Varia [Oktober 1913] /1913
  • S.

    Referate und Kritiken, 101

    8. Schluss der Krankheitsgeschichte. Seite 27: „Im Februar ist er auf der
    Strasse besinnungslos aufgefunden worden und hat dann während 2 Monaten das
    Bett gehütet mit fortwährend erhöhter Temperatur; die Ärzte haben keine feste
    Diagnose aufgestellt, und der Vorfall ist als eine Pubertätskrise (?!) charak-
    terisiert worden. Der Patient erzählte mir, er habe das Gefühl einer Lähmung der
    rechten Gesichtshälfte gehabt (vielleicht noch einmal die erwünschte Ohrfeige?) und
    sei dann ohnmächtig geworden“ (betonte Unterwerfung, Ohnmacht, Minderwertigkeits-
    einstellung, Übertreten der Interpretation der Züchtigung).

    Seite 28: „Während der zwei Monate seiner Krankheit hat sich dann eine
    hysterieartige Nervosität eingestellt.“ Und dann wieder Worte und Worte: „ich halte
    den gauzen Fall für interessant, da an ihm das Minderwertigkeitsgefühl als Basis
    zur Hysterie und Neurose beleuchtet ist.“ Aber der Verfasser bemüht sich nicht
    die vielfachen Widersprüche aufzuklären, ⑧

    Seite 32: „Einst, nachdem alles Reden wegen des Fingerkauens nichts genützt
    hatte, gab ich ibm einen leichten Klaps auf seine Finger; sofort ergriff er meine
    Hand und …bedeckte sie mit Küssen, so dass ich vor Staunen einige Sekunden stumm
    blieb.“ Den Pädagogen sollte ein solcher Vorgang nicht unerwartet tiberrumpeln.
    Es ist ja alles ganz gesetzmüssig vorgegangen im Rahmen einer stereotypen
    Dynamik.

    Auf den letzten Seiten lesen wir Zitate aus manchen Autoren, die der Ver-
    fasser als richtig erkennt, z. В. Seite 35: „Hans Rau sagt auf Seite 140 „Die Grau-
    samkeit“. — „Nichts trägt so sicher dazu bei, den Geschlechtstrieb in un-
    natürliche Bahnen zu lenken als körperliche Misshandlung.“ Auch Dr. A. Moll
    spricht von der Gefahr, welche durch die Prügelstrafe dem Sexualempfinden des
    Kindes droht. Wir sehen darin nur die alten Vorurteile und Missverständnisse über
    den sog. ,Sexualtrieb*. Ebensowenig können wir beistimmen Seite 37: „aber es
    entsteben aus diesem Verdrängen dann Symptome, Sublimierungen und die ver-
    schiedensten Reaktionsbildungen, aus welchen dann der Krankheitskern so schwer
    hervorzuheben ist. ... Dem Gros der Menschheit gilt, wie wir glauben, als höchste
    irdische Lust die geschlechtliche, und darum glauben wir auch, führt Freud
    alles darauf zurück“,

    Aus Janet: „Wir müssen ihm nach dem Gesagten beistimmen, wenn er meint,
    dass Neurosen in Wirklichkeit aus einer Art Ermüdung in Erscheinung treten: „Sie
    sind Erschöpfungen, welche die feinsten und vollkommensten Leistungen des Organis-
    mus herabsetzen und lähmen.“

    Zum Schlusse ein Resumé, das ganz richtige Auseinandersetzungen enthålt. Da
    wird Nietzsche, Klopstock, Goethe, Schiller zitiert; der Verfasser zeigt
    auch ein tiefes Verständnis får Tolstoi's Psychologie. Im allgemeinen macht die
    Schrift jedoch mehr den Eindruck einer reichhaltigen Materialsammlung, als einer
    selbständigen Vertiefung pädagogischer Prinzipien, Dr. Н. Birstein.

    Varia.

    Beiträge zur infantilen Sexualität,
    1. Es sei zunächst von einem dreijährigen Jungen berichtet:
    J.: „Wo war ich vor meiner Geburt, Mamma?“
    M.: „In Amerika.“
    J.: „So, in Amerika —, aber wie ist dann mein Gepäck hierher gekommen ?*

    Seitdem erzählt der Bube: „Ich bin schon in Amerika gewesen, davon habe
    ich aber nichts gewusst.“

  • S.

    102 Varia.

    Auf derselben Etage wohnt eine Dame, zu welcher er eines Morgens tiber-
    raschend eintritt. Sie befand sich im Morgenrock, der nur flüchtig zugeknópft war,
    so dass Brüste und Beine sichtbar wurden, als sie sich nach dem Eintretenden er-
    schrocken umblickte. Schnell ordnete sie den Rock und nahm den Jungen auf ihren
    Schoss. Dieser krallte seine Finger unter Zittern und Erróten in ihre Brüste und
    liess nur widerwillig davon ab, als man ihn bedeutete, dass er Schmerzen verursache
    und sagte: „Ach, Fräulein, ich war ja so zart, Fräulein, bitte ich möchte sie zwicken,
    das tue ich so gern.“ Seit jener Begebenheit tritt er täglich in's Zimmer mit der
    Frage: „Fräulein, sind Sie noch im Hoserl?“ und bittet dann: „Ach bitte Fräulein,
    ziehen Sie sich aus, ich möchte Sie gern im Hoserl sehen, ich möchte nämlich gern
    schen, wo das Hoserl auseinander geht." Und damit kein Unberufener etwas sehen
    kann, hängt der Junge (er sieht immer durch das Schlüsselloch) ein Handtach über
    die Túrklinke. Die Dame hob ihn nun hoch und zeigte ihm im Spiegel seine eigenen
    Hosen: „Ach, die interessieren mich nicht, ich habe nur Damenhosen gern.“ Auch
    kommt er nach Verlassen des Klosetrs mit der Bitte zu ihr, ihm doch sein ,Gescháfterl*
    schliessen zu wollen.

    Seinen Hauswirt fragt er, ob er auch ein ,Geschüfterl* hat.

    H.: ,Jawohl, da unten liegt es.“

    J.: „Was machen Sie?“

    H.: „Ich frisiere.“

    J.: „Was, Sie frisieren Ihr Geschifterl? Ich werde Ihnen sagen, was ich für
    ein Geschifterl meine, ich meine Ihre Hose da.“

    Ein andermal geht er zu seiner schlafenden Tante, deren partes posteriores
    ungliicklicherweise unbedeckt unter der Bettdecke hervorschauen. Er küsst ihr diesen
    Korperteil, und als die Tante sagt, das hätte sie sehr gern, küsst er sie immer wieder.

