Varia B [September 1913] /1913
  • S.

    Varia. 629

    sehlechtweg, wie die moderne psychoanalytische Schule sagt) auch aus dem früheren
    vorpsychotischen Seelenleben in die Psychose hinübergenommen werden können,
    Es erscheint mir indessen ganz unzulässig, Mechanismen, wie jene der Dementia
    praecox, die so zweifellos auf die organische Grundlage hinweisen, in solchem Masse
    psychogen herleiten zu wollen, wie dies durch Jung und neuerdings wieder durch
    Bleuler geschieht; und gänzlich unzulässig erscheint es mir, dies durch Hinein-
    deuten in das Benehmen der Kranken, insbesondere aber in die von ihnen geäusserten
    Vorstellungs- und Wahninhalte zu tun.“ A

    „Ich erwähne diese Dinge, obwohl sie zunächst von mehr theoretischer Be-
    deutung scheinen, wesentlich darum an dieser Stelle, weil ja gerade die Lehren der
    Psychoanalytiker gegenwärtig sehr viel von sich reden machen und weil entschieden
    die Gefahr besteht, dass daraus vielleicht therapeutische oder sonstwie prak-
    tische Folgerungen gezogen werden; und die prinzipiellen Folgerungen, die daraus
    gezogen worden sind, sind schon verwirrend genug gewesen, denn sie haben neuer-
    dings wiederum zu einer ungeheuren Ausdehnung des Begriffs der Schizophrenie und
    zu einer weitgehenden Umdeutung der für unsere Psychose so sehr charakte-
    ristischen Vorgänge geführt.“

    „Sicher ist, und das wird nicht einmal von den psychoanalytischen Theoretikern
    bestritten, wenngleich von ihnen nur in gezwungener Weise in ihrem System unter-
    gebracht, dass wir es im Grunde genommen mit einer organischen Geistes-
    störung zu tun haben. Ob es sich dabei um eine insuffiziente Anlage des Gehirns,
    die im Laufe des Lebens manifest wird, handelt oder um eine primäre Blutdrüsen-
    störung, und ob nicht am Ende der weite Begriff der Schizophrenie pathognostisch
    noch in verschiedene Untergruppen aufzulösen sein wird, lässt sich heute noch nicht
    eindeutig beantworten.“ Stekel.

    Ermakow, L'Epilepsie hystérique. (Archives de Neurologie. Février 1918.)
    Der Autor, ein Assistent der psychiatrischen Moskauer Klinik von Rybekow,
    beschreibt die hysterisehe Epilepsie, wie ich sie im ersten Bande des Zentralblattes
    eingehend geschildert habe. Er berichtet auch über günstige Erfolge mit Psycho-
    therapie, als deren wirksamstes Prinzip er die Ubertragung (Reaktion) anzusprechen
    scheint. Eine anregende lesenswerte Arbeit. Als Ursache der Anfille erkennt er
    die Angst an. Diese richtige Beobachtung hat mich ja veranlasst meine Arbeit ,Die
    psychische Behandlung der Epilepsie“ meinen ,Nervúsen Angstzuständen“ einzureihen.

    Stekel.

    Varia.

    Gibt es denkende Pferde?

    Diese Frage beantwortet in den ,Kavalleristisehen Monatsheften der unsern
    Lesern schon bekannte Kavallerist und Physiologe Stephan v. Maday verneinend :

    „Dass das Pferd niedere („psychologische“) Begriffe bildet, hielt ich für
    möglich, doch für unbewiesen. Wie ungeheuer ist aber der Abstand eines solchen
    Begriffes (der darin besteht, dass es z. B. einen noch nie gesehenen Menschen in
    die Klasse „Mensch“ einreiht, das heisst als so etwas wie die anderen; ihm be-
    kannten Menschen erkennt) von dem höheren („logischen“) sprachlich festgelegten
    Begriffe! Wir haben zu vielen Pferden jahrelang geredet, und doch merkten wir
    niemals, dass irgendeines eine Spur von solchem Verständnis verraten hätte. Immer

  • S.

    630 Varia.

    nur wurden unsere Worte als Zeichen für bestimmte Bewegungen oder für bestimmte
    Erwartungen genommen.

    Ist aber ein echtes Wortverständnis kaum anzunehmen, so ist die Verbindung
    von Worten zu Sätzen noch in viel höherem Masse unglaublich. Was mich betrifft,
    so würde ich einem Pferde nie zumuten, Verbindungen wie „rechter Fuss“ und
    „linker Fuss“ aufzufassen, Immer würde dem Pferde nur die Lautfolge ,Rechter-
    fuss* eine bestimmte Bewegung bedeuten, während die Lautfolge ,Linkerfuss* das
    Zeichen für eine andere Bewegung würe. Niemals würde es daraufkommen, dass
    diese beiden Kommandos etwas Gemeinsames enthalten und dass der Begriff ,Fuss*
    von den Begriffen ,Rechts* und ,Links* unabhüngig ist. Denn wenn das Pferd so
    weit kommen würde, so könnte man die Begriffe „Rechts“ und „Links“ unabhängig
    vom Fusse gebrauchen und ohne besondere Dressur mit anderen Begriffen
    verbinden, so dass das Pferd z. B. Kommandos wie ,Kopf rechts*, , Wendung links*
    Sofort verstehen würde, wenn ihm vorher die Begriffe Kopf, Wendung auf dieselbe
    Art beigebracht worden würen. Warum ist denn die von Decroix ausgeschriebene
    Konkurrenz gescheitert? Weil die Pferde nicht einmal die Kombination der sehr
    einfachen Kommandos „hi“, „ha“, „he“ und „ho“ erlernen konnten.

    Wenn mich mein Pferd versteht, wenn es so schnell zulernt, wie Professor
    Kraemer schildert (Man sagt z. B.: „Ich finde es schön. Nun sage mir etwas!“
    — „Ig find Hahn schön“), so lehre ich es nicht Potenzieren und Radizieren“, sondern
    »Halben Travers“ ohoe Hilfengebung. Oder ich sage ihm: „10 Schritte Trab, dann
    Halt, dann ② Schritte rückwärts marsch!“ usw. Oder ich gebe ihm Aufirige wie:
    „Hole mir aus meiner rechten Tasche das Taschentuch und gib es im Stalle dem
    Wärter!“ „Geh ins Nachbarhaus und klopfe mir dann am Trittbrett die Namen der
    Personen, die du im Hause getroffen!“ Ja, gäbe es bloss eine Menschenseele in
    einem Pferdehirn, so könnte man Pferde zum Patrouillendienst ausbilden und der
    Reiter könnte als unbequeme Last daheim bleiben.

    Hätte aber Herr Krall, der doch sonst nicht auf den Kopf gefallen ist, nur
    einen geringen Teil solcher wahrhaft verständiger Leistungen erreicht, so würden
    die Reiter und Fahrer, die Reitlehrer und Kunstreiter ihm zu Füssen sitzen, um die
    epochemachende Methode von ihrem Erfinder zu erlernen, Hunderte, ja Tausende
    von Pferden würden ihm anvertraut, es gäbe eine wahre Hohe Schule für Pferde,
    und das Gold würde in Strömen in die Krallsche Kassa fliessen, Er aber würde
    im Viergespann, ohne Zügel, ohne Peitsche spazieren fahren und das Volk würde
    vor ihm in die Knie sinken oder aber sich wie vor dem Teufel bekreuzigen, wenn es
    den Mächtigen mit milder Stimme zu seinen Rossen reden hört: „Jetzt etwas lang-
    samer! Achtung auf die kleinen Kinder, die da über die Strasse laufen! Bei der
    nächsten Strassenkreuzung werden wir rechts wenden! Jeder von euch bekommt
    heute abend die dcppelte Portion Hafer!“ Dr. W. B.

    Symbolik im Traum: Geliingnis-Ehebett.

    Ich soll ins Gefängnis kommen, habe grosse Angst und weine
    sehr. Dabei habe ich die bestimmte Empfindung, dass ich nur um
    des Scheines willen weine, eigentlich gar nicht traurig bin. Ich
    sehe in das Gefängnis hinein. Es sind zwei nebeneinanderstehende
    Betten, ein Ehebett. Ich weiss, dass ich in das rechtsstehende
    komme.

    Am Abend war in der Pension viel über Gefängnis gesprochen worden. Eine
    Dame erzählte viel vom Weiberzuchthaus, an dem ihr Mann Anstaltsgeistlicher
    gewesen war. Die Träumerin zeigte so auffallend viel Interesse, dass es die An-

  • S.

