Varia [September 1914] /1914
  • S.

    Varia. 621

    der Verfasser z. В p. 36 schreibt: „Der Abbé faria, dessen Reisen weit nach Indien
    führten, hatte dort die Hypnotisiermethoden der Fakire kennen gelernt und brachte
    diese Methode gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach Europa, wo sie namentlich in
    Frankreich grosse Verbreitung fand. Um dieselbe Zeit entdeckte der Deutsche Mesmer
    den sogenannten tierischen Magnetismus...“ (Es muss allerdings gesagt werden,
    dass diese Ansicht in weiteren Kreisen verbreitet ist und so kann es uns nicht wundern,
    dass der durchaus unselbstindige E. diese Ansicht kritiklos weitergibt.) Die Sache
    verhiilt sich vielmehr so: José Custodio de Faria (geb. 1756 in Goa) schiffie sich,
    kaum 15jährig, mit seinem Vater nach Lissabon ein und kam 1788 nach Paris.
    Hier erst wurde er mit dem 1784 von.dem Marquis de Puysépur entdeckten
    Somnambulismus bekannt. Er bekennt auch in der an diesen Marquis de P, gerichteten
    Widmung seines Buches, De la cause du sommeil lucide (Paris 1819): ,,... je re-
    connais dans vos sages avis et dans vos bienveillantes instructions le germe de mes
    méditation.“ Damit ist erwiesen, ‘dass F., als er mit 15 Jahren Indien får immer
    verlassen, keine Ahnung von der (1843 von Braid) mit dem Namen Hypnotismus be-
    legten Erscheinungen hatte. Mit Recht sagt denn auch Farias Biograph. Dr. D. G.
    Dalpado: ,...Aber die Annahme, dass er (Faria) auch den Spiritis-
    mus und Fakirismus studiert hat, ist absurd.“ — Franz Mesmer hin-
    gegen hatte schon 1766 seine ,Entdeckung* des ,animalischen Magnetismus* be-
    kannt gemacht.

    Was nun „des Buches zweiten und wichtigsten Teil“ betrifft, so sollen zur
    Charakteristik nur zwei Stellen daraus angeführt werden. E. ruft seinen Lesern zu:
    „Sehen Sie in jedem anderen Menschen Ihren Gegner... Hören Sie
    meinen letzten Rat: Stellen Sie die Telepathie in Ihre Dienste!“ Es
    ist glücklicherweise nicht so einfach den telepathischen Rapport mit irgend einer Person
    bewusst herzustellen (wie E. den Leser glauben machen möchte), so dass eventuelle
    Versuche zur Befolgung dieses Rates nur hóchst selten eine bedeutende direkte Ge-
    fahr nach sich ziehen künnen, am ehesten noch für den, der solche Versuche unter-

    nimmt. Wilh. Wrchovszky.

    Varia.
    Alexander von Humboldt an Henriette Herz.

    Berlin, den 4. April 1796.

    „Wenn alle Träume so süss als mein gestriger wären, so möchte ich mein
    ganzes Leben in einen Traum umschaffen. Noch nie ketteten sich meine Ideen auf
    eine so wahre und doch sonderbare, auf eine so sonderbare und doch so angenehme,
    auf eine so angenehme und doch so lehrreiche Art aneinander; noch nie. Doch wo-
    zu diese Einleitung. Wer wird jetzt wohl noch ein Buch mit einer Vorrede schreiben,
    oder wenn der Verfasser unmodisch genug ist, es zu iun, wer wird beim Lesen die
    Vorrede nicht überschlagen? Hören Sie gleich den Traum und urteilen Sie selbst,
    meine Freundin.

    Dass unsere Trüume sich nach den, leider! noch so wenig entdeckten Regeln
    unserer Ideenassoziation richten, darüber sind wir einig. Ich erzähle Ihnen daher,
    was meinem Traume vorherging. Ich las in einem alten griechischen Weltweisen
    — erschrecken Sie nicht über meine Gelehrsamkeit, es war diesmal eine franzüsische
    Übersetzung — ich las also die Worte des Alcibiades: „Verstand und Tugend sind
    in einem Manne verehrungs-, in einem Weibe anbetungswürdig*. Ich machte mein
    Buch zu, dachte, so gut ich konnte, darüber nach — und meine äusseren Sinne fingen

    Zentralblatt für Psychoanalyse. IV", 41

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    622 Varia.