    Der Bube erzählt nun mit den entsprechenden Gesten jedem Menschen: „Ich
    heirate nur eine Frau, die solch einen Nacketen hat, so gebaut, wie Tante G.“

    2. Ein finfjihriges Madchen sehr wohlhabender Eltern zieht sich seit etwa
    2 Monaten sofort mach der Mittagsmahlzeit auf ihr Zimmerchen zuriick mit einem
    weissen Spitz (Hund). In der ersten Zeit schloss sie die Tir hinter sich ab, doch
    als in der Folge sie nie wieder gestört wurde, vernachlässigte sie diese Vorsichtsmass-
    nahme. Plötzlich tritt eines Tages ihre Gouvernante ein und findet das Kind mit
    hochgehobenen Röckchen auf dem Rücken liegen, während es sich vom Spitz die
    Vulva lecken liess. Abgewühnung trat erst ein, als man ihm sagte, im Wieder-
    holungsfalle miisse es sofort sterben. (!)

    3. Ein guter Bekannter, der wie seine Geschwister als Kind am Sonntagmorgen
    linger im Bett liegen bleiben durfte, berichtete mir von folgendem Spiel:

    Sein damals etwa 5jähriger Bruder stieg mit einem Kamm bewaffnet zu ihm
    unter die Bettdecke. Mit diesem Instrument schlachteten sie sich nacheinander ab,
    zunächst wurde unter Quietschen die Kehle durchschnitten, dann der Bauch auf-
    geschlitzt, darauf die Arme und mit besonderer Sorgfalt die Oberschenkel (als
    Schinken) vom Rumpf getrennt. Beide hatten dabei häufig Erektion.

    4. Ein 6jähriger Junge verlangt von seiner Erzieherin stets den nackten Arm
    und drückt ihn dann unter heftigem Zittern, Als sich jene einmal die Brust wäscht,
    starrt er diese wie fasziniert an, so dass der Erzieherin unheimlich wurde und sie
    sich sofort ankleidete. cand. med. Hans Schnorr.

    Der Dichter als Analytiker.
    In selten klarer und zugleich feiner Art beobachtet und schildert Hermann
    Oeser in einem Gedicht aus der Novelle ,Hinterchrist“ den aussichtslosen Kampf
    der progressiven Strémung seiner Libido:

  • S.

    Varia. 103

    Es war einmal ein Ostertag,
    Wo sich die ersten Veilchen fanden,
    Und wir das letzte Sträusslein banden,
    Und hinter mir die Heimat lag.

    Es war einmal.

    Es war einmal ein holder Gang
    Wo Vöglein ängstlich flatternd flogen,
    Und schwere Wolken ostwärts zogen,
    Und Du an mich Dich schmiegtest bang.
    Es war einmal.
    Es war einmal zur Rosenzeit.
    Ich träumt, ich kätt ein Lieb gefunden
    Und war doch an mein Ich gebunden,
    Das nicht zum Sterben noch bereit.
    Es war einmal.
    Es war einmal, das war der Tag,
    Wo ich der Mutter Blick gemieden
    Und eilig zog aus ihrem Frieden
    Zu dem, was dunkel vor mir lag.
    War das einmal?

    Julius Niedermann.

    Wilhelm Busch über Sublimierung und Uberkompensation:

    „Das Gute, — dieser Satz steht fest —,
    Ist nur das Böse, was man lässt.“

    Traumdenterei, Astronomie und Astrologie in China).

    Die Traumdeuter haben seit undenklichen Zeiten in fast allen asiatischen
    Ländern eine wichtige Rolle gespielt. Auch die Chinesen sind jederzeit eifrige Traum-
    gläubige gewesen, und in ihren alten Geschichtsbüchern finden sich Berichte über
    gewisse, in Erfüllung gegangene Träume von Kaisern und hervorragenden Männern.
    Der Auslegung ihrer Träume messen sie grosse Bedeutung bei. Wer ungünstig ge-
    träumt hat, braucht übrigens nicht zu verzweileln, denn der Traumdeuter ist gegen
    eine kleine Vergütung bereit, ihn mit einem Amulet zu versehen, welches die Kraft
    besitzt, das drohende Unglück abzuwenden. Der Traumdeuter schreibt einige ge-
    heimnisvolle Zeichen auf rotes oder gelbes Papier, das er sodann dreieckig falzt und
    seinem Klienten ans Kleid heftet. Hierauf muss der Hilfesuchende den Mund voll
    Quellwasser und in die rechte Hand ein Schwert nehmen, gen Osten blicken, nach
    einiger Zeit das Wasser ausspeien, mit dem Schwerte in der Luft herumfuchteln und
    dabei gebieterischen Tones folgendes sprechen: ,Kbenso schnell und kräftig, wie die
    Sonne im Osten aufgeht, mögest du, geheimnisvolles Amulet, alle übeln Folgen ab-
    wenden, die mein böser Traum nach sich ziehen könnte. Kbenso rasch, wie der
    Blitz die Luft durchzuckt, mögest du, o Amulet, das drohende Ungemach verschwinden
    Jassen.“ Die Beschaffenheit der geheimnisvollen Schriftzeichen variiert je nach dem
    Monatstage, an welchem der Traumdeuter in Anspruch genommen wird.

    Wir lassen hier einige Traumauslegungen folgen, die von Tschan Kung,
    einem altberühmten Traumdeuter, herrühren, der seit langer Zeit als die hervor-
    ragendste Autorität auf diesem Gebiete gilt.

    1) Aus „Himmel und Erde“. Ной 6. 1913.

  • S.

    104

    "Traum :
    Die Himmelspforten öffnen sich, um dem
    Trüumenden Einlass.zu gewühren.
    Schünes Wetter.

    Jemand ist krank und trüumt, dass er
    von einem hellen, vom Himmel kom-
    menden Licht beschienen wird.

    Dass das Firmament hellrot ist.

    Dass der Triumende gen Himmel schaut.

    Er reitet auf einem Drachen gen Himmel.

    Er fliegt gen Himmel.

    Er erhült von den Góttern den Auftrag,
    auf Erden wichtige Aufgaben zu er-
    füllen,

    Das Himmelsgewčlbe spaltet sich.