    Varia. 631

    wesenden amiisierte. Als sie erfuhr, dass es für sie geeignete Stellungen im Ge-
    fingnis gäbe, erkundigte sie sich nach allen Einzelheiten und beschloss, sich zu
    melden, Der Traum erfüllt ihr den Wunsch, im Gefängnis zu sein und enthüllt zu-
    gleich die unbewussten Wünsche, die sie im Wachen leiteten. Das ausgesprochen
    rechtsstehende Bett zeigt ihren Wunsch nach einer legitimen Verbindung. Die
    Ursache war ein Gespräch über illegitime Beziehungen, das ich mit der Trüumerin
    nach den Gefångnisunterhaltungen hatte. Wir sprachen über die heutige Schein-
    moral, und ich wies sie auf das Marcinowski'sche Buch: Der Mut zu sich selbst.
    Der Traum führt alles aufs schönste aus. Sie ist mutig (wie jene Zuchthausweiber
    die sie im geheimen bewunderte), nimmt die Folgen auf sich, kommt ins Gefängnis,
    aber das Gefängnis, da sie gefangen genommen wird, ist das Khebett. Sie braucht
    nicht traurig zu sein,

    Sie weint „um des Scheins willen“. Die Träumerin ist Neurotiker, die sich
    manchmal im Affekt ihrer Schauspielkunst bewusst wurde wie im Traum, Sie hatte
    in ihrer Krankheit viele Zuchthausphantasien durchlebt. Sie hatte sich von Menschen
    zurückgezogen, denn sie hatte die Angst, erkannt und ins Zuchthaus gebracht zu
    werden. Der Traum zeigt uns, dass diese Angst die heisse Sehnsucht war, gefangen
    genommen zu werden als Weib. Hedwig Schulze.

    Noch einmal: Leonardo da Vinci nach dem Roman von Meresehkowski.

    Kurz vor seinem Tode begann Leonardo ein eigentümliches Bild zu malen:

    „Unter einem Vorsprung überhüngender Felsen, im kühlen Schatten, unter
    blühenden Grüsern sass mit übereinander geschlagenen Beinen der rebenumkränzte
    Gott, der langhaarige, frauenhafte Dionysos mit blassem und abgespanntem Gesicht,
    mit dem Pantherfell über den Schultern und dem Thyrsososstab in den Händen.
    Gesenkten Hauptes lauschte er, gespannt, erregt, mit dem Finger auf die Richtung
    weisend, woher die Tone kamen, — vielleicht dem Gesang der Mänaden, dem ent-
    fernten Donner oder der Stimme des Gewaltigen, vor der alles Lebendige in Schrecken
    floh.“ Unter der Symbolik der Ortlichkeit erkennen wir die weiblichen Genitalien.
    Nur einmal in seinem Leben hat Leonardo an dieser Ortlichkeit geweilt: bei seiner
    Geburt. ,Langhaarig, frauenhaft“ deutet auf Leonardo. Der Finger, das männliche
    Glied, weist die Riehtung, woher die Tóne kommen. Aber nie war er der Richtung
    gefolgt. ,Gespannt und erregt“ hatte auch er die Töne vernommen, die sein ganzes
    spiteres Leben durchzitterten. In jener Mondscheinnacht vor dem Abschied von
    Monna Lisa waren sie erklungen: ,Wer fróhlich sein will, nutze die Stunden*. Wie
    ein Ruf des Schicksals erklang ihm der Vers. Er wusste, er müsse wählen zwischen
    der lebenden und der unsterblichen Monna Gioconda. Aber sein Wille war ohn
    mächtig, er konnte sich nicht entscheiden. — Der Donner deutet auf seinen Vater —
    Bacchus war der Sohn des Donnerers Zeus. „Die Stimme des Gewaltigen, vor der
    alles Lebendige in Schrecken floh* erinnert an seinen Grossvater, vor dessen Zorn
    über den unehelichen Enkel Leonardo in seiner Kindheit fliehen musste. Bacchus
    erscheint. den Menschen als ein Fremdling aus Indien. Pentheus, der Kónig von
    '"Theben, lisst ihn festnehmen und will ihn binrichten lassen, weil er unter dem
    Scheine neuer, bacchantischer Weisheit den Menschen barbarische Geheimnisse, den
    Wahnsinn blutdürstiger, wollüstiger Orgien lehrte. Auch Leonardo ist sein Leben
    lang ein Fremdling unter den Menschen geblieben. Oftmals drohte ihm die Gefahr,
    festgenommen. und hingerichtet za werden, weil man seine wissenschaftlichen
    Forschungen für Teufelskünste hielt, k

    Leonardo liess den Bacchus unbeendet und begann ein neues Bild, ein noch
    eigentūmlicheres, Johannes den Täufer, Er arbeitete an diesem Bilde mit so un-

  • S.

    632 Varia.

    gewohnter Ausdauer und Hast, als ob er fühlte, dass seine Tage gezählt seien. Er
    beeilte sich, in diesem seinem letzten Werke sein allerheiligstes Geheimnis zu offen-
    baren, das er sein ganzes Leben lang nicht allein vor den Menschen, sondern auch
    vor sich selber verschwiegen hatte. ,Der Hintergrund des Bildes erinnerte an das
    Dunkel jener Höhle, das Angst und Neugierde erweckte, und von der er Monna Lisa
    erzählt hatte, Aber die Dunkelheit war nicht undurchdringlich, sondern mit Licht
    vermischt, in das das Dunkel iiberging, wie Rauch im Sonnenlicht vergeht, wie
    die Töne einer entfernten Musik sich in der Stille verflüchtigen. Und wie eine Er-
    scheinung, aber lebendiger als das Leben selbst, trat aus dem Schatten das Antlitz
    und die Gestalt eines frauenhaften, verfiihrerisch schönen Jiinglings hervor, der an
    die Worte des Pentheus erinnerte: „Deine langen Locken fallen über deine zarten
    Wangen; du verbirgst dich wie ein junges Mädchen vor der Sonne und bewahrst
    im Schatten deine weisse Gesichtsfarbe, um Aphrodite zu gewinnen.“ Wenn es aber
    Bacchus sein sollte, warum bekleidete an Stelle des gefleckten Pantherfelles ein
    Gewand aus Kamelhaaren seine Schultern? Warum hielt er an Stelle des Thyrsos
    ein Kreuz aus dem Rohre der Wüste in Händen, das Abbild des Kreuzes von Gol-
    gatha? Und warum wies er, gespannt und erregt, halb traurig, halb spöttisch mit
    der einen Hand auf das Kreuz, mit der anderen auf sich hin, als ob er sagen wollte:
    Es kommt einer nach mir, der ist stärker denn ich, dem ich nicht genugsam bin,
    dass ich mich vor ihm bücke und die Riemen seiner Schuhe löse.“ Nicht erschöpfen
    will ich die Fülle der Symbolik, die sich hier dem erfahrenen Psychoanalytiker
    bietet. Nur andeuten möchte ich einiges, Im Bacchus wie im Johannes erkennen wir
    Leonardo. Wollüstig, genussfroh wird Leonardo durch Sublimierung seiner starken
    Sexualität zum asketischen Johannes. Wie jeder Mensch, so stellt auch Leonardo ein
    Stück Entwicklungsgeschichte dar, die in seinen Bildern zum Ausdruck kommt. Nieder-
    schläge früherer Kultelemente, die in seiner Seele fortleben, nämlich die heidnische
    Sinnenlust verkörpern sich im Bacchus. Entwicklungsgeschichtlich folgt die christliche
    Askese, die im Johannes zum Ausdruck kommt. Das Bild zeigt eine symbolische
    Darstellung seines ganzen Lebens. Drei Momente heben sich besonders hervor: die
    Geburt, der Höhepunkt des Lebens und das Alter. Die Höhle zeigt uns wieder den
    Ort, an dem er nur einmal weilte. Aus dem Dunkel der Höhle und dem Dunkel
    der unehelichen Herkunft kam er, der frauenhafte, verführerisch schöne Leonardo,
    Die Höhe des Lebens führt ihn noch einmal vor das Dunkel der Höhle, aber das
    Dunkel bleibt undurchdringlich. Er entsagt dem Leben zugunsten der Betrachtung,
    Er nahm sein Kreuz auf sich. Um des Kreuzes, der Erkenntnis willen opferte er
    das Naheliegende dem Fernen, das Wirkliche dem Idealen. Wie Johannes in der Wüste,
    so hatte er einsam und keusch unter den Menschen gelebt. Etwas Neues hatte er
    ihnen bringen wollen. Das Schicksal der Menschen wollte er ändern, es auf andere
    Bahnen lenken, auf Jahrhunderte hinaus den Weg der Erkenntnis abkürzen. Nun
    stand er im Alter und — „halb traurig, halb spöttisch wies er auf das Kreuz“.
    Wie er in sexueller Beziehung nie zur Tat geschritten war, so hatte er auch in
    Kunst und Wissenschaft immer nur angefangen, nie beendet. Nicht voll undurch-
    dringlicher Dunkelheit stellte er jetzt die Höhle dar, sondern mit Licht vermischt,
    denn nun kam die Erkenntnis: Er begriff, dass alles das, was er mit anersättlicher
    Neugierde in der Natur gesucht hatte, im Gosichte Monna Lisas enthalten sei, dass
    das Geheimnis der Schöpfung das Geheimnis Monna Lisas sei. — Er ahnte, dass die
    Menschen in der Wissenschaft das suchen würden, was er bereits gefunden, ihm
    auf seinen Wegen, aber an ihm vorüber folgen würden. Er sah, er war der in Ge-
    danken Miichtige, im Leben Schwache gewesen. Darum bekannte er wie Johannes:
    Es kommt einer nach mir, der ist stärker denn ich.
    Hedwig Schulze.

