Aus Vereinen und Versammlungen B [März 1914] /1914
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    Referate und Kritiken. 309

    grosses sein muss. Gerade unter den Neurotikern werden wir die meisten Mystiker
    finden, Sie stossen sich alle an die Realität und suchen die Grenzen ihres Lebens
    zu erweitern. Aber auch sonst findet sich in dem Bändchen manches interessante
    psychologische Problem behandelt. Dr. W. B.

    Aus Vereinen und Versammlungen.

    Janet über die Psychoanalyse”.
    (Originalbericht iiber den 17. internationalen Kongress fir Medizin in London.)

    Sind die psychoanalytischen Forschungen iiber Sexualitåt in meinem Referat
    exakt zusammen gefasst? Viele Schiiler der Freud'schen Schule wiirden dies viel-
    leicht bestreiten und mir vorwerfen, dass ich das. Wort Sexualität in einem zu wort-
    lichen und zu brutalen Sinn nehme. Ein Artikel Freud's scheint die Kritik, der
    ich mich ausgesetzt habe, vorweg zu nehmen. Vor einigen Jahren hatte eine von
    ihrem Mann getrennt lebende Frau, die an Depressions- und Angstzuständen litt,
    einen jungen Arzt, einen Freudschüler konsultiert. Dieser junge Arzt erklärte
    der Patientin als gelehriger Schüler Freud's, dass alle ihre Störungen von einer
    ungenügenden sexuellen Befriedigung kämen und verordnete ihr folgendes einfache
    Rezept: „Entweder die Ehe wieder aufnehmen oder sich einen Liebhaber halten.“ Zu
    meiner grossen Beschämung muss ich gestehen, dass mir der Einfall dieses Kollegen
    nicht so übel scheint; vielmehr glaube ich, dass er die ihm gelehrte Auffassung sehr
    korrekt angewendet hat. Die Kranke jedoch behauptete, dieses Rezept leider nicht
    anwenden zu können und klagte durch diesen Rat in Verwirrung gesetzt zu sein,
    Freud nahm ihre Beschwerden auf und tadelte seinen allzu gelehrigen und kom-
    promittierenden Schüler in einem heftigen Artikel’). Er erklärte, dieser Schüler habe
    den Sinn des Wortes „Sexualleben“ zu eng gefasst und nur auf rein somatische
    Funktionen angewendet, während die Psycho-Analyse das Wort in einem viel weiteren
    und moralischeren Sinne nimmt. Alle zärtlichen und liebevollen Empfindungen müssten
    als dem Sexualleben zugehörig betrachtet werden, denn sie haben in dem ursprüng-
    lichen Geschlechtstrieb ihre Quelle. Wenn man von diesen Dingen spreche, müsse
    man das Wort sexuell „sublimieren*. Um die Verantwortlichkeit für die fälschlichen
    Anwendungen der Psycho-Analyse zu vermeiden, erklärte der Leiter dieser Schule
    eine internationale Organisation gründen zu wollen; durch diese Organisation sollte
    allen denen, die zur korrekten Anwendung der psychoanalytischen Prinzipien unge-
    eignet erscheinen, untersagt werden, sich als Mitglieder dieser Schule zu bezeichnen,

    1) Da die bekannte Rede von Janet über Freud in den meisten Berichten
    verstümmelt und entstellt wiedergegeben wird, haben wir uns entschlossen, den
    Vortrag nach dem Originalbericht zu publizieren. Unsere Leser ersehen daraus, dass
    Janet auch die grossen Verdienste Freud’s nicht übersieht und seine Bedeutung
    würdiger anerkennt, als es die Berichte glauben liessen, die sich an einzelne Stellen
    der Rede hielten und andere wichtige unterdriickten. Die Schriftleitung.

    2) S. Freud. Über wilde Psycho-Analyse. Zentralblatt für Psycho-Analyse
    1910 ibid. 91 Acher, op. cit., American Journal of Psychology, 1911, p. 425.