    Mond- oder Sonnenuntergang.

    Verdunkelung der Sonne oder des Mon-
    des.

    Die Sonne fillt herunter.

    Der Mond fällt herunter.

    Die Sterne fallen herunter.

    Dass es donnert.

    Dass der Träumende vom Blitz getötet
    wird.

    Dass er einen Baum pflanzt.

    Dass er einen Baum erklettert.

    Dass er Kieselsteine in der Hand hält.

    Dass er liebliche Musik hart.

    Dass er die Kaiserin sieht.

    Dass er sich in einem Weinhause be-
    findet.

    Regen und Wind.

    Sehnee.

    Dass der Tråumende gut gekleidet ist,

    Dass er schlecht gekleidet ist.

    Dass er Nonnen sieht.

    Varia.

    Auslegung:
    Glück und Segen.

    Befreiung von jeglichem Kummer wäh-
    rend eines Jahres.
    Genesung.

    Krieg steht bevor.

    Reichtum und Auszeichnungen erwarten
    ihn,

    Beamtenrang wird ihm übertragen.

    Glück in der Ausführung seiner Arbeiten,

    Grosses Glück hinieden und im Jenseits.

    Das Reich wird geteilt werden.

    Der Vater oder die Matter des Träumen-
    den werden bald sterben.

    Ein Sohn des Träumenden wird sich durch
    grosse Begabung auszeichnen.

    Kin Sohn wird ihm geboren werden.

    Kine Tochter wird ihm geboren werden.

    Krankheit und gerichtliche Abstrafung
    stehen ihm bevor.

    Falls er nicht sein Haus verlässt und in
    eine andre Wohnung iibersiedelt, er-
    wartet ihn Ungemach.

    Er hat Aussicht auf Rang und Reichtum.

    Er wird sehr reich werden.

    Ebre und Ruhm.

    Grosse Glückseligkeit.

    Auswürtige Freunde werden ihn besuchen.
    Misserfolge.

    Erfolge.

    Ein Familienmitglied wird sterben.

    Der Tråumende wird bald Trauer tragen.
    Glück,

    Unglück.

    Verlust des ganzen Vermögens.

    Von fast sümtlichen Nationen des Altertums gekannt und gepflegt, ist die

    Astrologie nirgends so heimisch und verbreitet wie in China.

    Die Chinesen hegen

    offenbar nicht die Ansicht, dass die Planeten die Werkzeuge sind, mit deren Hilfe
    die Gotter den Lauf der Ereignisse auf der Erde feststellen; sie glauben vielmehr,
    dass die Himmelskórper selbst jene Macht sind, von der allein das Menschenschicksal
    abhängt. Sie wenden sich daher vielfach an Astrologen, wenn sie über künftige
    Geschehnisse Aufschluss wünschen. Die Zahl der Sterndeuter ist denn auch Legion
    und alle machen gute Geschäfte, Vor jeder Hochzeitsfeier, vor jeder Land- oder

  • S.

    Varia. 105

    Seereise, vor Beginn jeder geschiiftlichen Unternehmung wird ein Astrolog ersucht,
    einen Tag von günstiger Vorbedeutung ausfindig zu machen. Handelt es sich um
    eine Vermählung, so prüft der Sterndeuter die Horoskope der Heiratslustigen und
    die Stunden, Tage, Monate und Jahre ihrer Geburt nach den Regeln seiner Kunst
    und fällt danach seinen Wahrspruch.

    Jeder Monatstag hat seinen eigenen Namen. Im offiziellen Almanach, der all-
    jährlich zu Peking veröffentlicht wird, führen die Hof-Astrologen die zur Vornahme
    oder Unterlassung gewisser Zeremonien und Geschåfte giinstigen oder ungiinstigen
    Tage besonders an. Der von dem aus sieben Sternen bestehenden, drachenformigen
    Gestirn Koksing regierte Tag bringt Gliick, wenn man an demselben wichtige Ge-
    schåfte unternimmt, die Grundsteine neuer Häuser legt, Töchter verheiratet, Ländereien
    kauft oder literarische Prüfungen ablegt. Wer dagegen an diesem Tage seine Eltern
    beerdigt oder Gräber ausbessern lässt, wird binnen drei Jahren vom Unheil heim-
    gesucht. Ganz und gar unheilbringend ist der von der Konstellation Kongsing be-
    herrschte Tag. Auch dieses Gestirn besteht aus sieben Sternen und hat die Gestalt
    eines langgeschwänzten Drachens, auf welchem ein General Namens N'ghon reitet.
    Wer an diesem Tage ein Grundstück oder einen Rang kauft oder eine Tochter ver-
    heiratet oder seine Eltern begräbt, setzt sich den schlimmsten Folgen aus. Noch
    ungünstiger ist der unter dem Taising — einer aus sechs Sternen bestehenden Kon-
    stellation in Form eines Kamels, neben dem ein General namens Kah-Huh steht —
    befindliche Tag. Wer an demselben ein Geschäft unternimmt, dem schlägt es fehl;
    wer sein Feld zu pflügen oder seinen Garten aufzugraben beginnt, hat eine schlechte
    Ernte zu gewärtigen. Begräbt jemand an dem in Rede stehenden Tage Vater oder
    Mutter, so wird binnen kurzem ein Familienmitglied einen Selbstmord begehen. Legt
    ein Werftenbesitzer den Kiel eines Schiffes oder lässt ein Kaufmann eines seiner
    Schiffe in See stechen, so erfolgt ein Schiffbruch. Die Gattinnen von Männern, die
    an diesem Tage heiraten, werden sich bald als untreu erweisen. Auch alle übrigen
    Tage des Monats werden von je einer Konstellation regiert und jedes Sternbild übt
    besondere 一 gute oder schlechte — Einflüsse aus. Nichts auf Erden entgeht der
    übernatürlichen Herrschaft der Sterne; das gesellschaftliche Leben, das Beamten-
    wesen, der Handel, der Schiffbau, die Seidenkultur, die Viehzucht, das Bauwesen,
    das Prüfungswesen, das Reisen, das Ackern, die Berieselung — kurz, alles, alles
    wird von ihnen geregelt.