  • S.

    Varia. 633

    Die Entstehung der Tierliebe.

    Ich glaube von Hebbel stammt der Satz: Unsere Tugenden sind die Bastarde
    unserer Laster. Die Psychoanalyse hat uns das Verständnis der Tugenden gelehrt.
    Wir wissen, wie die ursprünglich kulturwidrigen Triebe durch Uberkompensation in
    soziale Faktoren verwandelt werden. Dass sich der Sadismus bei Kindern zuerst
    in Form von Tierquälerei äussert, ist eine Beobachtung, welche alle Kinderforscher
    bestätigen, Aus diesen Tierquålern werden dann die iiberempfindlichen Tierfreunde,
    die kein Tier quälen sehen können.

    Der Griinder des ,Wiener "t hr s“ war der bekannte Dichter
    Castelli. In seinen Momeiren) erzåhlt er, wie er ein Tierfreund wurde. Diese
    Erzählung bestätigt unsere in der Psychoanalyse gewonnenen Erfahrungen.

    Er war als Kind ein grosser Tierquiler, er schoss aus seinem Blaserohr mit
    Erbsen nach gefangenen Kanarienvögeln, er rupfte ihnen die Federn aus und steckte
    sie sich anf den Hut und vollführte ähnliche Streiche mehr. Die Prügel vom Vater,
    die er bekam, blieben ohne Eindruck, aber eine frei erfundene Tiergeschichte der
    Mutter, ein Märchen, das sie ihm erzählte und womit sie ihn so erschiitterte, dass
    er bitterlich weinte, die heilte sein grausames junges Herz. Die Mutter erzählte ihm,
    es hätte einmal einen wilden Knaben gegeben, der niemand gehorchte und ein
    liederlicher Junge wurde. Er hatte nichts auf Erden lieb als die Tiere, mit denen
    teilte er sein Brot, die schiitzte er, wo er konnte. Er wurde ein Lump, ein Betriiger,
    er starb im Gefängnis und die ewige Verdammnis war ihm gewiss. Aber als er vor
    Gottes Richterstuhl erschien, um sein fúrchterliches Urteil zu vernehmen, da kamen
    alle Tiere, alle, alle aus der weiten Welt, die Vogel aus den Lüften, die Biren aus
    dem Walde und die Måuslein, die er noch im Gefängnis gefüttert, aus ihren Löchern
    und baten Gott um Gnade für ihn, ihren Freund. Und um dieser einen guten Eigen-
    schaft willen verzieh Gott ihm alle seine Verbrechen, i

    Castelli gesteht, dass sich von dieser Stunde an eine völlige Umwålzung in
    ihm vollzog und dass ihn zeitlebens der Gedanke verfolgte, etwas für die Tiere zu
    tun, denen er als Bub einst viel Leid zugefügt hatte. Stekel.

    Der Traum von den drei Musikkapellen.

    Ein interessantes fanktionelles Symbol bringt der folgende Traum:

    Ich trete in ein Café und bemerke, dass dorten drei Musik-
    kapellen zu gleicher Zeit konzertierten. Vor mir eine und je links
    und rechts eine. Obwohl jede Kapelle ein anderes Stück und im
    anderen Takte spielte, vertrugen sich die Stücke miteinander und
    ich hörte keine Disharmonie. . . .

    Die Deutung dieses Traumes ist folgende: Der Träumer hat drei verschiedene
    Richtungen seines Sexuallebens. Er ist ein Fetischist, es zieht ihn zum Weibe und
    er war sich schon vor der Behandlung seiner homosexuellen Regungen vollkommen
    bewusst. Alle diese drei Strömungen geben eine Melodie, seine Sexualität, und ver-
    tragen sich in seiner Psyche, die hier als Café symbolisiert wird, nebeneinander,
    Drei Frauen (Mutter, Tante und Gouvernante) spielten in seiner Kindheit eine wichtige
    Rolle. Sein weibliches Ideal ist eine Verdichtung aus diesen drei Huldgestalten seiner
    Jugend. Eine weitere Determination: Die heilige Dreieinigkeit, an die er wachend
    nicht glaubt. — — — Dr. Wilhelm Stekel.

    1) „Aus dem Leben eines Wiener Phiaken.* Die Memoiren des J. F. Castelli.
    Neu herausgegeben von Adolf Saazer. (Stuttgart, Verlag von R. Luiz.)

    Zentralblatt für Psychoanalyse. III". 43

  • S.

    634 Varia,

    Drei Fille von Versprechen und ein Fall von Verschreiben.

    Ein Arzt erzählt mir, dass er eine besondere Libido empfinde, wenn Frauen
    seinen sexuellen Akten zusehen. Dagegen könnte er die Anwesenheit eines Mannes
    nicht. vertragen. „Die Gegenwart eines anderen Mannes — sagt er —
    macht mich ganz potent!" — Er wollte sagen ,impotent“ und verbessert sich
    sofort. Aber er hatte seine homosexuelle Komponente verraten.

    Ein Patient trifft einen Herrn Schild, dem er vor einigen Jahren eine Kleinig-
    keit im Tarok schuldig geblieben ist. Aber sein Geiz äussert sich gerade bei solchen
    Gelegenheiten, während er sonst einen noblen grosszügigen Charakter zeigt. Er be-
    grüsst den Herrn Schild mit „Guten Morgen, Herr Schuld!“

    Ein Herr hatte in seiner Jugend ein Verhältnis mit einer Gouvernante, das
    unangenehme Folgen hatte. Die Geliebte gebar ihm Zwillinge, um deren Wohl sich
    sein Vater kümmerte. Der Vater hatte ihm einmal flüchtig mitgeteilt, dass die
    Kinder gestorben seien. Er hörte diese Nachricht gerne, aber zweifelte im Innern
    an ihrer Wahrheit. , , , Er wurde neurotisch und dieser Gedanke erwies sich als
    ein Träger seines schweren Schudbewusstseins. Er sprach von der Jugendgeliebten
    und sagte: Die Dame von der meine Kinder stammen — pardon stammten...

    Ich werde von einer klerikalen Zeitung aufgefordert einen Beitrag für ihr
    Feuilleton zu schicken. Ich sträube mich in Gedanken dagegen, habe aber gute
    Gründe dem liebenswiirdigen Redakteur gefällig zu sein. Ich suche eine alte Arbeit
    hervor, einen Ladenhüter, wie es in der Schriftstellersprache heisst, und sende ihn
    ab, mich innerlich wurmend, eine klerikale Zeitung als Stätte der Publikation zu be-
    nützen. Aber was schreibe ich auf das Kuvert? An die „Redaktion der N. N,
    Zeitung“. Dr. Wilhelm Stekel.

    Ein mehrfach determiniertes Versprechen,

    Ein Kranker, der an nekrophilen Instinkten leidet, sagt; Ich werde heute beim
    Friedhof speisen. Das Restaurant heisst aber Riedhof. Damit erscheint das
    Versprechen nur oberflächlich motiviert, Aus dem weiteren Materiale ergibt sich
    folgender Zusammenhang: Er interessiert sich für eine Dame, von der er weiss, dass
    sie von Dr. Samenhof, dem Erfinder des Esperanto, der Augenarzt ist, be-
    handelt wird. Er hatte plötzlich den Gedanken, dass Dr. Samenh of der Dame den
    Hof machen würde, Ein ganz unmotivierter Gedanke, der nur sein latentes Miss-
    trauen und seine Eifersucht verrät. Wenn er sie bei einer Untreue ertappen würde,
    so wäre das ihr Tod, Sicher der Tod seiner Liebe. (Friedhof!) Der Name Samen-
    hof ergibt weitere Assoziationen. Er leidet unter der Angst steril zu sein. Er unter-
    suchte seinen Samen und fand lebende Spermatozoen. Aber er ist ein Zweifler, Er
    kann sich ja geirrt haben und sein Samenhof ist nur ein Friedhof. Er dachte
    an die Möglichkeit einer Gravidität dieser Dame, die ihm aus ökonomischen Gründen
    unangenehm wäre.

