórpern finden sich solche, die durch ihre Art, ihr Sehnen und
    "Trachten mit einer oder der anderen Seele übereinstimmen. Und unter diesen Seelen
    gibt es wieder solche, die sich mehr oder weniger in einem oder dem andern dieser
    Körper wiedererkennen werden. Der Körper, der nicht ganz lebensfühig aus den
    Hiinden der Natur hervorgeht, lehnt sich gegen die Seele auf, die ihm das voll-
    kommene Leben geben wird. Und die Seele, die den Kürper-ansieht und darin wie

  • S.

    562 Varia.

    in einem Spiegel ihr eigenes Bild zu erkennen glaubt, wird durch dies Bild so an-
    gezogen und gefesselt, dass sie sich fallen lässt. Sie fällt, und dieser Sturz ist das
    Leben. Erinnerungen, welche in die Dunkelheit des Unbewussten versenkt sind,
    gleichen diesen Seelen, Andererseits haben unsere nächtlichen Sensationen eine
    gewisse Ähnlichkeit mit diesen unfertigen Körpern. Die Sensation ist heiss, farbig,
    vibrierend, fast lebend, aber unbestimmt. Die Erinnerung ist vollständig, aber
    ätherisch und leblos. Die Sensation möchte eine Gestalt finden, nach der sie ihre
    unbestimmten Konturen formen kann; die Erinnerung würde gern eine Materie haben,
    um sich damit zu erfüllen, sich zu realisieren. Sie ziehen sich gegenseitig an, und
    dies Phantom einer Erinnerung verkörpert sich in der Sensation, die zu Fleisch und
    Blut wird, sich zu einem Wesen entwickelt, das sein eigenes Leben lebt, nämlich
    einen Traum.“

    Wir unterlassen es, aus diesem Traummateriale die verschiedensten Schluss-
    folgerungen zu ziehen. Eines ist betriibend. Die Franzosen leben in wissenschaft-
    licher Hinsicht auf einer Insel, zu der nur die letzten Wellen der grossen Stürme
    gelangen, welche sich jenseits der Insel abspielen. Theda Edelsheim.

    Offener Sprechsaal.
    Zürich, den 18. April 1913.
    Sehr geehrter Herr Redaktor!

    Ich bitte Sie freundlich, folgende Mitteilung in Ihre Zeitschrift aufzunehmen,
    um einen betreffs einer Arbeit von mir sich verbreitenden Irrtum aufzuklären.

    In letzter Zeit ist mir von verschiedener Seite, zuletzt offiziell von Herrn
    Wexberg, Sekretär der Vereinigung für freie psychoanalytische Forschung, mit-
    geteilt worden, dass in Wien im Kreise des Herrn Dr. Adler angenommen wird,
    meine im Jahrbuch fiir psychoanalytisch Forschung (IV. Bd. II. Hilfte) erschienene
    Arbeit „Über die Traumfunktion* sei die Entwicklung von Gedanken, welche
    Dr. Adler vor mir veröffentlicht habe. — „Wir hielten es nicht fiir angiingig, den
    Angriff gegen Sie, der in unserem Kreise erfolgt ist, Ihrem Wissen zu entziehen
    etc.“ heisst es in diesem offiziellen Briefe, in welchem mir das ,Plagiat“ unter
    geschoben wird.

    Zuerst muss betont werden, dass tatsächlich eine ausgesprochene Uberein-
    stimmung zwischen der Adlerschen Auffassung der vorausdenkenden Funk-
    tion des Traumes und der meinigen des Voriibungswertes des Traumes besteht.
    Ich verdanke dem Sekretär obiger Vereinigung eine übersichtliche Parallele der ein-
    schlågigen Stellen in den Arbeiten beider Autoren, welche in dieser Hinsicht sehr
    überzeugend wirkt. — Zweitens stimme ich den ,Angreifenden“ bei, wenn sie be-
    haupten, dass meine angeführte Arbeit (im Jahrbuch) lange Zeit nach dem Buche
    Dr. Adler's erschienen sei. Dr. Adlers Buch „Über den nervúsen Charakter“,
    welches die Hauptstellen über die Traumfunktion enthält, erschien im Mai 1912,
    während mein Aufsatz erst im Februar 1913 veröffentlicht wurde. Es steht auch
    fest, dass Dr. Adler im Jahre 1911 eine Bemerkung über die Traumfunktion in
    einer Fussnote seines Aufsatzes: „Beitrag zur Lehre vom Widerstand“ geschrieben
    hat, welche mir allerdings damals entging. Dieser Aufsatz ist in der 4. Lieferung
    des Zentralblattes (I. Jahrgang) erschienen, ich schätze das Datum des Heftes auf
    März 1911, da dieses die Sitzungsprotokolle der Psych. Vereinigung bis Ende Januar