    Kometen, Erdbeben, Sonnen- und Mondfinsternisse, sowie alle anderen unge-
    wühnlichen Vorkommnisse üben in der Anschauung der Chinesen auf Länder, Herr-
    scher und Untertanen einen guten oder bösen Kinfluss aus. Bei Mond- und Sonnen-
    finsternissen steigen die Leute auf die Dächer ihrer Häuser und machen einen Höllen-
    lårm, um die Himmelshunde vom Verschlucken jener grossen Gestirne abzuhalten,
    Wie bei uns, gelten die Kometen auch in China får Ungliieksvorhoten. Als im Jahre
    1858 alle Ursache zur Voraussetzung vorhanden war, dass zwischen China und seinen
    europäischen Feinden ein dauernder Friedens- und Freundschaftsvertrag zustande
    gekommen sei, erschien plötzlich ein glänzender Komet und vernichtete alsbald die
    Hoffnungen, die die Chinesen auf einen solchen Jangersehnten Vertrag gesetzt hatten.
    In Kanton war man von der Überzeugung, es werde zu neuen Feindseligkeiten
    kommen, so sehr durchdrungen, dass die Einwohner ihre Familien und ihr bewegliches
    Vermögen abermals in Sicherheit brachten,

    Die astronomisch-astrologische Oberbehörde zu Peking bildet eine sehr wich-
    tige Abteilung der Reichsregierung. Sie hat zunächst Tage von günstiger Vor-
    bedeutung für Hochzeiten, Begräbnisse usw. im Kaiserhause zu wählen. Eine ihrer
    Hauptaufgaben besteht in der Anfertigung des offiziellen Jahreskalenders, der auf
    ihren monatlichen Vorhersagungen mutmasslicher wichtiger Ereignisse beruht und

  • S.

    106 Varia.

    in den Hauptstüdten aller Provinzen auf Kosten des Staatsschatzes unter amtlicher
    Aufsicht nachgedruckt wird, um vornehmlich den Beamten zur Verfügung gestellt
    zu werden. Der Druck erfolgt stets im neunten Monat des alten Jahres. Am ersten
    Tage des zehnten Monates werden die für die Beamten bestimmten Exemplare von
    der Druckerei aus unter einem geschnitzten, reichverzierten Holzpavillon in Prozession
    in den Jamen des Vizekónigs oder des Gouverneurs getragen, wo der von Fahnen-
    trüzern und Musikbanden eingeleitete Zug von sämtlichen in der betreffenden Stadt
    dienenden Zivil- und Militårmandarinen erwartet wird, Bei seiner Ankunft stellen
    sich die Zivilbeamten an der Ost-, die Militärs an der Westseite des Jamens auf.
    Der die Kalender bergende Pavillon wird feierlichst zwischen den beiden Menschen-
    reihen hindurchgetragen und inmitten einer sen Halle aufgestellt. Nun schreiten
    alle anwesenden Mandarinen in nördlicher Richtung vor, und sodann findet die Ver-
    teilung des Kalenders statt. Auch für das grosse Publikum werden zahlreiche
    Exemplare gedruckt, deren jedes den Stempel der Pekinger astronomischen Ober-
    behörde aufweisen muss, Obgleich die meisten Staatsbeamten und ein erheblicher
    Teil des Volkes im Besitze von Kalendern sind, gibt die soeben erwähnte Behörde
    den Oberbeamten aller Provinzen behufs Weiterverbreitung Nachricht von jeder
    bevorstehenden Mond- und Sonnenfinsternis; übrigens geschieht Ähnliches ja auch
    bei uns: obgleich fast jedermann einen Kalender besitzt, machen die Zeitungen den-
    noch Mitteilungen von jeder zu gewärtigenden Verfinsterung der Sonne und des
    Mondes.

    Im siebzehnten Jahrhundert, als die Jesuiten sich am chinesischen Kaiserhofe
    grossen Einflusses erfreuten, schenkte der Hof dem Studium der Astronomie grosse
    Aufmerksamkeit. Die Jesuiten, die sich als Lehrer dieser Wissenschaft Verdienste
    erwarben, waren sehr fleissig und erwirkten 1662 die Errichtung einer Sternwarte,
    deren Überbleibsel — einige ausgezeichnete Instrumente — noch gezeigt werden,
    Die Jesuiten wurden dem Kaiser Kamhi 1688 von Ludwig dem Vierzehnten mit
    folgenden Zeilen neuerdings empfohlen: „Höchster, ausgezeichnetster, mächtigster,
    grossmütigster Herrscher! Vielgeliebter, guter Freund! Möge Gott deine Grösse
    mehren und alles glücklich zu Ende führen! Nachdem wir in Erfahrung gebracht,
    dass Ew. Majestät den Wunsch hegten, um Ihre Person und in Ihrem Reiche eine
    beträchtliche Anzahl gelehrter, in den europäischen Wissenschaften wohlbewanderter
    Männer zu haben, beschlossen wir vor einigen Jahren, Ihnen sechs gelehrie Mathe-
    matiker, französische Untertanen, zu senden, damit sie Ew. Majestät über die merk-
    würdigsten Wissenschaften Aufschluss geben, namentlich über die astronomischen
    Beobachtungen der berühmten Akademie, die wir in unsrer guten Stadt Paris ge-
    gründet haben.“ L. K.

    Ein Fall von Gedankeniibertragung im Traum’).

    Einen sehr beachtenswerten Fall von Gedankenübertragung im Traum be-
    richtete mir unlüngst einer meiner Schüler, ein Kandidat der Theologie. Das Vor-
    kommnis ist so gut bezeugt und steht so fest, dass es an Ort und Stelle auf jene
    Kreise grossen Eindruck machte, die, an einer zum Teil veralteten scholastisch-
    aristotelischen Psychologie zåhe festhaltend, das Bestehen eines Unterbewusstseins
    und der Telepathie hartnäckig leugneteu. Der betreffende Kandidat hatte den Direk-
    tor seines Seminars um Weihnachtsurlaub gebeten, aber vergeblich auf die Bewilligung
    gewartet, so dass er seinen Eltern schrieb, sie möchten seine Heimkunft nicht er-
    warten, er komme nicht. Nach einigen Tagen ward ihm aber gegen sein Erwarten
    der Urlaub doch noch bewilligt. Der Kandidat war nicht wenig überrascht, als er
    nach Hause gekommen, erfuhr, dass eine seiner Familie befreundete Dame seine

    1) Psychische Studien. XL. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1918.)

  • S.