    Doch das Versprechen hat auch Beziehungen zu mir. Er fragte mich, was
    das zu bedeuten habe, er Jeide unter der Zwangsvorstellung, sogar einem Zwangsimpuls,
    mir und anderen Männern die Hand zu küssen, Das Restaurant Riedhof lässt
    auf Beziehungen zur Mundzone schliessen, Vor einigen Tagen hatte er die Phan-
    tasie, er mache einem Manne eine Fellatio! Gestern bestellte er im Restaurant un-
    vermutet Kaviar! (Samen der Fische!) Dann einen Hering! Absonderliche Ge-
    lüste, die er sich nicht erklären konnte. Sein Mund soll ein Friedhof sein, er will
    die Spermatozoen vernichten. (Fellatio!)

    Jetzt gesteht er, er wollte mir gestern ein Geschenk kaufen, Ein Ausgabe
    von Eugen Dühring in Esperanto, Er verspricht sich wieder, denn er meint Albrecht

  • S.

    Varia. 635

    Dürer. Dühring ist ihm aus einem Werke bekannt: Der Ursprung der Syphilis.
    Die Syphilis ist ihm aber ein Symbol des Verbotenen, Schmutzigen, also auch der
    Homosexualität, Er will mir seine Liebe erklären und zwar in der mir unbekannten
    Sprache des Dr. Samenhof, Weitere Determinationen müssen hier entfallen. , . . .
    Dr. Wilhelm Stekel.

    Wie sich die verschiedenen Menschen die Psychoanalyse vorstellen.

    Im vergangenen Jahre hatte ich ein dreissigjähriges Mädchen aus Deutschland
    wegen Zwangsvorstellungen in Behandlung. Nach zwei Wochen teilte mir die
    Patientin mit, sie wäre sehr enttäuscht. Sie hätte überall so schreckliche Sachen
    von der Psychoanalyse gehört und sei nun sehr sonderbar berührt, dass man einfach
    reden müsse, was einem einfalle. Sie habe sich aber auf das „Sexuelle“ sehr ge-
    freut und habe immer gespannt gewartet, wann ich damit anfangen werde. Auch
    habe sie im Stillen gehofft, es wäre nicht bei der Theorie bleiben,
    sondern eine Art Anschauungsunterricht durchgeführt. ..... Mit
    solchen Erwartungen gehen die Menschen an die Psychoanalyse! Das kommt daher,
    weil die meisten Ärzte und erst alle Laien glauben, die Analyse bestünde in einem
    peinlichen Kreuz- und Querverhör! Immer wieder wird man in allen Kritiken diese
    Anschuldigungen gegen die Analyse hören. Es wäre mit aller Entschieden-
    heit festzustellen, dass man in keinen Patienten etwas hinein-
    analysiert. Der Patient kommt und erzählt uns seine Beschwerden, bringt uns
    täglich das psychische Rohmaterial, aus dem wir dann unsere Schlüsse zieben, Auch
    Jebt und herrscht überall die Vorstellung ven der Auffindung der Traumen und be-
    sonders der infantilen Traumen und lässt sich nicht ausrotten. Als ob der erfahrene
    Analytiker sich einbilden würde, mit der Aufdeckung einiger infantiler Traumen eine
    Neurose geheilt zu haben! Freilich es gibt verschiedene Analytiker und manche mögen
    das Wesen der Analyse in einem Ausfragen sehen und nach sexuellen Traumen
    forschen, deren Bedeutung in vereinzelten Fällen sicher nachzuweisen ist, Aber
    die Kranken reden von Dingen, die sie bedrücken oder sie verschweigen sie dadurch,
    dass sie von dem Thema sprechen, das dem Arzte genehm ist. Die Patienten haben
    eine feine Nase für das Material, das der Arzt von ihnen erwartet. Sind sie durch
    das Interesse des Arztes auf sexuelle Dinge eingestellt, nun so werden sie gerne
    über ein Thema sprechen, das offen zu erledigen ihnen bisher unmöglich war, Ich
    meine, es ist die grosse Kunst des Psychoanalytikers, das Material nicht zu beein-
    flussen und so dem Patienten gegenüber immer eine Waffe in der Hand zu haben,
    etwa wie: „Habe ich Ihnen von Ihren perversen Anlagen gesprochen, oder haben Sie
    mit diesen Geständnissen begonnen?“ Denn der Kranke hat immer die Tendenz,
    seine ganze Neurose auf den Arzt zu schieben. Der Arzt habe diese sexuellen Dinge
    in ihm aufgewühlt, er habe ihn erst auf die Zusammenhänge aufmerksam gemacht,
    er wäre nie homosexuell gewesen, das hätte geschlummert, nun käme es zutage.
    Gegen solche Vorwürfe haben wir nur die Entgegnung, dass wir nach gar nichts
    gefragt haben und uns der Kranke Alles aus eigener Initiative gesagt habe. Ich
    will damit nicht sagen, dass man ohne alles Fragen auskommen könne. Aber ich
    meine: Man vergesse nicht die Grundregel, den Kranken mit seinen geheimen Ge-
    danken an sich herankommen zu lassen und nie zu früh Zusammenhänge zu ver-
    raten, die der Kranke vielleicht verstehen aber nie fühlen kann, Und heilen kann
    nur der Affekt und die Vorstellung.

    Alle Blätter sind jetzt voll von falschen Schilderungen des Seelenarztes in
    der Psychoanalyse, Ich bringe als Probe Auszüge aus einem Essay von Hermann
    Menkes, der im Neuen Wiener Journal am 4. V. 1918 erschienen ist.

    43"

  • S.

    636 Varia.

    „Unsere Zeit hat das Spezialistentum in allen Dingen und Tätigkeiten ge-
    schaffen, also auch in der Heilkunst. Die persönlichen Beziehungen des Arztes zum
    Kranken haben sich gelockert oder haben ganz aufgehört. Mit Ausnahme des einen,
    der als neue Figur aus dem Spezialistentum hervorgetreten ist: des Seelenarztes.
    Diese Bezeichnung hat einen sentimentalen Beiklang. Man denkt an einen Priester
    der Seele, an einen Beichtvater, der uns mit giitigem Zuspruch von aller geheimen
    Qual befreit und dem wir die glåubige Kinder die verborgensten Kammern unseres
    Herzens erschliessen. Aber hier handelt es sich nur um eine neue Abart, eine neue
    Methode. Diese Spezialisten fiir das Nervensystem sind Anhänger einer Lehre, die
    wie eine okkulte Wissenschaft noch erscheint, und sie schwören auf ihren Meister
    wie die Mitglieder einer Geheimsekte auf ihren Heiligen. Auch sie sind Beichtväter,
    die bis zum Unbewussten unseres Individuallebens vordringen, Forscher im dunkeln
    Land der Seele; Dass nur in einem gesunden Körper ein gesunder Geist leben
    könne, von dieser Voraussetzung gingen die ältesten Heilkiinstler schon aus. Der
    Seelenarzt aber verkündet, dass alle körperlichen Zerriittungen davon
    herrühren, dass unser Empfindungsleben irgendwann, vielleicht
    schon in den ersten Kindheitsjahren, einen Knacks, eine schädigende
    Hemmung erlitten hat. Wie in eine finstere Nacht leuchten sie in das erste
    Erlebnis hinein, in das lingst Vergessene, Entschwundene. Sie sind die Zer-
    stôrer eines Märchens, des Glaubens von der Unschuld und Glückseligkeit der Kind-
    heit. Im Geschlechtsleben sehen sie alle Wurzeln unserer Leiden und all der
    Schrecken, die uns jäh befallen, uns bis an den Rand des Wahnsinns, in die Nähe
    von Verbrechen und Laster bringen. Aus ihm allein entstehen die Neurosen und
    Psychosen, die zeitweiligen Willenslähmungen, die Platzfureht.“

    „Das Heilverfahren, das er anwendet, erscheint recht seltsam, entbehrt
    auch nicht eines Zuges von Komik. Zwischen dem Arzte und dem Patienten
    wird eine Konversation geführt, die sich durch viele Monate wiederholt. Es ist
    ein Gespräch in Fragestellungen und Beantwortungen. Alle Ver-
    schwiegenheiten, alles im Innersten Begrabene wird ans Licht geholt, Dinge, an die
    man nie mehr gedacht oder deren man sich gar nicht für fähig gehalten. Einer,
    der an nervöser Unruhe, an allerlei Beschwerden, an Schlaflosigkeit und Angst-
    gefühlen leidet, sicht sich plötzlich auf Ursachen hingewiesen, die ihn erschrecken
    und ihn schuldig machen, Die Menschen werden allesamt zu geheimen Sündern, zu
    schuldlos Schuldigen vor diesem Seelenforscher, zu dem man vielmehr nur in der
    Erwartung kam, dass man von einem quälenden Kopfschmerz befreit werde, 'Lom-
    broso und seine Schüler legten jedes Genie gleichsam ins Krankenbett, vor den
    Adepten der Professor Freud’schen Psychoanalyse sind wir Gewöhnlichsten alle
    Entartete. Die Methode sieht wie Scharlatanerie aus, ist aber ein Weg durch
    Dunkelheiten und soll, wie die Sage geht, schon manch hoffnungslos Gewordenen
    Genesung gebracht haben. Das Heil liegt im Sichselbsterkennen und Besinnen. Fr-
    kenne, welch ein Scheusal du eigentlich bist und du kehrst zu den Normalen zurück.
    Die Bestie in uns wird getötet, indem man ihr ins Antlitz schaut.“

    Auch hier werden die Mirchen von dem Frage- und Antwortspiel und die
    Heilung nach der Entdeckung des infantilen Traum’s aufgetischt. Da verstehen wir
    freilich, dass der Autor findet, die Methode entbehre nicht eines Zuges der Komik.
    ...... Seine Darstellung entbehrt sie sicher nicht. Stekel.