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    310 Aus Vereinen und Versammlungen,

    Wir wollen bei der Sonderbarkeit dieser Schlussfolgerung und diesen Ex-
    kommunizierungsgebráuchen gegenüber Ketzern nicht weiter verweilen: Haben wir
    doch Analoges bereits in der von Eddy geleiteten „Christian Science“ gesehen. Wir
    wollen nur bemerken, dass uns zahlreiche Autoren gleichfalls darüber belehrt haben,
    dass man das Wort Geschlechtstrieb in einem viel allgemeineren und poetischeren
    Sinn nehmen müsse, als dies von unserer Seite geschehen ist. Jung sagte uns
    bereits, dass der Sexualinstinkt die Basis aller unserer Neigungen und unseres ge-
    samten Wollens ist, die Libido sei die echte Lebenskraft. Auch J. J. Putnam
    sagte uns, dass man zum Verständnis dieser Lehren das Wort „sexuell“ in einem
    möglichst weiten Sinn nehmen und ihm alle zårtlichen und edlen Gefühle subsumieren
    müsse, denn die ganze Zivilisation bestiinde einzig in der Umwandlung und Sub-
    limierung dieses Instinktes!). A. Maeder råt, das Wort im Sinne der Poeten zu
    nehmen, wenn sie sagen, dass der Hunger und die Liebe die Welt leiten?). Schliess-
    lich drückt sich E. Jones noch viel deutlicher aus: er erklärt uns, dass der Sinn,
    in welchem Freud das Wort Sexualinstinkt genommen hat, der gleiche ist, wie der
    des Wortes Lebenswille bei Schopenhauer oder der des Wortes ,élan vital“ in
    der Philosophie Bergsons?). Das ist einmal klar: Alle von den Psycho-Analy-
    tikern verwendeten Worte wie ,Sexualinstinkte, Genitalempfinden, Drang nach dem
    Koitus, Libido“ u. a. bezeichnen ganz einfach den élan vital der Metaphysiker.

    Mehrere Autoren haben bereits gegen diese endlose Erweiterung des Wortes
    Geschlechtstrieb protestiert. Otto Henrichsen bemerkt, dass Freud tatsächlich
    ein Mystiker wird, wenn er von der Libido spricht und dass er durch die Sublimie-
    rung die Bedeutung dieses Wortes derart ausdehnt, dass er schliesslich dazu gelangt,
    es auf alles anwenden zu wollen. Ladame protestiert gleichfalls gegen diesen
    Sprachmissbrauch und erinnert an das geistreiche Wort von André Beauquier:
    „Man muss die Worte respektieren, sie mit Sorgfalt gebrauchen, sich davor hüten,
    sie zu verdrehen, sie durch Abschneiden der Wurzeln zu verderben, ....... die
    Worte hängen nicht von uns ab“ 7).

    Ich teile die Meinung dieser Kritiker durchaus und habe bereits vor langer
    Zeit gegen ähnliche Sprachmissbräuche gekämpft. Bereits zur Zeit, als in Frankreich
    die Suggestionsepidemie wütete, mit welcher die psycho-analytische Bewegung so viel
    Ähnlichkeit hat, wiederholten die Enthusiasten immer wieder, dass alle psycho- und
    physiologischen Erscheinungen Suggestionen seien: Die Krankheiten waren alle
    Suggestionen, die Heilungen waren Suggestionen, der Unterricht war Suggestion, die
    Religion war Suggestion und sofort. Da diese Autoren übrigens alle Bemühungen
    anwandten, um den Begriff Suggestion zu definieren, und daraus jedes Phänomen zu
    machen, das irgendwie in das Bewusstsein oder in das Gehirn eindringt, so war es
    ihnen ein leichtes, triumphierend zu erklären, dass alles Suggestion sei. Ich habe
    gegen diese für die Philosophie wie für die Medizin gleich unheilvolle Art, die Dinge
    in einen Wirrwarr zu bringen, zu protestieren gesucht. Wenn man das gleiche Spiel
    mit einem Wort, welches sich hierzu noch weniger eignet, mit dem Wort „Geschlechts-
    trieb“ wieder beginnen will, so muss ich heute den gleichen Protest wiederholen.

    Diese Redeübungen sind in Wirklichkeit sehr leicht: Mit ein wenig Deutungs-
    kunst, Verdrehung, Dramatisierung, Herausarbeitung und sehr wenig kritischem Geist

    1) J. J. Putnam, Personal impression of S. Freud and his work. Journal of
    Abnormal Psychology 1910 p. 375.

    2) А. Maeder, „Le Mouvement psycho-analytique“ Année psychologique 1912.

    3) E. Jones, Papers on Psycho-Analysis, 1913, Vorrede p. XI.

    4) Ladame, ,Névroses et Sexualité“ l'Encéphale, 1913 p. 59.

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    kann man in dieser Art gleichviel was verallgemeinern und alles in allem unter-
    bringen. Die Neurosen waren gestern alle Suggestionen, heute werden sie alle
    Störungen des moralischen oder des künstlerischen Sinnes sein. Warum übrigens
    bei den Neurosen stehen bleiben? Vor nicht zu langer Zeit suchte man die Tabes
    an sexuelle Ausschweifungen zu kniipfen und die Kranken glaubten schliesslich ebenso
    gut daran, wie die Ärzte. Ich erkläre mich bereit, in gleicher Weise zu beweisen,
    dass die Tuberkulose und der Krebs indirekte und unerwartete Folgen der Mastur-
    bation der kleinen Kinder sind. Ich glaube nicht, dass in allen diesen Wortspielen
    etwas Interessanteres steckt.