    Varia. 107

    Ankunft zufolge eines ibr gewordenen Wahrtraumes bereits angekündigt habe. Auf
    Ersuchen des jungen Theologen hat die Dame ihre Eindrücke schriftlich in folgender
    Weise geschildert:

    „Die Nacht vor Ihrem Eintreffen tråumte mir, Sie seien mit mehreren Herren
    versammelt. Hierbei erinnerte sich der Herr Direktor, dass Sie um Urlaub nach-
    gesucht hatten. Er entschuldigte sich, er habe infolge vieler Arbeit und Aufregung
    ganz darauf vergessen. Sie hatten schon beschlossen, nicht mehr nachzusuchen.
    Herr Direktor gewährte Ihnen vier Tage Urlaub, welchen Sie auch sofort antraten.
    Im Traume war ich selbst anwesend. Herr Direktor war ein mittelgrosser, schwarzer
    Herr. Am Sonntag vor Weihnachten hatte ich durch Ihre Frau Mutter erfahren,
    dass Sie wohl nachgesucht, aber keinen Urlaub bekommen hätten!“ —

    Das Merkwürdigste ist, dass alle von der Schreiberin bemerkten Einzelheiten
    genau zutreffen. Der Kandidat befand sich auf dem Korridor im Gespräch mit
    einigen Mitalumnen, als sich ihm der Direktor nåherte unter den oben angegebenen
    Worten. Auch die Schilderung seines Åusseren stimmt vollkommen. Wir brauchen
    zur Erklårung dieses Faktums nicht anzunehmen, dass ein wirkliches Fernsehen
    stattgefunden vermittelst des sog. transzendentalen Subjekts (nach du Prel) oder
    dass die Psyche der Schlafenden ihren Zusammenhang mit dem Körper gelockert
    und sich räumlich hätte nach F. versetzen können, sondern die Sache erklärt sich
    damit, dass der von freudiger Erregung erfüllte junge Mann die kurz vorher erlebte
    Szene in den Schlaf hinübernahm, seiner Angehörigen und Freunde in M. lebhaft
    gedachte und das ganze Erlebnis, die Worte und das Bild der Szene aus seinem
    Unterbewusstsein auf das für telepathische Einwirkung empfängliche Unterbewusstsein
    der schlafenden Dame, die sich wobl schon vorher im Wachen viel mit ibm be-
    schäftigt hatte, übertrug. Dr, J. Clericus.

    Eine Aufgabe für Traumdeuter.

    2 Der bekannte Schriftsteller Stabsarzt Dr. Heinrich von Schullern hat in
    der Ost. Standeszeitung vom 15. V. 1913 einen Traum veröffentlicht, den er dem
    Traumdeuter Dr. Wilhelm Stekel gewidmet hat. Dieser Traum lautet:

    Die Rettung der Mona Lisa.

    Ein ganz junger Mann irgendwo in den U. 8. A, sagen wir Sir James
    Brinton mit Namen hat jüngst seinen Vater verloren und eine Milliarde geerbt,
    auch Kunstschitze von unendlichem Wert und Pretiosen. Die Mutter war Jahre
    früher gestorben, Geschwister hatte er mie besessen. So kam es, dass der zarte
    Junge unter der Last der Milliarde beinahe niedersank. Er alleiniger Erbe all der
    Friichte jahrzehntelanger genialer Spekulationen seines Vaters! Der alte Sir Carleton
    Brinton war plötzlich infolge eines Herzschlages gestorben und man hatte kein
    Testament finden können, Wochen nach dem Ereignisse brachte der junge Brinton
    erst die nötige Tatkraft auf, ein Inventar des Besitzstandes anzulegen, Ganz am
    Schlusse seiner Arbeit betrat er seines Vaters Lieblingsvilla, in derem Parke nur
    Pflanzen aus fernen Ländern wuchsen, Pflanzen, die einen fremden Duft ausstromten
    und in Farben prangten, die man nie gesehen. Der Jiingling scheute sich lange
    Zeit, die Villa zu betreten; das Gefühl beherrschte ihn, dieses Blumenlusthaus habe
    der Vater nur für sich allein erbaut. Denn nur er selbst und sein alter Diener hatten |
    es je betreten dürfen. So eilte James ganz scheu, nur gefolgt von einem seiner
    Sekretäre durch die Pracht der Räume.

    Erst spåter einmal, als eine Spur von Ruhe zu ihm gekommen war und ihn
    die Villa stårker zu locken begann, gewahrte er darin eine Gebeimtiire. Zu dieser
    passte ein zierlicher goldener Schlüssel, den er im geheimsten Fache von seines

  • S.

    108 Varia.

    Vaters Sekretär gefunden hatte. Diese Tire erschloss ein kleines Gemach, das voll
    war von verwelkten blauen Rosen. Und die Rosen waren wie huldigend um ein
    verhülltes Bild gruppiert.

    Mit grosser Mühe nur war das Bild zu entschleiern. — ~~ — — 一 一
    Mona Lisa!

    Es dauerte lange, bis sich James fassen konnte. Es war ausgeschlossen, dass
    hier eine Kopie von Da Vincis góttlichem Werke vor ihm hing. Mona Lisa!

    Der Jiingling warf sich auf eine Ottomane und starrte vor sich hin. Kin
    Orkan angstvoller Empfindungen durchtobte seine Seele.

    „Vater! Vater!*

    Bei jedem Geräusche schrak er empor. Sein Geist war wie verwirrt; er
    wusste nicht, was er im Augenblicke beginnen und was er lassen sollte. Mit zitternden
    Händen verhiillte er das Bild, schleppte vor dasselbe, was nur geeignet war, es zu
    verstellen und zu verstecken; dann schloss er sorgfältig die Geheimtiire ab und
    zerrte noch mit verzweifeltem Anfwande der ganzen Kraft seines schwächlichen
    Körpers ein schweres Môbelstück davor hin.

    Dann wandelte er stundenlang, die widerstreitendsten Pläne fassend und doch
    immer von neuem planlos, im Parke hin und her.

    Was um alle Goldschätze der Welt war in diesem entsetzlichen Falle zu be-
    ginnen! Sein Vater ein Dieb, sein Vater, des ganzen Freistaates angesehenster
    Mann ein Dieb, ein Dieb!