    Uber den Sadismus.

    Tolstoi spricht: „Die meisten Menschen, die man bås und schlecht nennt,
    sind solche nur dadurch geworden, dass sie ihre Verstimmungen, als einen natür-

  • S.

    Varia, 637

    lichen, gesetzmiissigen Zustand angenommen haben und dem letzteren hingebend,
    keine Willensbemiihungen — sich von diesem Zustande zurückzuhalten 一 angewendet
    haben.“ 1

    Mit diesen Worten wird recht klar ein psychisches Phänomen dargestellt, wie
    wir es in den Ausserungen, vor allem der neurotischen Seele immer beobachten können.

    Am ersten Plan — die tendenziöse, notwendige (meistens unbewusste) Kon-
    struktion der Verstimmung, des Symptoms, als ein brauchbares Mittel zur Er-
    reichung des halluzinierten Endzweckes und dann — nach dem Selbsteinfühlen in
    die konstruierte Situation — ein Kampf gegen die etwa stabilisierte psychische
    Konstellation. Der Kampf aber — von rationalistischen, ethischen etc. Hilfsmitteln
    begleitet, verbirgt in sich nichts anderes, als einen weiteren Beweis fiir die Existenz
    der gegensätzlichen, in diesem Falle, sadistischen Komponenten, abgesehen davon,
    dass sich solch ein Kampf als ganz vergebens und unniitz erweist.

    Bei Tolstoi können wir diesen Kampf in seinem Leben und Werke genau ver-
    folgen. Was die Einstellung Tolstois in den letzten Jahrzehnten seines Lebens be-
    trifft, so sehen wir da bloss einen Kunstgriff, indem er, vermittelst eines
    pseudo-masochistischen Arrangements, seine Dogmen über , Widerstands-
    losigkeit dem Bösen gegenüber“ (Christuspositionannahme!) befestigen wollte, die,
    augenscheinlich einen bewussten, freiwilligen Kampf mit den subjektiven, unbewussten
    sadistischen Trieben darstellt. — Aus diesem kurz skizzierten Falle ist es nicht zu
    schwer die Ambivalenz der äusseren Formen der Geistesfunktion und, zur
    gleichen Zeit, das einheitliche Bild des wahren Strebens, Wollens, des un-
    bewussten Imperativs zu ersehen. — Scheint es danach nicht wirklich so, als ob
    Tolstoi, die sichtbare Rolle eines Propheten, eines Predigers für das Gute, fiir
    „Liebe zum Nächsten“ usw. aufnehmend 一 im Realen ein ausgeprägter Misanthrop,
    ein, in den letzten Zeiten, grüsster Menschenfeind gewesen ist?

    Birstein.

    Notierte Gedanken von F. M. Dostojewski.

    In der bei R. Piper & Co. (Miinchen und Leipzig) erscheinenden Gesamtaus-
    gabe der Werke von Dostojewski finden sich auch die ,Notierten Gedanken“, von
    denen wir einige hier bringen. Sie zeigen von dem tiefen psychologischen Verståndnis
    des genialen Dichters.

    Die Frauenfrage.

    Der ganze Fehler der „Frauenfrage* besteht darin, dass man Unteilbares
    teilt, Mann und Weib einzeln betrachtet, wåhrend sie doch ein ein-
    ziger geschlossener Organismus sind. (,Und er schuf sie, Mann und
    Weib . ‥ 刀 Ja sogar mit den Kindern, mit den Nachfahren und Vorfahren. und
    mit der ganzen Menschheit ist der Mensch ein einziger unteilbarer Organismus, Die
    Gesetze aber teilen immer und løsen alles womöglich in die Urbestandteile auf. Die
    Kirche dagegen teilt nicht.

    In der Natur ist alles fir das Normale berechnet, alles nach dem Muster des
    Heiligen und Sündlosen zugeschnitten. (Der Mann 30 Jahre alt, die Frau 30 Jahre.)
    Die Schonheit ist dem Weibe zu Anfang gegeben, um den Mann zu fesseln, denn
    das sittliche Band ist noch schwach. Spater ist die Schönheit nicht mehr nötig,
    man liebt das Weib, weil man seelisch zusammenwächst (organische Verbindung).

    Ehrfurcht,
    Die Höhe, einer Menschenseele ist zum Teil danach zu ermessen, wie weit

    und vor wem sie fähig ist, Ehrfurcht und Verehrung zu bezeugen (oder Andacht zu
    empfinden).

  • S.

    638 Varia.

    Sozialismus und Christentum.

    Man versuche doch zu teilen, versuche doch einmal festzusetzen,
    wo die eigene Persönlichkeit aufhört und die andere anfängt! Das
    stelle man einmal durch die Wissenschaft fest! Die Wissenschaft macht sich eben
    daran. Und der Sozialismus stützt sich ja gerade auf die Wissenschaft. Im Christen-
    tum ist schon die Frage undenkbar. Welches sind die Chancen dieser und jener
    Lösung? 一 Es wird ein neuer unvorhergesehener Geist aufkommen.

    Reichtum,
    Reichtum ist eine Stärkung des Einzelnen, eine mechanische und geistige
    Befriedigung, folglich eine Loslösung des Einzelnen vom Ganzen,

    Über die Macht infantiler Eindrücke äussert sich der Dichter:
    Entwicklung der Kinder.

    Zwei Bälle werden über dem Kinderbett angebracht, ein roter
    und ein blauer, und zwar zur Beschleunigung der Entwicklung, um
    Gedanken zu erwecken. Als wolle man die Natur beseitigen! Der
    Eindruck der Harmonie des Ganzen in der Natur wird dadurch auf-
    gehoben. Die werden ihr Lebtag im Ganzen Details, grelle Punkte,
    Ecken, Einzelheiten suchen.

    Aphorismen über die Liebe von Paul Bourget.

    Die Männer sind niemals gute Richter über die Eigenschaften, durch die ein
    anderer Mann den Frauen gefällt oder missfällt.

    Wenn eine Frau ihr Herz im Liebesspiel einsetzt, so spielt sie neunzehnmal
    von zwanzig gegen einen Falschspieler und setzt echte Goldstücke gegen unechte
    Prägung,

    „Frauen, die flirten, sind schlechte Geliebte.“ Dies ist das Wort einer sehr
    ehrbaren Frau, die vorgab, niemals geflirtet zu haben. Ihre Augen sahen sehr ver-
    åchtlich drein, während sie sprach. Die allzugrosse Verachtung aber, hat allzusehr
    über den verachteten Gegenstand nachgedacht. Und zu sehr über etwas nach-
    denken, heisst immer es bereuen.

    In der Liebe sind grosses Glück und grosses Unglück nur Gefühlsnuancen.

    Der Mann rächt sich an den guten Frauen, weil die Dirnen ihn nicht geliebt
    haben. Er nennt das: stark geworden sein.

    Die Strafe der Talion im modernen Rechte,

    Beim Neurotiker konstatieren wir immer wieder die Tendenz sich für seine
    kriminellen Impulse so zu bestrafen, dass die Strafe einen Hinweis auf seine ver-
    brecherischen Neigungen enthält. Lebte er in Vergiftungsphantasien, so bricht bei
    ihm später eine Hypochondrie aus, die in allen Speisen Gift wittert, er wird ein
    Apostel der Abstinenz, er predigt gegen die Giftmedizin usw. , .

    In einer Gerichtsverhandlung trat diese Tendenz im Urteil zutage. Das
    „Neue Wiener Journal“ vom 9. V. 1913 berichtet:

    Verführung unter Zusage der Khe.
    Vor dem Strafrichter Dr. B. hatte sich gestern der 22jåhrige Pfeifendrechsler
    F. B. wegen Verführung unter Zusage der Ehe zu verantworten. Der Angeklagte
    unterhielt seit fünf Jahren mit der heute 20jåhrigen Kontoristin Lina W. ein Liebes-
    verhältnis und versprach dem Mädchen wiederholt die Ehe. Im Februar dieses
    Jahres brach В. das Verhältnis mit der W. plötzlich ab. Das Mädchen erfuhr, dass

  • S.