    Diese Redeiibungen sind nicht nur bedeutungslos und unniitz, sie sind auch
    sehr gefährlich. Man könnte sie entschuldigen, wenn sie sich auf Worte bezógen, .
    die zu diesem Zwecke bereits geformt und ohne ältere Bedeutung sind, wie dies in
    der Sprache der Metaphysiker der Fall ist, aber das Wort ,Suggestion“ und das
    Wort ,Geschlechtstrieh* haben in der Sprache bereits einen genauen Sinn: Wenn
    man es unternimmt, sie zu ,sublimieren“, so gibt man dem gleichen Wort einen
    doppelten Sinn, was gewiss nicht zur Klarheit der Diskussion beitragen wird. Ob-
    gleich man das Wort im sublimierten Sinn nimmt, wird man ihm doch die Wort-
    bilder und Bedeutungen unterschieben, welche ihm im materiellen Sinn assoziiert sind.
    So werden die Psycho-Analytiker, obschon sie das Wort „Liebe“ so herrlich sub-
    limieren, uns ständig vom ,Odipuskomplex* sprechen, vom ,Narzissismus, von kleinen
    Kindern, die einem Hund während des Geschlechtsakts zusehen, von dem Eisenbahnhof,
    welcher das Rhythmische des Koitus bedeutet.“ Eine derartige Verwirrung wird weder
    dem Studium des élan vital noch der Erforschung der menschlichen Sexualphånomene
    niitzlich sein. Diese angebliche Sublimierung wird nur eine Verwechslung der
    höchsten Bestrebungen der menschlichen Seele mit den Instinkten, die allen Tieren
    gemeinsam sind, zur Folge haben. Selbst wenn historisch festgestellt wäre, dass
    ein hôherer Trieb von einem niedern abzuleiten ist, so ist er nichtsdestoweniger
    heute ein höherer und hat nichtsdestoweniger Merkmale, welche ihm allein eigen
    sind, und es ist mithin kein Grund vorhanden, ihn mit dem Phänomen zu verwechseln,
    welches ihm als Ausgangspunkt gedient hat.

    Dieser Wirtwarr wäre in allen Wissenschaften beklagenswert und ist noch
    beklagenswerter in der Medizin. Wir können uns hiervon überzeugen, wenn wir
    ein Problem priifen, das den Arzt in erster Reihe angeht: Das Problem der Neurosen-
    behandlung. Die Psycho-Analyse wurde tatsächlich auf die Behandlung nervúser
    Krankheiten angewendet, und eine grosse Anzahl von Autoren haben uns iiber die
    von ihnen erhaltenen Erfolge berichtet. Niemand wird daran denken, diese Heilungen
    in Zweifel zu ziehen; sie sind ja gliicklicherweise in den psycho-therapeutischen
    Verfahren håufig, welche Methoden auch immer angewendet wurden, und welche
    persönliche Überzeugung der behandelnde Arzt auch hatte. Der Askulaptempel bat
    tausende Kranke geheilt, Lourdes hat tausende Kranke geheilt, die „Christian Seience“
    hat tausende Kranke geheilt, die hypnotische Suggestion hat tausende Kranke geheilt,
    und die Psycho-Analyse hat tausende Kranke geheilt, das alles ist gewiss unbestreit-
    bar. Wenn ich aber hierüber meine Meinung sagen darf, so interessiert dieser
    Punkt zweifelsohne die geheilten. Kranken, aber er hat kein grosses Interesse für
    die Ärzte. Was für uns interessant ist, das sind die nicht gebeilten Kranken, die
    unsere Hilfe gegenwärtig beanspruchen, und die wichtige Frage ist nun, ob wir die
    Behandlung, welche für die früheren Kranken von solchem Erfolg gewesen ist, auf
    diese Patienten mit irgendwelchen Aussichten auf Erfolg anwenden sollen. Es
    genügt nicht, uns zu erklären, ein Kranker sei geheilt worden, indem man ihn in
    eine Badewanne gesteckt hat oder nachdem er uns sehr eingehend seine erste Mastur-
    bation erzählt hat; wir müssen auch den Zusammenhang verstehen, welcher diese