    Erst wollte er mit seiner Biirde zum Kammerdiener des Verewigten fliichten,
    damit er ihm helfe zu tragen. Aber der war noch nicht lange aufgenommen; den
    alten, der den Vater aufwachsen gesehen, den hatte der Tod erst vor kurzem
    wenige Tage vor seinem Herrn hinweggerafft. So beschloss denn der Erbe, das
    furchtbare Geheimnis niemandem zu verraten. Aber um so schwerer driickte es auf
    seine eigene Seele. Ja, es drohte dies zarte, zweiflerische Ding unter seinem Ge-
    wichte zu zermalmen. Brinton litt über seine Kraft. Zu irgendwelchem Schritte
    vermochte er sich nicht aufzuraffen. Er verbot nur jedermann bei Strafe sofortiger
    Entlassung, auch nur den Park von Vaters Lieblingsvilla zu betreten. Dann kam
    ihn wieder der Schrecken an, durch diese Verfügung lenke er aller Augen und aller
    Gedanken gerade nur auf das Versteck des schrecklichen Erbstiickes. Befehle und
    Gegenbefehle jagten sich. Wie ein Geistesabwesender schlich er, der Erbe ungeheuren
    Reichtums, nur immer durch den verwildernden Park um seines Vaters Lieblingsvilla.
    Er bekam das Aussehen eines einsamen Menschenkindes, das furchtbar schwerer
    Kummer driickt, eines Menschenkindes, dem der Tod gleich einem Erløser ist. Und
    er magerte ab, seine Wangen waren hohl und blass und sein Auge, wenn es auch
    unståt sich bewegte, schien gebrochen wie das eines Verstorbenen.

    Da war es, dass sich bei ihm ein fremder Herr zu melden kam, der ihn wegen
    geschiiftlicher Dinge ohne Aufschub zu sprechen begehrte. Es hatten eine Unmenge
    von Leuten wegen geschäftlicher Angelegenheiten schon mit ihm in aller Eile zu
    sprechen gewünscht. Deshalb sah James an der Sache nichts Auffallendes und

    . empfing den Mann. Doch lieh er auch ihm, abgelenkt durch die furchtbaren Sorgen,
    die ihn driickten, nur einen kleinen Bruchteil seiner Aufmerksamkeit. Erst als der
    Mann ganz leise den Namen Mona Lisa gleichsam über seine Lippen fliessen liess,
    da riss Brinton den Kopf empor und starrte, von seinem Sitze emporschnellend, den
    Unbekannten mit weit aufgerissenen Augen an. Auch der Fremde erhob sich, trat
    auf den jungen Milliardär mit ein paar raschen Schritten zu und flüsterte hastig
    die Worte:

  • S.

    Varia. 109

    „Sir Brinton, ich bin der Mann, der . . .“

    „Der Mona Lisa entwendet hat?“

    „Der Mona Lisa aus dem Louvre entwendet hat, im Auftrage Ihres Vaters.“

    Der Fremde hielt den Kopf hoch, nicht eine Spur von Reue, von Scham lag
    in seinen Zügen. James hatte kein Verständnis für solchen Verbrecherstolz. Scheu
    blickte er den Unbekannten von der Seite an. Ein Schauer nach dem andern liess
    seinen schwächlichen Körper erbeben:

    „Sie Unseliger, Sie müssen mir helfen, Sie müssen! Bringen Sie das ent-
    setzliche Bild wohin Sie wollen, nur fort, fort, fort mit ihm! Befreien Sie . .!“

    Die Stimme blieb Brinton in der Kehle stecken. Schwäche und Schwindel
    kamen ihn an, er liess sich in seinen Fauteuil zurückfallen und schloss die Augen.

    Da hörte James die Stimme des Fremden dicht an seinem Ohr:

    „Wohin wir das Bild bringen, überall wird es entdeckt werden und von
    überall wird man mit Leichtigkeit den Weg zurückfinden zur Villa, die Sir Carleton
    Brinton, Ihr Vater, für Mona Lisa erbaute.“ — — —

    „Mein Vater, was hast du getan!“

    James begann sein Gesicht in die Hände zu vergraben,

    „Ihr Vater liebte das Bild, er liebte Francesco del Giocondo’s schöne Gattin,
    Ihr Vater war dem Wahnsinn nahe, seit er dies Antlitz im Louvre gesehen.“

    „Schaffen Sie es fort, schaffen Sie es fort! Keine Summe ist mir zu gross . ..!“

    „Ich sagte doch: Unmöglich, Sir Brinton! In ganz Amerika kennt jeder Polizist
    die Züge Mona Lisa's.“

    „Was aber wollen Sie von mir, warum kommen Sie zu mir?“ stöhnte der
    Unglückliche.

    „Ich komme, Sir Brinton, um Ihnen den — einzigen Ausweg zu sagen, der
    uns schiitzt. Sie und mich. Uberlegen Sie; es gibt nur einen einzigen Ausweg.
    Ich will nichts von Ihnen; Ihr Vater ist tot, mit ihm seine Gier dieses Besitzes.
    Ich will nur meine, unsere Sicherheit.“

    Der junge Milliardär verfiel in Briiten.

    „Quilen Sie mich nicht!“ stóhnte er alsbald, ,foltern Sie mich nicht! . . .*

    Plötzlich durchfuhr ibn ein Gedanke,

    „Sie haben Recht. Es gibt nur einen Ausweg. Das Bild muss zurück an
    seinen Platz im Louvre zu Paris. Ich biete eine Million . . .*

    „Bieten Sie zwei Millionen“ lächelte der Fremde.

    „Auch zehn, was Sie wollen, nur fort, fort mit dem Bilde!“

    „Und wenn sie mir eine Milliarde bieten, ich kann nicht, was Sie von mir ver-
    langen. Denken Sie an die Grenzen, denken Sie an die hundertfache Bewachung des
    Louvre, Sir Brinton. Man wird das Bild früher entdecken und mit Leichtigkeit den Faden
    zurückverfolgen zur — Villa, die Sir Carleton Brinton für seine Göttin erbaut hat.“

    James lag marmorbleieh in seinem Fauteuil, die Lippen bewegten sich im
    Takte seines Pulses. So arbeitete sein Herz.

    „Reden Sie, reden Sie, ich flehe Sie an! Sie müssen das Bild zurückbringen
    woher Sie es genommen!‘

    Der Fremde zog die Augenbrauen empor und kicherte leise vor sich hin.