    Varia, 639

    B. mit einer von ihrem Manne getrennt lebenden Frau ein Verhältnis angekniipft

    habe. Sie erstattete hierauf die Strafanzeige. Der Richter verurteilte den Ange-

    klagten zu zehn Tagen strengen Arrests, verschärft mit „einmal hartem Lager.“
    Dr. W. B.

    Zur Psychologie der Kinderstube.

    Nachdem an einem Morgen meine Frau umsonst nach dem Nachttopf meines
    5'/, jährigen Töchterchens gesucht hatte, wurde es selbst nach dessen Verbleib ge-
    fragt. Es holte den Topf hinter dem Ofen hervor und erklärte: „Ich habe ihn
    versteckt, damit Ihr ihn nicht ausleert. Dann mache ich immer
    mehr hinein, und dann wird er immer voller. Er soll einmal so voll
    werden wie der Eurige.“

    Als ich dasselbe Töchterchen einmal aufforderte, mir einen Traum von der
    Nacht zu erzählen, erwiderte es: „Aber Papa, ich hab’ es Dir doch schon
    einmal gesagt, dass ich gar nie träume. Ich sehe nur Bilder in der
    Nacht.“

    Eines Tages muss ich zu einem Vorschlag der gleichen Tochter Stellung
    nehmen: Wenn sie grösser sei, möchte sie mich einmal heiraten. Ich versuche mit
    Schonung ihr die Gründe klar zu legen, weswegen ihr Plan nicht ausgeführt werden
    könne. Sie verlässt mich in nachdenklicher Resignation. Einige Tage später kommt
    sie leuchtend zu mir: „Wenn ich Dich schon nicht heiraten darf, dann will ich
    wenigstens einmal den Bubi (ihren 2'/,jährigen Bruder) heiraten.“ Als ich auch
    diesmal mit Gründen ihre Hoffnung zertrümmere, senkt sich ihr Köpfchen schmerz-
    lich. Wieder ein paar Tage und jubelnd stürmte sie in mein Arbeitszimmer: „Papa,
    ich kenne einen Buben, der heisst Julius, den werde ich heiraten.
    Ich will einmal nur einen Julius heiraten.*

    Mein 2Y,jihriges Söhnchen hörte seine Schwester öfters das „Vater unser“
    beten, Eines Abends wollte auch es beten und legte dann los: „Unser Vater —
    du bist schuld — bitte, gib mir Brot.“ Julius Niedermann.

    Traum eines 5jührigen Müdels.

    „Ich flog aus dem Oberbodenfenster meines elterlichen Hauses (unser Haus
    ist im Schweizerstil gebaut, das betreffende Fenster befindet sich an der Giebelseite)
    wagrecht heraus, die Arme wie Flügel ausgebreitet, bis über das kleinere grüne
    Rasenrundteil in unserem Garten. Dort stand mit gezücktem Messer ein Metzger-
    meister, er schien nur auf mich zu warten, um mich abzuschlachten. Ich empfand
    rasende Angst, weil ich meine Flugkraft nachlassen fühlte — immer senkte ich
    mich trotz meines Bemühens hoch zu bleiben, herab auf das hochgehobene, mir
    drohende Messer. Dann hob ich mich wieder empor, atmete wie befreit auf, um
    gleich darauf unter unsüglicher Angst wieder zu sinken — auf nieder — auf nieder —
    es war schrecklich.*

    Dieser Traum zeigt uns, wie früh sich schon die Konflikte der kindlichen
    Seele äussern. Kennt man aber die Lebens- und Leidensgeschichte der Kranken so
    merkt mau, dass der Kampf zwischen einer nach dem Himmel strebenden Keusch-
    heit und einer sehr starken Sexualität schon im fünften Lebensjahre eingesetzt hat.
    Der Traum ist nämlich leicht verständlich und eine Illustration ihrer Kämpfe, die
    sie neurotisch gemacht haben. Eine ungeheuere Anstrengung ihres Willens treibt
    sie in die Hohe. Sie hat ein geheimes Ideal: die Madonna. Unten aber steht der
    Metzger als Symbol des tierischen Mannes, als Symbol der Fleischlichkeit und des
    Bösen. Fällt sie ihm zum Opfer, so wird sie Dirne.

  • S.

    640 Varia. '

    Andrerseits ersehen wir die Angst vor dem Manne und die Tendenz sich über
    den Mann zu erheben und zu entwickeln. Diese Frau musste neurotisch und in der
    Ehe anästhetisch werden, weil sie jeden Orgasmus in den Armen des Mannes als
    Niederlage wertet, jeden Akt, in dem sie kühl blieb, als einen Sieg. Stekel.

    Ein Beitrag zur infantilen Kriminalitiit.

    Verschiedene Autoren haben meine Mitteilung über die Kriminalität der Kinder
    bezweifelt. Ein Kind sollte Mordplüne haben und überhaupt kriminelle Vorgänge
    verstehen? Ein Kind sollte mit Attentatsplinen spielen, Phantasien über Vergiftungen
    hegen, an Mord und Brand denken?

    Leider kommt es auch vor, dass diese Phantasien zur Tat werden. Ich bringe
    hier nur die nackte Tatsache zur Kenntnis, wie sie das „Neue Wiener Tagblatt“ am
    5. V. 1913 mitgeteilt hat.

    Selbstmordversuch und Mordversuch eines Dreijåhrigen.

    Als der Bauunternehmer Emmerich Ehrenwald gestern abend von einem
    Ausfluge in seine Wohnung zurückkehrte, fand er auf einem Kanapee sein drei-
    jühriges Söhnchen und sein anderthalbjähriges Tóchterchen be-
    wusstlos auf. In der Wohnung war ein starker Gasgeruch zn verspiiren. Der
    Gashahn war offen. Mit vieler Miihe gelang es, die beiden Kinder wieder zam Be-
    wusstsein zu bringen, Das dreijährige Sóhnchen gab an, es habe sich und das
    Schwesterchen tóten wollen aus Gram dariiber, dass Miitterchen sie nicht
    spazieren geführt habe. Die Erklärung dafür, dass der Dreikiisehoch überhaupt
    auf den Gedanken des Selbstmordes gelangen konnte, liegt darin, dass beim Mittag-
    mahl Ehrenwald von einem Selbstmord erzählte, den jemand durch Einatmen von
    Leuchtgas beging. Der kleine Knabe hatte der Erzählung aufmerksam gelauscht,

    Stekel.

    Der letzte Traum.

    Am 21. April wurden in Paris drei Auto-Apachen hingerichtet. Als man in
    die Zelle des Monier kam und ihn weckte, rief er nach der Mitteilung, dass es zum
    Tode gehe und er hingerichtet werden solle, aus: „Ja, das habe ich mir gedacht.
    Denn ich habe heute Nacht einen wunderschónen erotischen Traum gehabt.* So
    weckt der Gedanke an den Tod alle Kriifte, welche der Fortsetzung des Lebens iiber
    sich hinaus dienen. Margarete Petersen.

    Zur Kinderseele.

    Ein kleines Midchen sieht auf der Gasse eine alte Zwergin und eilt aufgeregt
    zur Mutter: Du Mutter, ich habe eine alte Frau gesehen, eine sehr alte Frau. Du
    glaubst nicht, wie jung die war. Mutter, kann die auch Kinder kriegen? M. P.

    Aphorismen iiber die Psychoanalyse.

    Karl Kraus veróffentlicht in Nr. 376/377 der Fackel eine Reihe von Apho-
    rismen iiber die Psychoanalyse, die fiir ohne jede Polemik hier wiedergeben wollen.

    Wenn man nur beizeiten den Kindern verboten hätte, sich zu schneuzen, die
    Erwachsenen wiirden schon rot werden dabei!

    Sinnlichkeit weiss nichts von dem, was sie getan hat. Hysterie erinnert sich
    an alles, was sie nicht getan hat.

    Erróten, Herzklopfen, ein schlechtes Gewissen — das kommt davon, wenn
    man nicht gesiindigt hat,

  • S.

    Varia, 641.

    Man kann eine Frau nicht hoch genug überschätzen.
    Wand vor der Lust: Vorwand der Lust.

    Perversitåt ist entweder ein Zustand oder eine Fähigkeit. Die Gesellschaft
    wird eher dazu gelangen, den Zustand zu schonen als die Fühigkeit zu achten. Auf
    dem Weg des Fortschritts wird sie so weit kommen, auch hier der Geburt den Vor-
    zug zu geben vor dem Verdienst. Aber wenigstens wird sich die Norm dann nur
    mehr über das Genie entrüsten, das heute diese Ehre mit dem Monstrum teilen muss.

    Genie ist die freie Verfügung über alle jene Eigenschaften, die jede für sich
    einen Krüppel beherrschen.