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    Erscheinungen verbindet und uns klar machen, dass wirklich das Bad oder die Erzäh-
    lung die Heilung herbeigeführt haben. Diese Feststellung scheint mir nun nicht
    leicht: Ohne jedoch von der Schwierigkeit der Konstatierung derartiger Heilungen
    sprechen zu wollen, ist es auch schon sehr schwierig, andere Einflüsse auszu-
    schliessen, welche die Krankheit modifizieren konnten. Die meisten Neuropathen
    sind intoxierte, ermiidete, leicht beeinflussbare Individuen, und oft war die Behand-
    lung von einer Veränderung der Lebensweise, von physischer und moralischer Ruhe
    und von starken Suggestionen begleitet. Diese Kranken sind insbesondere nieder-
    geschlagene Menschen, die durch alle möglichen Reizmittel wieder aufgepulvert
    werden: Sie sind glücklich, wenn man sich mit ihnen befasst, eine neue Behand-
    lungsmethode auf sie anwendet, eine Methode, die bestritten, bizarr und durch ihre
    augenscheinliche Verachtung der gewöhnlichen Schamhaftigkeit ein wenig überraschend
    ist. Sie sind stolz darauf, dass ihre Beobachtungen zur Aufstellung einer medizini-
    schen Methode dienen werden, die alle Ubel des Menschengeschlechtes heilen soll,
    sie empfinden ein berechtigtes Hochgefühl bei dem Gedanken, dass sie mit einem
    grossen Mann an der Wiedererneuerung der Medizin mitarbeiten. Wie viele Kranke
    haben seinerzeit die Heilung durch die Passen des Tiermagnetismus gefunden, weil
    die langen Sitzungen, dieses Suchen nach sonderbaren und eigentiimlich wohltuenden
    Gebråuchen, dieses Streben nach Klarheit, ihrem Leben eine Beschäftigung, ihrer
    Einbildungskraft und ihrer Eitelkeit ein Nährmittel boten. Wenn derartige Einflüsse
    zufälliger Weise in den uns berichteten Heilungen ohne Wissen des Beobachters
    eine Rolle gespielt haben, sind wir sicher, dieselben Heilungen zu erhalten, wenn
    wir bloss die von den Beobachtern angegebenen Regeln anwenden, ohne aber diese
    Veränderungen der Lebensweise, diese Ruhe, diese Suggestionen, diese Reize, von
    denen zu sprechen sie vergessen haben, mit ihnen zu verbinden? Es ist darum
    nicht sehr nützlich, vor Ärzten über tausende Heilungen zu berichten und darum
    muss man ihnen insbesondere mit vieler Genauigkeit den physiologischen und psycho-
    logischen Mechanismus dieser Heilungen darlegen und die Gründe, aus welchen
    dieses oder jenes Verfahren vermutlich wohltätig gewesen ist.

    Die Psycho-Analyse scheint zwei Behandlungsverfahren anwenden zu wollen.
    Das eine kann nicht gut eingehend erklärt werden: Es besteht darin, dem Kranken
    einen normalen und regelmässigen Koitus mit Gebrauch eines idealen Präservativs
    anzuraten: „Dieser vollständige Gebrauch der Sexualität wird nach diesen Autoren
    oft das einzige und wirkliche Heilmittel bleiben“; das andere Verfahren scheint fiir
    einen methodischen Unterricht geeigneter: Es besteht, wenn ich mich nicht irre, in
    der verallgemeinerten Anwendung eines Prüfungsverfahrens, welches ich in meinen
    ersten Studien selbst angezeigt habe. Ich hatte gezeigt, dass es in gewissen Fällen
    von Hysterie von Vorteil sein könne, die traumatische, anscheinend vergessene und
    ins Unterbewusstsein verdrängte Erinnerung aufzusuchen und auch das Individuum
    zu einem klaren Ausdruck dieser Erinnerungen zu führen. In meiner Vorstellung
    war diese Operation eine einfache Einleitung, welche es ermöglichen sollte, das
    Individuum besser zu verstehen und seine moralische Behandlung besser zu leiten. Man
    müsste hernach daran arbeiten, diese traumatische Erinnerung durch Suggestion oder
    durch irgend ein anderes Mittel wieder zu lösen. Heute würde ich insbesondere
    sagen, dass diese traumatische Erinnerung das Individuum zweifellos unaufhórlich
    vor eine schwierige Situation stellte, der es sich nicht hatte anpassen können. Die
    Rolle des Arztes besteht nicht nur in einer Aufdeckung dieser, den Kranken beständig
    hemmenden Situation, sondern er muss dem Individuum auch helfen, sich dieser
    Situation anzupassen und sie irgendwie zu liquidieren. Diese Liquidierung scheint
    mir der schwierigste Teil aller dieser Behandlungsarten, zu welcher das Aufsuchen
    der unbewussten Erinnerung nur als Einleitung diente,