    »Ich habe damals 12 Tage an meinem Plane geschmiedet und gefeilt, bis ich
    es wagte, dies Weltkleinod zu entwenden. Wenn ich nun aber 12 Jahre lang nach-
    grübelte, wie ich es machen solle, Mona Lisa wieder unentdeckt an ihren Platz
    zurückzubringen, es könnte mir nicht gelingen. Es würde heissen, einen Rekord,
    meinen Rekord zu schlagen, der nicht — zu schlagen ist. Nur eine einzige
    Möglichkeit. bleibt, jede Gefahr für uns zu tilgen. Denken Sie an den Namen, das
    Andenken Ihres Vaters. Es gibt nur einen Ausweg, Sir James!“

  • S.

    110 Varia.

    „Welchen, welchen? Ich will Sie belohnen, wie noch nie ein Mensch belohnt
    wurde, wenn Sie mir die Ruhe wieder bringen. Ich sterbe vor Angst. Ich beneide
    jeden Bettler . . ."

    Da hörte er wieder das leise Kichern des Fremden.

    Dann flüsterte es an seinem Ohr:

    „Mona Lisa muss zu . .'*

    „Mona Lisa muss . . ‚2%

    „Muss zu — Asche werden!‘

    Vor den Augen des Jünglings begann ein wüstes Funkentanzen, wie ein
    grosses Fallen von Sternschnuppen auf dem schwarzen Grunde des Nachthimmels.
    Dann blieb nur das Schwarz des Himmels.

    „Das Andenken Ihres Vaters! . . Ich komme wieder! . . Denken Sie an Ihren
    Vater!“

    Das letzte, was sein Obr noch zu fassen vermochte. Dann schwand ihm die
    Besinnung.

    Als er erwachte, stand ein Arzt an seiner Seite. Diener huschten durch das
    Zimmer. Der Unbekannte war verschwunden.

    Niemand wusste eine Erklärung dafür, warum dieser Jüngling inmitten seines
    Reichtums unrettbar der Schwermat verfiel. Man gedachte wohl der Verehrung,
    die er für den Vater stets gehegt. Doch der Schmerz um die Toten pflegt in
    Wehmut sich zu lösen. James Wangen hingegen wurden immer blässer und hohler,
    sein Geist immer absonderlicher. Stundenlang sperrte er sich ein, hinter Doppel-
    türen, damit niemand ihn hörte, wenn er mit sich selber sprach. — Seine Seele
    hätte er dem Teufel lächelnd verschrieben, würde ihm dieser das fürchterliche Bild
    dorthin zurückgebracht haben, woher es gekommen. Der masslose Frevel, musste
    er denn geschehen, die Vernichtung eines Denkmals, das unersetzlich war? Da
    Vinci's Werk, es war Eigentum der — Menschheit! Sein Vater hatte es dieser
    Menschheit nicht genommen. Nur für eine Spanne Zeit verborgen. James schwindelte
    es bei dem Gedanken. Der Wahnsinn reckte seine Krallen nach ihm aus. Kr sollte
    es — vernichten?

    Hier bricht das Traumbild, dass der Dichter Die Rettung der Mona Lisa
    betitelt, ab. . . .

    Unsere Aufgabe ist es, den geheimen Sinn dieses Traumes herauszufinden,
    Ich enthalte mich jeder Deutung und lasse anderen Kollegen das Wort. Stekel.

    Zum „Lust- und Realitiitsprinzip“.

    Sermosi (Imago I, 3 ,Symbolische Darstellung des Lust. und Roalitüts-
    prinzips im Ódipusmythus*) zitiert eine Stelle aus einem Briefe Schopenhauers
    an Goethe, in der der Odipus des Sophokles als Repräsentant des Realitätsprinzips,
    Jokaste als Typus des Lustprinzips dargestellt wird. Sermosi fügt hinzu: „Nicht
    schlecht würde zu dieser Deutung stimmen, dass nach alltäglicher Erfahrung die
    Verdrängungsneigung, also das Lustprinzip tatsächlich beim Weibe, die Fähigkeit zu
    objektiver Urteilsfällung und zum Ertragen schmerzlicher Einsichten, d. h. das
    Realitätsprinzip, im allgemeinen beim Manne vorherrscht.“ Hierzu zitiere ich
    Schnitzler, Masken und Wunder, S. 176 (Das Tagebuch der Redegonda) „Und
    dass sie als Weib den Urgründen des Lebens, wo Wunsch and Erfüllung
    eines sind, näher war als ich, war sie wahrscheinlich im tiefsten überzeugt ge-
    wesen, alles das, was in ihrem violetten Büchlein aufgezeichnet stand, wirklich
    durchlebt zu haben.“ Marcus,

  • S.

    Varia. ⑪①

    Frank Wedekind über sexuelle Aufklärung.

    „Unsere Jugend hat es nun aber meiner Ansicht nach gar nicht in erster Linie
    nötig, sexuell aufgeklärt zu werden. Kine genauere Aufklärung über Vorgänge und
    Gefahren der Sexualität hätte jedenfalls nicht das Haus, sondern die Schule zu be-
    sorgen. Das Haus, die Familie aber hat die heranwachsende Jugend vor allem
    darüber aufzuklären, dass es in der Natur überhaupt gar keine unanständigen Vor-
    gänge gibt, sondern nur nützliche und schädliche, vernünftige und unverniinftige.
    Dass es in der Natur aber unanständige Menschen gibt, die über diese Vorgänge
    nicht anständig reden oder die sich bei diesen Vorgängen nicht anständig benehmen
    können,“ Dr. W. B.

    Die Eifersucht der Mutter auf die Tochter.

    ‘Wieder berichten die Blätter über ein Drama, das tief in die Abgründe der
    menschlichen Seele hincinleuchtet, Wir entnehmen dem Wiener Montags- Journal
    folgende Nachricht:

    Von der Schwiegermutter erstochen. Hier versuchte eine Frau
    Wasilewska aus Eifersucht ihren zukünftigen Schwiegersohn Zaviko wski zu
    ermorden. Sie hatte erklärt, dass er, falls er ihre Tochter heirate, nicht lebend das
    Haus verlassen werde. Am Abend vor der Trauung machte sie ihren Schwiegersohn
    betrunken und versuchte, ihm in der Nacht mit einem Rasiermesser den Hals zu
    durchschneiden. Zavikowski erwachte und schlug der Frau die Waffe aus der Hand.
    Er hatte aber so schwere Verletzungen erlitten, dass er sterbend ins Kranken-
    haus gebracht wurde. Dri W. B,

    Kinderbriefe.