    Das Unterbewusstsein scheint nach den neuesten Forschungen so eine Art
    Ghetto der Gedanken zu sein. "Viele haben jetzt Heimweh.

    Euer Bewusstes dürfte mit meinem Unbewussten nicht viel anfangen kónnen.
    Aber auf mein Unbewusstes vertraue ich blind, es wird mit eurem Bewussten
    schon fertig.

    Psychoanalyse: Ein Kaninchen, das von der Boa constrictor geschluckt wird,
    wollte nur untersuchen, wie's drin aussehe.

    Paychoanalyse ist mehr eine Leidenschaft als eine Wissenschaft: weil ihr die
    ruhige Hand bei der Untersuchung fehlt, ja weil dieser Mangel die einzige Fähigkeit
    zur Psychoanalyse ausmacht. Der Psychoanalytiker liebt und hasst sein Objekt,
    neidet ihm Freiheit oder Kraft und führt diese anf seine eigenen Defekte zurück.
    Er analysiert nur, weil er selbst aus Teilen besteht, die keine Synthese ergeben.
    Er meint nur darum, der Künstler sublimiere ein Gebreste, weil er selbst es noch
    hat. Psychoanalyse ist ein Racheakt, durch den die Inferiorität sich Haltung, wenn
    nicht Überlegenheit verschafft und die Disharmonie aufs gleiche zu kommen sucht.
    Arzt sein ist mehr als Patient sein und darum sucht heute jeder Flachkopf jedes
    Genie zu behandeln. Die Krankheit ist hier das, was dem Arzte fehlt. Wie er sich
    immer anstelle, er wird zur Erklärung des Genies nichts weiter vorbringen, als den
    Beweiss, dass er es nicht hat. Da aber das Genie eine Erklürung nicht braucht und
    eine, die die Mittelmåssigkeit gegen das Genie verteidigt, von übel ist, so bleibt der
    Psychoanalyse nur eine einzige Rechtfertigung ihres Daseins: sie lässt sich mit
    genauer Not zur Entlarvung der Psychoanalyse anwenden.

    Kin Psycholog weiss um die Entstehung des 。Fliegenden Hollünders* Bescheid:
    „aus einer Kinderphantasie Richard Wagners, die dem Grüssenwunsch des Knaben
    entsprang, es seinem Vater gleich zu tun, sich an Stelle des Vaters zu seizen, gross
    zu sein wie er. .. ." Da aber nach den Versicherungen der Psychologen dies der
    seelische Habitus aller Knaben ist 一 ganz abgesehen von der erotischen Eifersucht
    und den Inzestgedanken, die das Kind mit der Muttermilch einsaugt und die nur
    bei Soxhlet nicht die Oberhand behalten —, so müsste die Psychologie bloss noch
    die eine Frage beantworten: welche spezifischen Anlagen oder Eindrücke bei Wagner
    die Entstehung des ,Fliegenden Holländers“ vorbereitet haben. Denn Wagner ist
    von allen Geschlechisgenossen der einzige, dem die Autorschaft des ,Fliegenden
    Holländers“ zugeschrieben werden kann, während die meisten andern dem Grüssen-
    wunsch, es dem Vater gleich zu tun, eine Karriere als Bórseaner, Advokaten, Tram-
    waykondukteure oder Musikkritiker verdanken, und nur die, die davon getrüumt
    haben, Heroen zu werden, Psychologen geworden sind.

    Krank sind die meisten. Aber nur wenige wissen, dass sie sich etwas darauf
    einbilden kónnen. Das sind die Psychoanalytiker.

    Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hilt.

    Ein guter Psycholog ist imstande, dich ohneweiters in seine Lage zu versetzen.

  • S.

    642 Varia.

    Wie der Schelm ist, so denkt der Psycholog.

    Sie greifen in unsern Traum, als ob es unsere Tasche wire.

    Psychologie ist die stärkere Religion, die selig im Zweifel macht. Indem die
    Schwäche nicht zur Demut, sondern zur Frechheit bekehrt wird, geht es ihr schon
    auf Erden gut. Die neue Lehre ist über jeden Glauben erhaben.

    Was fängt man doch mit dieser Jugend an? Sie ist missgestalt und reagiert
    nur psychisch. Nichts als Freudknaben.

    Schlüssel-Symbolik.

    Schlüssel — Schlüsselloch — Schlüssel ins Schlüsselloch stecken scheinen
    geeignete, häufig auftretende Sexualsymbole zu sein. Eine mir bekannte junge Dame
    hat wenigstens häufig kleine Schlüsselerlebnisse. Eines derselben schilderte ich be-
    reits im Heft II des III. Jahrgangs. Vor einiger Zeit besuchte ich das neurotische
    Mädchen in einem Sanatorium, dessen Garten an einem See liegt. Wir ruderten.
    Zu diesem Zweck legte sie ein Kostüm an, das ihren kraftvollen Körper durchaus
    markierte. Sie befand sich unbewusst in starker Übertragung auf den Arzt. Auf
    der Rückfahrt sahen wir ihn, der in seinem Boote gleich uns der Landungsstelle
    zustrebte. Sie begann krampfhaft heftig zu rudern und sagte angsterfüllt. „O Gott,
    wenn wir nur schnell und sicher landen, ich kann mich nicht in diesem Kostiim
    zeigen.“ Tadellos liefen wir ein. Die Angst, d. h. der verdrüngte Wunsch, sich in
    diesem Kostüm zu zeigen, erfüllte sich nicht. Das Wichtigste, was kein Patient je
    vergass — so war es eingeschärft worden — war, den Bootsschlüssel sofort an den
    richtigen Ort zu legen. Sie raste wie besessen davon. Plötzlich blieb sie stehen
    mit angstverzerrten Mienen, um dann wieder davonzujagen. Natürlich kam sie
    gerade in dem Moment an, als das andere Boot landete. Sie ergriff den grossen,
    mit einer riesigen Holzklammer versehenen, nicht zu iibersehenden Schlüssel, der
    mitten auf dem kleinen Brückensteg lag und eilte davon, sich halb tot schimend.
    Das Unbewusste hatte sich wieder einmal siegreich durchgesetzt. Sie hatte sich
    nun doch und viel ausgiebiger in dem Kostüm produziert als es bei einer verzógerten
    Landung der Fall gewesen wire. Der Arzt hatte oft in der Behandlung gesagt:
    Ich kann den Schlüssel zu Ihnen nicht finden. Nun sagte ihm ihr Unbewusstes:
    da liegt der Schlüssel, und der Schlüssel ist mir Sexualsymbol; nur das kann mir
    helfen.

    Neulich war sie auf wenige Tage verreist und hatte sich mit einem ihr ziem-
    lich fernstehenden Herrn verabredet. Sie verpassten sich, fanden sich nicht, trotz-
    dem sie am selben Orte waren. Es war ein herrlicher Mondscheinabend, und sie
    war der Sehnsucht voll, nicht nach „dem“ Mann, aber nach dem „Mann“, da er
    im Augenblick als einziger Repräsentant seiner Gattung in Frage kam, wünschte sie
    heftig, er möchte kommen. Energisch verbannte sie alle Sehnsuchtsgedanken und
    suchte bei früher Abendstunde das Zimmer auf. Aber das Unbewusste spann weiter,
    nur einiges davon drang ins Bewusstsein: Vielleicht kommt er noch — Nein, ich
    gehe heut nicht mehr spazieren, lasse durch die Wirtin sagen, ich sei nicht mehr zu
    sprechen — Vielleicht sagt die primitive Wirtin: Fräulein D. wohnt Nr. 4 — Ich
    rufe hinaus, ich sei schon im Bett oder antworte nicht —. Wie ich schon im ersten
    Fall erzählte, ist jene Dame äusserst sorgsam mit dem Verschliessen. Sie schläft
    auch in ihrer eigenen Wohnung, nur wenn alle Tiren des Zimmers verschlossen
    sind. Hält sie sich im Hotel nur einige Minuten in ihrem Zimmer auf, so wird sie
    es stets verschliessen, Als sie halb entkleidet war, sah sie, dass der Schlüssel nicht
    im Schlüsselloch steckte. Sie fasste an, die Tür war offen, der Schlüssel fort. Erst
    nach langem üngstlichen Suchen fand sich der Schlüssel. Sie hatte ihn verlegt mit

  • S.

    Varia. 643

    der unbewussten Absicht, jenem Herrn die Türe offen zu lassen. Dass es wieder
    der Schlüssel sein musste, das männliche Sexualsymbol und das nun offene Schlüssel-
    loch, das weibliche Sexualsymbol, enthüllen uns die tieferen unbewussten Wünsche
    jenes Mondscheinabends, Hedwig Schulze.

    Goethe iiber das Verhiiltnis der Geschlechter.