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    Von demselben Ausgangspunkt ausgehend, stellt nun die Psycho-Analyse die
    Dinge viel einfacher dar: Wie wir sahen, hat sie der ersten Operation, der Entdeckung
    der traumatischen Erinnerung, welch letztere ihrer Lehre nach immer sexueller
    Natur sein muss, eine ungeheure Wichtigkeit beigelegt. Diese Entdeckung, dieses
    Ans- Tageslicht- Ziehen, müsse genügen; der Kranke ist geheilt, wenn ihm diese
    Erinnerung, diese sexuelle Störung, welche er in seiner frühesten Kindheit empfunden
    und tôrichter Weise in das Unterbewusstsein verdrängt hat, bewusst geworden ist.
    In ihrer ersten Arbeit über Hysterie haben Breuer und Freud erklärt, bemerkt zu
    haben, dass die hysterischen Symptome nach und nach ohne Wiederkehr erlóschen,
    wenn es gelungen ist, das provokatorische Element an das volle Tageslicht zu ziehen
    und den affektiven Zustand, der es begleitet hatte, wieder wachzurufen り . Da alle
    Symptome von einer sexuellen Erregung abhängen, die sich von ihrem urspriing-
    lichen Zweck auf Abwege hat drängen lassen, genügt es, die Aufmerksamkeit des
    Kranken auf das ursprüngliche Sexualphänomen zu lenken?). Die meisten der Schüler
    scheinen diesen Behandlungsmodus noch heute als wesentlich anzunehmen: E. Jones
    fasst z. B. die ganze Therapie in die Formel zusammen: ,Es genügt, dass man den
    Kranken instand setzt, die stórenden Prozesse, die auf dem Grund seines Ichs liegen,
    wieder zu entwirren?). Das Wiedererwecken verdrüngter sexueller Erinnerungen
    wird mithin die zweite Behandlungsmethode darstellen.

    Für die Nichteingeweihten scheinen diese beiden Behandlungsverfahren auf den
    ersten Blick nicht von unbestreitbarer Wirksamkeit. Wenn wir an das Idealpräser-
    vativ denken, das Freud von der Medizin verlangt, so kann ich nicht umhin, mich
    zumindest gewisser Fülle zu erinnern, wo Liebende ein solches nicht benótigen. Es
    gibt Paare, welche immer steril gewesen sind, obwohl sie selbst Kinder wünschen,
    diese brauchen also nicht auf die Entdeckung des Idealpriiservativs zu warten. Wie
    kommt es, dass man auch unter solchen Liebespaaren Nouropathen findet? Ich kenne
    mehrere Beispiele von solchen sterilen Paaren ohne venerische Krankheiten, wo der
    Koitus nach Angaben der beiden Gatten stets absolut normal, regelmüssig und be-
    friedigend gewesen ist, und wo indessen einer von beiden sehr schwere Neurosen
    dargeboten hatte. Diese Überlegung erschwert, wie ich gestehon muss, mein Zutrauen
    zur Wirksamkeit des ersten Behandlungsverfahrens der Psycho-Analyse.

    Mehrere Autoren haben bezüglich des zweiten Verfahrens analoge Betrach-
    tungen angestellt. I. H. Coriat*) hebt hervor, wie ich dies selbst getan hatte, dass
    fixe Ideen nicht unbedingt dadurch verschwinden, dass man sie bewusst gemacht hat,
    selbst nach diesem Bewusstwerden wird es nótig sein, gegen einen zwar bewusst
    gewordenen, aber persistenten psychischen Automatismus anzukümpfen. Morton
    Prince macht den Einwand, dass diese Erinnerungen, diese Vorstellungen unbewusst
    geworden sind, weil sie mit anderen Vorstellungen und anderen Gefühlen des Indivi-
    duums in Konflikt ständen. Wenn man sie gewaltsam in dieses Bewusstsein, das
    sie nicht duldet, zurückführen will, so werden sie sehr bald neuerdings zurück-
    gestossen und das ganze Spiel wird wieder beginnen. E. Régis und А. Hesnard
    bemerken nebstdem, dass es nicht immer klug ist, mit Neuropathen stündig von
    ihren Obsessionen zu reden, und dass dieses Vorgehen dazu führen kann, dass sich
    diese Vorstellungen noch tiefer in ihre Seele einbohren. Man kónnte wohl noch
    andere Überlegungen anführen, um zu zeigen, dass diese Behandlungsmethoden auf
    den ersten Blick hin sich nicht als so unbestreitbar zweckmissig ergeben.