    allmählich an. sich zu verschliessen. Da stand auf einmal ein ehrwiirdiger Greis
    neben mir, der im jugendlichen Alter an Bildung dem schönen Sohne des Klinias
    nicht unåhnlich gewesen sein könnte. Er drückte mir freundlich die Hand und sagte:
    Folge mir, Jiingling, ich will Dir Menschen zeigen. Ich folgte dem Greise und er
    führte mich in eine prächtige Stadt mitten unter das Getiimmel von Leuten, die alle
    grosse Mäntel trugen und das Gesicht verhüllten, so dass man kein Geschlecht von
    dem anderen unterscheiden konnte. Als wir über eine Brücke gingen, sah ich zur
    Rechten ein Heer purpurner Mäntel und Köpfe, welche mit Kronen geschmückt waren.
    Einige sangen Lieder in fremden Zungen, andere machten Epigramme auf die Tugend
    ihrer Mitmenschen etc. Hüte dich vor ihnen, sagte mein Führer, denn es sind
    Königinnen. Kaum erblickte mich eine, so rief sie zu mir: Ah, Mr, de... Aber es
    blieb bei dem bedeutenden von, mein Fiihrer riss mich hinweg und versetzte mich
    auf einmal in einen angenehmen Spaziergang. Hier sah ich drei Wesen, welche, so
    wenig ich sie kannte, ein sonderbares, sehnsuchtsvolles Geftihl in mir veranlassten.
    Der Greis befahl mir, mich ihnen zu nähern, und versprach auf einer nahen Rasen-
    bank auf meine Riickkunft zu warten. Unsichtbar schlich ich mich hinter der riitsel-
    haften Dreiheit her. Alles, was ich hørte, war so verstindig, so männlich schön,
    dass ich zu glauben anfing, es wiren drei edle Jiinglinge, welche die Weisheit ibres
    Lehrers wiederholten. Man beschloss endlich auf die Arbeit des Tages eine kleine
    Ergótzlichkeit folgen zu lassen. Jedes der Drei schlug eine eigene Art davon vor,
    jedes nahm völlig den Vorschlag der anderen an. Man sprach schon von der Aus-
    führung, und noch hatte man sich nicht entschlossen. Denn jede der guten Seelen
    wollte, was die andere wollte. Ein Zufall entschied, man sah Pomeranzen, man
    wollte Pomeranzen kaufen. Schon war alles gelagert, schon fing man an, Zubereitungen
    zu machen, und — was glauben Sie, meine Freundin? — zwei Mintel erhoben sich
    wieder, lachten über den Vorschlag der anderen und alle eilten unverrichteter Sache
    davon. Da lachte ich über mich selbst und über meinen vorigen Irrtum. Ich merkte
    wohl, dass ich in Gesellschaft von Damen war, und die drei verstindigen Damen
    wurden mir jetzt zehnfach interessanter als es mir vorher die drei verständigen
    Jünglinge waren. Ich nahm sie näher in Augenschein und fand, dass die mittlere
    gross und majestätisch schon wie Minerva war. Sie hatte einen weissen Mantel
    über die Schulter geschlagen und ihr Kopfzeug war, wie soll ich ihn wiirdiger loben,
    als hätte ihn die Natur mit eigener Hand geordnet. Zur Rechten hatte sie die Dame,
    welche das Pomeranzenprojekt zuerst vereitelt hatte, in einem lieblichen, veilchen-
    blauen Mantel. Die Dame ging mit geneigtem Haupte und war schwarz gekleidet,
    Ich wagte es, ein Stückchen ihres Kleides umzuschlagen, und da fand ich, dass die
    innere Seite rosenfarbig war. Eine schöne Seele in einer etwas finsteren Hülle dachte
    ich. Wohl ihr, dass sie wie manche andere ihres Geschlechtes den Mantel nicht um-
    gekehrt und die innere Seite nicht zur äusseren macht. Ich folgte noch immer diesen
    liebenswürdigen Geschópfen, ich hörte aufmerksam auf ihre Gespräche. Da zog wieder
    ein Purpurmantel mit einem Diademe vorüber. Aber in der Gesellschaft solcher Frauen
    hielt ich mich auch ohne meinen Führer stark genug, dem Diademe nicht zu folgen.
    Einigo Schritte vor uns lag ein unglückliches Mädchen am Wege, welches Räuber
    gemisshandelt hatten. Sie war halb nackt und mit Wunden bedeckt. Der Purpur-
    mantel nahet sich ihr, stüsst ein Paar italienische Seufzer o cielo, misera fanciulla
    aus und wirft dem Mädchen aus Mitleid ein Paar unniitze Goldstücke in den Schoss.
    Indes nahen sich meine drei Mäntel, Der weisse seufzt, der veilehenblaue lacht,
    und der schwarze sieht bektimmert in sich hinein. Sonderbare Ausdrücke des Schreckens,
    dachte ich bei mir selbst. Die drei Damen warfen plötzlich ihre Mäntel ab und jede
    streitet um den Vorzug, dem Mädchen den ihrigen zu geben. Es war mir, als sähe
    ich drei Tugenden in der Seele eines grossen Mannes streiten. Die grösste unter