    „Der Mann soll gehorchen, das Weib soll dienen. Beide streben nach Herr-
    schaft. Jener erreicht sie durch Gehorchen, diese durch Dienen. Gehorchen ist
    dicto audientem esse; dienen heisst zuvorkommen. Jedes Geschlecht verlangt von
    dem andern, was es selbst leistet, und erfreut sich dann erst: der Mann, wenn ihm
    das Weib gehorcht (was er selbst tut und tun muss); das Weib, wenn ihr der Mann
    dient, zuvorkommt, aufmerksam, galant, und wie es heissen mag ist. So tauschen
    sie in der Liebe ihre Rollen um: der Mann dient, um zu herrschen, das
    Weib gehorcht, um zu herrschen.“ (Mit Riemer, August 1807.)

    „Beide Geschlechter besitzen eine Grausamkeit gegeneinander, die sich viel-
    leicht in jedem Individuum zuzeiten regt, ohne gerade ausgelassen werden zu können:
    bei den Männern die Grausamkeit der Wollust, bei den Weibern die des Undanks,
    der Unempfindlichkeit, des Quälens u. a. m.“ (Mit Riemer, 7. Juli 1811.)

    Die Ähnlichkeit dieser Ansichten mit denen Kants und Adlers, wie ich sie
    in einem Artikel „Kant über das Verhältnis der Geschlechter“ (Heft 4,
    5, 1913 dieses Zentralblatts) hervorgehoben habe, ist so unverkennbar, dass sie keiner
    näheren Ausführung bedarf. Schrecker.

    Sexualsymbolik bei M. Madeleine.

    Ein für Psychoanalytiker recht interessantes Material findet sich in der
    Symbol- und Gedankenwelt, in die wir durch die erotischen Gedichte von Marie
    Madeleine geführt werden. Die Verfasserin deckt in poetischer Sprache manchen
    feinen Zug des verborgensten Trieblebens auf. Die Symbole holt sie mit Vorliebe
    aus der pflanzlichen Natur. Ich führe hier drei Gedichte vollständig an; sie stehen
    in der bei B. Elischer Nachf. (Leipzig) erschienenen Sammlung „Die rote Rose Leiden-
    schaft“, S. 103 f. und 129,

    Hass,

    Wohl hab’ ich deine Liebe stets geliebt,

    Der Küsse Zärtlichkeit, die süsse Minne . . .

    Jedoch dein Hass, dein briinst'ger Hass erregt

    Viel heisser meine aufgewühlten Sinne.
    Geschlechtshass! — Sonderbare Nervenschwingung, — — —
    Erinverung an weltenferne Zeit,

    Da noch vereint in zårtlichster Umschlingung

    Die Wollust waren und die Grausamkeit.

    Da die Begierde tobte ohne Schranke,

    Die Korperkraft die einz'ge Ubermacht, —

    Und da noch kein erhabner Gottgedanke

    Aus einem Tier zum Halbtier uns gemacht. — — — —
    Das lieb ich so ‥ , . wenn die brutale Regung
    Auftaucht in deiner wilden Manneskraft,

    Und wenn ich fühl’ in jeglicher Bewegung:

    Wie sinnlos macht dich deine Leidenschaft!

  • S.

    64 Varia:

    Es werden dann. zu schmerzhaft scharfen Bissen

    Die Kiisse, welche sonst mich lieb umschmeicheln, —
    Wenn deine schönen Hände nicht mehr wissen,

    Ob sie mich würgen sollen oder streicheln.

    Und deine Mannes-Urkraft rast und gibt . . . .

    Und gibt mir Seligkeit und gibt mir Schmerzen ‥ .. . ・
    Wohl hab' ich deine Liebe stets geliebt,

    Doch heisser trag ich deinen Hass im Herzen.

    Man findet hier den instinktiven Ausdruck der dem Psychologen nicht un-
    bekannten Theorie, dass die Zårtlichkeitsbezeigungen (Küssen, Streicheln etc.) aus
    aggresiven Bewegungen (Büsten, Würgen etc.) hervorgegangen sind. Die noch übrig
    gebliebene Aggressionskomponente, die „Grausamkeit“ ist als sadistisch-masochistischer
    Zug in die Libido des Geschlechtlebens eingegangen. Die Verschmelzung von
    Grausamkeit oder Wildheit und Liebe kommt an vielen Stellen der Madeleine'schen
    Gedichte zum Ausdruck. An einer Stelle spricht sie geradewegs vom ,,Liebeshass“.
    Ich meine den Schluss des Gedichtes „Sirokko“ (S. 100 ff), wo es heisst:

    Ach dies Gesicht, so leidenschaftlich blass . . .
    Und deine Augensterne, starr geweitet

    In Manneslust, . . . in brünst'gem Liebeshass . . .
    Da wissen meine irren Sinne kaum,

    Ob jenes Bett, das du fiir uns hereitet,

    Auf das mein Körper schwer herniedergleitet,
    Mich wiegt in Liebe oder Todestraum? . ..

    Diese Stelle ist auch wegen des Hinübergleitens in die Todesgedanken zu be-
    achten, Von diesen werden wir im folgenden Gedicht mehr hören,

    Die toten Brunnen.

    In meinem Garten lustdurchloht,

    Sind die Marmorbrunnen

    Tief wie ein Grab und stumm wie der Tod.
    Sie stehen wie grosse Sarkophage,

    Und ihr Schweigen ist

    Lauter als eine Totenklage.

    Und ringsum blüht die Schöpfung wild.
    Aus allen Bäumen und Sträuchern,

    Aus allen Blumen das Leben quillt.

    Das Meer singt vor des Gartens Pforte.
    Schmetterlinge schwirren,

    Beschwingt und leuchtend wie Dichterworte,
    Griingoldne Libellen summen gleissend . .
    Der Brunnen Schweigen ist

    Stumm wie der Tod und herzzerreissend.
    Ich klag' es den Rosen, ich klag’ es dem Wind:
    „O weh, dass in meines Gartens Zier

    Die toten Marmorbrunnen sind!“

    Die Friihlingsnacht hat Rat gewusst.
    Tausend Fröschlein liess sie erstehn,
    Millionen Fröschlein in Liebeslust.

    Nun sitzen in den Brunnen zuhauf

    Die brünstigen Fröschlein sonder Zahl

  • S.

    Varia. 645

    Und singen und rufen zum Himmel hinauf,

    Klingt wie feine, gläserne Glocken.

    Hör’ doch zu, wie sie rufen,

    Sie singen und werben, . . . singen und locken . . .
    Nun sind die toten Brunnen erwacht, —

    Nun klingt der Ruf der Liebe

    Empor aus der starren Todesnacht!

    Was der Garten, was die tiefen Brunnen sind, deren Leerstehen den Tod be-
    deutet, erraten die Leser ohne weiteres. Dagegen würde Ihnen, ohne meinen Hin-
    weis, vielleicht nicht sogleich auffallen, dass die brünstigen Fröschlein in der
    feuchten Brunnentiefe, wenn man folgerichtig im Bilde bleiben will, als Spermato-
    zoen betrachtet werden müssen. Die Symbolik ist wohl kaum bewussterweise be-
    absichtigt, aber sie gilt nicht minder, wenn sie aus den unbewussten Quellen der
    Phantasie entspringt: sie hat eine desto ursprünglichere Kraft.

    Es versteht sich, dass der tiefe „Brunnen im Garten“ ein Grab wäre, wenn
    keine Lebenskeime (Spermatozoen) hineinkämen. Die Libellen, Schmetterlinge ete,
    die den Brunnen umtanzen, sind Penis- und Lebenssymbole. Übrigens ist auch der
    Frosch ein phallisches Symbol. å

    In dem folgenden Gedicht kommt die erotische Symbolik des blühenden Reises
    zur Geltung.

    Das Wunder.

    Als einst im dreimal heil'gen Rom

    Tannhäuser flehte um Erhebung

    Aus seiner Sünden trübem Strom,

    Da ward ihm göttliche Vergebung.

    Da blühte an des Papstes Stab,

    Am diirren Holz ein frisches Reis,

    Und in die Einsamkeit begab

    Der Ritter sich zu Gottes Preis.

    Hat seinen stolzen Leib kasteit

    Und war fiir diese Welt gestorben,

    Denn er gedachte jederzeit

    Der Gnade, die er sich erworben. — —

    Und hat er niemals denn gedacht,

    Dass auch sein stisser Bettgenoss,

    Dass auch Frau Venus oft vollbracht,

    Dass dürres Reis in Blüten schoss?

    Hätt’ er gewusst, was ich doch weiss! . . .

    Hätt’ er gefühlt, der arme Tor:

    Ihm wuchs in Rom ein einz'ges Reis,

    Bei ihr ein ganzer Blütenflor! — — — 一
    Herbert Silberer.

    Das nüchste Heft des Zentralblaltes erscheint Oktober und bringt Original-
    arbeiten von Otto Laubi (Zürich, Hans Blüher (Berlin, Emil Lewy (Paris),
    Stekel und Furtmiiller.