    り Breuer und Freud, „Hysterie“, p. 4.

    ?) Freud, Abwehrpsychosen, p. 8.

    ?) E. Jones, Symposion de M. Morton prince, p. 114.

    *) H. Coriat, Journal of Abnormal Psychology 1911, p. 60, 67.

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    314 Aus Vereinen und Versammlungen.

    Wie könnten wir zwischen diesen entgegengesetzten Meinungen nun unsere
    Wahl treffen? Wie können wir über den therapeutischen Wert dieser Methoden
    urteilen, bevor wir sie nicht neuerdings versuchen? Wie könnten wir wissen, welche
    Kranken geeignet sind, aus ihnen einen Vorteil zu ziehen? Nur dann, wenn wir
    die uns vorgelegten Beobachtungen sehr gut verstehen, bei ihrer Lektüre sehr deut-
    lich sehen, um welche Kranken es sich handelt, auf welches Symptom sich die
    Behandlung erstreckt hat und wie sie angewendet worden ist. Niemals kann die
    Diagnose, die Krankheitsgeschichte zu genau sein, wenn es sich darum handelt, den
    Wert einer Behandlung abzuschätzen und sie zu wiederholen,

    Hier aber fühlen wir aufs schärfste die Mangelhaftigkeit der vagen und
    metaphorischen Sprache der Psycho-Analyse. Nicht nur ist alles masslos verall-
    gemeinert, wie wir gesehen haben, sondern alle Ausdrücke haben ‚überdies einen
    halb mystischen Sinn oder besser einen Doppelsinn, und wir wissen niemals, wie
    man sie deuten muss. Man weiss überhaupt nicht mehr, was eine traumatische,
    eine unbewusste Erinnerung ist, noch insbesondere, was diese Autoren unter Sexualität
    und unter Sexualstórungen verstehen. Wenn wir uns gestatten, die Worte „Mastur-
    bation, Reservatkoitus, ungeniigende sexuelle Befriedigung“ wörtlich zu nehmen, so
    wird man mit dem Finger auf uns zeigen und uns der „wilden Psycho-Analyse*
    bezichtigen. Wir müssen erraten, dass in gewissen Fällen die Worte „Masturbation“
    und inkompletter „Koitus“ soviel bedeuten wie „Mangel an ästhetischer Befriedigung“.
    Aber man darf jedoch nicht in allen Fällen sublimieren: Wie soll man sich dabei
    auskennen? Wie können wir uns bezüglich der Diagnose und der angewendeten
    Behandlung orientieren? Es heisst, scheint mir, der Psycho-Analyse tatsächlich
    jedes Interesse nehmen, wenn man die von ihr angewendeten Worte derart sublimiert,
    und ich glaubte darum im ersten Teil dieser Studie ihr mehr Gerechtigkeit zu erweisen,
    wenn ich die Worte in ihrem gebräuchlichen und verständlichen Sinne nehme.

    Indessen könnte man mir einwenden, das Studium der Beziehungen zwischen
    Sexualinstinkten und Liebesgefühlen, das Studium der Beziehungen zwischen den
    Liebesgefühlen, den Künsten, der Poesie und Religionen müsse doch von Interesse
    sein. Zweifelsohne, aber es handelt sich hier um ein schweres. Missverständnis,
    auf welches ich hier verweisen möchte. Gewiss sind dies interessante Probleme,
    aber interessant von einem besonderen Standpunkt und für eine bestimmte Art von
    Studien. Es handelt sich hier um Probleme, die zu mindest in der Art, wie sie hier
    diskutiert werden, in die allgemeine Philosophie, ja selbst zur Metaphysik gehören.
    Man muss gewiss nicht die Metaphysik unterdrücken und ich bitte wohl, dass man
    mir nicht eine derartige Blasphemie zutraut. Aber man muss alles auf seinem Platz
    lassen: Man muss sie in den „templa serena“, in der friedlichen Athmosphäre von
    Philosophiekongressen diskutieren; man muss absolut vermeiden, sie an das Kranken-
    bett und in Krankensäle zu tragen, deren Athmosphäre ihr nicht günstig ist, Ich
    glaube meinerseits durchaus nicht, dass die religiösen und moralischen Vorstellungen
    einzig und allein aus den Sexualinstinkten hervorgegangen sind und ich glaube, dass
    man hierüber sehr vieles sagen könnte, wenn wir uns auf den Standpunkt der
    Philosophie stellen, ich werde mich aber hüten, diese Diskussion vor dem Kongress
    für Medizin zu beginnen, zwischen einem Bericht über Dementia praecox und einem
    über Typhus. Zweifelsohne müssen die Vorstellungen und Begriffe von Zeit zu Zeit
    durch philosophische Spekulationen fortgebildet werden, aber man muss den Philo-
    sophen Zeit lassen diese Reformen in Musse durchzuführen und abwarten, dass sie
    untereinander selbst einig sind, bevor man ihre Reformen in die wıssenschaftliche
    Sprache eindringen lässt. Die gegenwärtige praktische Wissenschaft muss die Begriffe
    und Worte nehmen, wie sie im zeitgenössischen Denken vorhanden sind; wofern
    man nicht in eine babylonische Sprachverwirrung zurückgeraten will, dürfen wir