    Eine mir befreundete Lehrerin nahm sich die Mühe, die Briefe, welche die
    Kinder einander schreiben, zu sammeln. Die Briefe stammen aus der dritten Volks-
    schulklasse in einem grösseren Dorfe.

    Ein Knabe schreibt an ein Mädchen: Bitt komm heite abend zub mir ich
    wehrde dich dan v....n.

    Ein anderer Brief. Schreiber unbekannt. „Du kanst mich in 8.1......... ⑧

    Ein anderer Knabe schrieb einem Mädchen (ebenfalls 3. Volksschulklasse)
    Folgendes:

    „Du bekommst ein kleines Kind; das Ludern ist sehr gut.“

    Auf einem anderen Zettel stand:

    „Der Wechdern und dei Refenner heirroden.“ Stekel.

    Aus der Kinderstube.

    Ein ⑤j&hriges Mädchen versichert bei jeder Gelegenheit, sie werde ihren Papa
    heiraten. Einmal sagt er: „Aber geh, was sollt ich denn mit dir anfangen!“ Sie
    antwortet: „Na, was du halt mit der Mama anfiingst!“

    Auch den kleinen Nachbarssohn möchte sie heiraten. Aber den Papa dazu.

    Ihre 7jährige Schwester arrangiert ein Spiel folgendermassen: Sie und ihr
    etwas älterer Bruder „heiraten“. Grosse Zeremonie unter einem Baum, der ich
    leider nicht beiwohnen durfte, Dann bekommen sie ein Kind (die Puppe wird in die
    Wiege gelegt). Die kleine Gretel möchte auch „Kind“ sein, wird aber abgewiesen:
    „Das passt nicht. Du musst die Köchin sein!“ Wenn das Spiel soweit gediehen
    ist, geht es nie weiter. Meinen Vorschlag, mit dem Kind spazieren zu gehn, lehnen
    sie blasiert ab. Es geht ihnen wie den Grossen: nachher — wissen sie nichts mehr
    anzufangen. F. Tenebris.

  • S.

    112 Varia.

    Der hartnäckige Setzer.

    Tm letzten Hefte des Zentralblattes teile ich auf Seite 634 ein Verschreiben
    mit, in dem ich einer klerikalen Zeitung statt Redaktion Reaktion schreibe.
    Der Setzer druckt aber immer beharrlich Redaktion, obwohl ich zweimal korrigierte.
    Der Satz hiess: an die Reaktion der N. N. Zeitung. Und das wollte dem Setzer
    nicht gefallen.

    Der Kongress fiir medizinische Psychologie in Wien hat sich unter leb-
    hafter Beteiligung der Jugend vollzogen. Von den berühmten Wiener Forschern
    fehlten viele aus verschiedenen Gründen. Uber „Verdrängung und Konversion“ ent-
    spann sich eine lebhafte Debatte. Wir werden über den Kongress in der nächsten
    Nummer ausführlich. berichten.

    Der private Kongress der „Internationalen Vereinigung fiir Psychana-
    Туве“ wurde heuer in München abgehalten, Die Gegensätze prallten heftig aufein-
    ander. Die Einsichten sagen sich schon heute, dass die grossangelegte Organisation
    nicht mehr lange zu halten sein wird. Die Wissenschaft kann dabei nur gewinnen,

    Die Wissenschaft der Psychotherapie hat eine schöne Hoffnung zu be-
    klagen. Der Mediziner Ernst Marcus, den unsere Leser aus verschiedenen Refe-
    raten und kleinen Arbeiten kennen, ist in den Bergen von einer Schneelawine er-
    fasst worden und zu Grunde gegangen. Jeder, der den hochintelligenten strebsamen
    Jiingling gekannt hat, wird diesen Verlust beklagen.

    Ein Versåumnis ist noch nachträglich gut zu machen. Dr. Karl Schrötter,
    dessen Arbeiten iiber experimentelle Tråume in der wissenschaftlichen Welt ein so
    grosses Aufsehen gemacht haben, hat seinem Leben am 9. Mai d. J. ein gewaltsames
    frühes Ende bereitet. Karl Schrötter kam 1887 in Olmütz zur Welt. Die kleine
    Bischofsstadt umschloss seine Knabenzeit. Nach der Matura, die er 1904 ablegte,
    verbrachte er ein Jahr in Graz an der Universitit mit Arbeiten im psychologischen
    Laboratorium. Dem Studium der Psychologie widmete er sich auch in Wien, wo
    er von seinen Lehrern Jodl, Stohr und Swoboda bald als eine der bedeutsamsten
    Hoffnungen der jungen philosophischen Generation anerkannt wurde. In Wien er-
    warb er sich ferner (1907) das Diplom der Pharmazie, dann den Doktorhut (191°).
    Seine Dissertation über die periodische Wiederkehr nicht assoziierter Vorstellungen,
    schuf ihm trotz seiner jungen Jahre einen Kreis von Verehrern, den seine prächtigen
    Vorträge in der Philosophischen Gesellschaft („Über die Lüge“, „Die Wurzeln der
    Phantasie“, „Traum und Suggestion“, „Das Heimweh“) stets vergrósserten. Er hatte
    nun das Studium der Medizin ergriffen und bereits die ersten Rigorosen mit Erfolg
    abgelegt, als ihn der Tod mitten aus seinem Aufstieg riss.

    Karl Schrötter war als Psychologe ein Anhänger der empirisch-experi-
    mentellen Methode, obgleich er durchaus nicht zu Wundts Schule zählte, sondern
    jener modernen Richtung angehörte, die, ohne sich auf einzelnes zu spezialisieren,
    vom ganzen Menschen ausgeht, dessen psychophysischen Organismus sie psycho-
    biologisch durchforscht. Seine wichtigsten Anregungen empfing er von Avenarius,
    Stöhr und Swoboda. In der letzten Zeit wirkte auch Freud's Psychoanalyse
    auf ihn ein, deren Extremen er sich allerdings nicht anschloss, Sein letztes Werk, zu-
    gleich sein erstes grosses, war das „Buch über den Traum“, das seine Habilitations-
    schrift bilden sollte, bereits dem Abschlusse nahe gerückt war. Es blieb ein Torso...

    Im nächsten Hefte erscheinen Arbeiten von Niedermann (Ermatingen),
    Freschls (Wien), Stekel, Paul Schrecker (Wien), Asnaurow und Köhler
    (Heidelberg), Cornelius (Paris).