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    Aus Vereinen und Versammlungen. 315

    nicht nach Belieben ersonnene, philosophische Begriffe, die die Philosophen selbst
    nicht akzeptieren wollen, auf Beobachtungen und medizinische Forschungen anwenden.
    Die Psychoanalyse ist vor allem eine Philosophie. Eine vielleicht interessante
    Philosophie, wenn sie Philosophen vorgelegt würde; sie nähert sich, wie E. R6gis
    und A. Hesnard hervorhoben, den Begriffen, die Stahl, Heinroth und die soge-
    r innte deutsche psychologische Schule in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
    den phylosophierenden Ärzten, die sich mit der metaphysischen Seite des Wahnsinns-
    problems befassten, vorlegten. Leider wilP die Psychoanalyse auch eine medizinische
    Wissenschaft sein und sie hat die Prätention, auf die Diagnose und Krankenbehand-
    lung angewendet zu werden; dies ist der tatsächliche Ursprung aller Schwierigkeiten
    und Missverståndnisse, welchen wir bei ihrem Studium begegnet sind.

    Wenn ich mich nicht sehr irre, bediirfen die Neurologie und Psychiatrie heute
    ganz anderer Forschungen und in dieser philosophischen Form darf die Psychologie
    den Arzten nicht dargeboten werden. Schon oft haben die von Arzten betriebenen
    psychologischen Studien hoch-metaphysische Allüren angenommen und mit einem
    einzigen Schlag Geschichte, Moral, Religion und Nervenkrisen zu erklåren vorge-
    geben. Nach und nach haben sich die Ärzte genötigt gesehen, auf diese Art Literatur
    zu verzichten. Sie haben mit dem alten Aristoteles erkannt, dass man die Gattungen
    nicht verwechseln darf und haben begriffen, dass weder die Metaphysik noch die
    Medizin ein Interesse daran haben, miteinander zu verschmelzen.

    Die Psychologie kann nur dann in die medizinischen Forschungen aufgenommen
    werden, wenn sie auf masslose Ambitionen verzichtet und sich darauf beschränkt,
    das Benehmen und die Haltung der Kranken in präzisen und streng definierten Aus-
    driicken zu beschreiben und durch einen måglichst strengen Determinismus zu ver-
    kniipfen.

    Diese Arbeit ist augenscheinlich sehr schwierig, sie kann sich nur langsam
    vollziehen, und wir sind oft versucht, unsere unvollständigen Beobachtungen und unsere
    langsamen Induktionen durch kühne Verallgemeinerungen und durch symbolische und
    leichte Deutungen zu überschreiten. Man darf diese Entgleisung der Phantasie nicht
    allzu streng nehmen. Diese trostbringenden Träumereien sind vielleicht notwendig, um
    die Forscher zu ermutigen und ihnen in der Fortsetzung ibrer miihsamen Arbeit
    weiter zu helfen, Sehr oft wird durch eine dieser ambitiôsen Doktrinen, welche alles
    mit einem Wort zu erkliren behaupten, eine grosse wissenschaftliche Bewegung
    angeregt. Die hochmütige und puerile Lehre schwindet bald, aber zurückbleibt eine
    Menge von wertvollen Beobachtungen, die mit ihrer Hilfe gesammelt wurden. Niemand |
    wiirde wohl heute die Anmassungen der Suggestionsuniversallehre, mit der man vor
    dreissig Jahren alles erklirte und alles heilte, zuriickrufen; wer wiirde aber leugnen,
    dass die Schule der Salpétriere und die Nancy'sche Schule zu den Anfängen der
    Psychopathologie im hervorragendem Masse beigetragen und eine Menge von niitz-
    lichen Kenntnissen zuriickgelassen haben?

    Das gleiche gilt, wenn ich mich nicht täusche, bezüglich der zahllosen Studien
    Freud's und seiner Schiiler.

    Da ich die Aufgabe übernommen hatte, dieses Referat abzuhalten, war ich
    gegen meinen Willen genötigt, die Übertreibungen und Selbsttäuschungen, welche
    die Psychoanalyse in Misskredit setzen, vor dem Arztekongress darzulegen. Aber
    ich weiss wohl, dass unter diesen Übertreibungen eine Menge wertvoller Arbeiten
    über Neurosen, über Entwicklung der kindlichen Psyche, über die verschiedenen
    Formen der Sexualempfindungen verborgen sind und sich vielleicht gerade durch diese
    Ubertreibungen entwickelt haben. Diese Studien haben auf wenig bekannte Tat-
    sachen die Aufmerksamkeit gelenkt, auf Tatsachen, welche man infolge einer tradi-

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    316 Aus Vereinen und Versammlungen.

    tionellen Zurückhaltung allzu geneigt war zu vernachlässigen. In Zukunft wird man
    die übertriebenen Verallgemeinerungen und die abenteuerlichen Symbolismen vergessen,
    welche heute diese Arbeiten zu charakterisieren und von anderen zu trennen scheinen ;
    und man wird sich nur daran erinnern, dass die Psychoanalyse der psychologischen
    Analyse gute Dienste geleistet hat.“

    Über Psychoanalyse.

    „Bericht von Doktor C. G. Jung, M.D.L.D. (Küsnach-Zürich) Resumé: In
    den verschiedenen Ausserungen der kindlichen Sexualentwicklung und den entsprechen-
    den Phantasien sehe ich nicht die wirkliche Ätiologie einer Neurose, Die Tatsache,
    dass sie in der Neurose iibertrieben und in den Vordergrund geriickt werden, ist eine
    Folge der Energieaufspeicherung oder Libido. Die psychischen Störungen in der
    Neurose und die Neurose selbst müssen als ein gelungener Anpassungsakt an-
    gesehen werden. Diese Formulierung kann gewisse Meinungen von Janet und
    Freud, dass eino Neurose — in einem gewissen Sinn — einen Selbstheilungsversuch
    bedeutet, versöhnen; das ist eine Auffassung, welche auf viele Krankheiten ange.
    wendet werden kann und auch angewendet wurde.

    Es ergibt sich hier die Frage, ob es hernach noch einen Sinn hat, alle Phan-
    tasien des Kranken durch Analyse an’s Tageslicht zu ziehen, wenn wir sie gegen-
    wårtig als nicht von åtiologischer Bedeutung ansehen. Die Psychoanalyse ist bis
    jetzt so vorgegangen, dass sie diese Phantasien aufgedeckt hat, weil sie dieselben
    als von åtiologischer Bedeutung angesehen hat. Meine abweichende Auffassung be-
    züglich der Neurosentheorie verändert nicht das psychoanalytische Verfahren. Die
    Technik bleibt die gleiche. Wir bilden uns nicht mehr ein, durch diesen Vorgang
    die Endwurzeln der Krankheiten blosszulegen, aber wir miissen die Phantasien des
    Kranken ans Tageslicht ziehen, weil die Energie, die der Kranke zu seiner Gesund-
    heit, d. h. zu seiner Anpassung benötigt, an Sexualphantasien gebunden ist.

    Mittels der Psychoanalyse werden wir das Band zwischen dem Bewussten
    und der Libido, dem Unbewussten, wieder herstellen. In dieser Weise werden wir
    diese unbewusste Libido unter die Leitung einer bewussten Absicht bringen. Durch
    dieses Mittel allein wird die gebrochene Energie auf die Vollendung der im Leben
    notwendigen Leistungen wieder anwendbar. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet,
    scheint eine wohlverstandene Psychoanalyse eine Aufgabe von hoher Sittlichkeit
    und von ungeheurem erzieherischen Werte,“ stud. med. M. R.

    Varia.
    Zur Psychologie der Schreibfehler.

    Alle Geschehnisse des Lebens gehorchen den Gesetzen, und nichts geschieht
    sinnlos und zufillig. Auch die Fehler, die wir beim Ab- und Nachschreiben begehen.
    sind keine Zufälligkeiten, sehr sie auch danach aussehen. Sie sind auch nicht An-
    zeichen eines mangelhaften Intellektes, da sie auch von den Gebildeten gemacht
    werden. Vielmehr werden sie durch einige wenige psychische Akte bedingt. Die
    Erkenntnis dieser Tatsache ist ja nicht neu, dennoch bleibt es ein grosses Verdienst
    Jakob Stolls, sie durch interessante Experimente, die er in Marbes 。 Fort-
    schritten der Psychologie“ soeben zusammenfassend veröffentlicht hat, in ein
    helleres Licht gesetzt zu haben. Der Untersucher liess eine Gruppe von Semina-