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    Varia. 623

    den Damen siegte, sie stand nun enthüllt vor mir, ich wollte sie anschauen, aber eine
    unsichtbare Macht entzog mir den Anblick und ich sass auf einmal neben meinem
    alten Führer auf der Rasenbank. „Ich habe Menschen gefunden“, rief ich in dem Taumel
    des Entziickens. „Dank, tausendfacher Dank sei Dir, ehrwürdiger Greis', und hier
    folgte die Erzählung alles dessen, was ich gesehen. Dann schwiegen wir beide, mein
    Führer sah mich traurig an und sagte: Auch ich war einst ihr Vertrauter, aber ein
    widriges Schicksal trennte mich von ihnen. Willst Du die Frau von Angesicht kennen,
    die ihren Mantel dahin gab, so betrachte dies Bild. Die Natur wollte einen Mann
    schaffen, aber sie vergriff sich im Tone und schuf ein Weib. Ich betrachtete das
    Bild und erkannte wen? nein, das erfahren Sie nicht meine Beste. Ich blickte wieder
    auf und siehe. Der ehrwiirdige Greis war in einen schönen Jüngling verwandelt.
    Eine Orikel schwebte über seinem Haupte, ich wollte ihn umarmen — aber das
    Traumgesicht verschwand, Alexander.

    Berlin, im Mai 1796.
    Wer nicht mit uns denkt, empfindet und spricht, wird schwer diesen rätsel-
    haften Traum erraten. Aber fir den war er auch nicht geschrieben. Wie ich Ihnen
    und den Ihrigen vorlas, steht er hier. Ich habe kein Wort verändert. Es ist eine
    unreife Frucht, deren Sinn vielleicht nicht ganz . , Heben Sie dieses Blatt auf, во
    kann es uns nach einer langen Reihe von Jahren vielleicht einmal wieder einen
    lustigen Augenblick verschaffen. Den Schlüssel verliere ich nicht, der ist an einem

    Orte, aus dem man leider auch das nicht verliert, was man los sein will.“ H. P.

    Ein vólkerpsychologischer männlicher Protest.

    „Der Staat ist ein grosser Mensch,“ sagt der Taoist. Die vólkerpsychologischen
    Parallelen zur Individualpsychologie sind besonders lehrreich, weil die Volkerpsycho-
    logie leichter zu untersuchen und das Material fiir alle zugänglich ist.

    Folgende hübsche Illustration des männlichen Protestes ist zu finden im Pro-
    gramm einer neuen Halbmonatsschrift: 。D er Turmhahn", unter der Redaktion von
    Herrn Karl Hans Strobl (Verlag von L. Staackmann, Leipzig) im Heft von 1. Januar
    1914, 8. 1—8. A

    Man muss vielleicht Österreicher sein und vielleicht sogar irgendwo von der
    Sprachgrenze herkommen, wo die neue Völkerwanderung brandet, um die
    überwáltigende Grösse Deutschlands wie ein neues Weltgefühl zu erleben. Das
    macht den Anfang.

    Der sozialpsyehologische Begriff des Grenzbewusstseins ist auch in der
    Individualpsychologie von methodologischem Wert.

    Die Redaktion schildert dann den deutschen Ordnungssinn, wie sie einerseits
    entartet in die Albernheiten des Polizeistaates, aber anderseits das deutsche Volk in
    Stand setzt, seine Riesenmassen selbst zu beherrschen.

    „Immer wieder aber muss man sagen, mit diesen Eigenschaften haben wir es
    zu etwas gebracht. Die Südländer sind vor lauter Temperament über schöne Redens-
    arten und Messerstechereien nicht hinausgekommen, und Italien verdankt seine er-
    freuliche Wiedergeburt auch nicht der Camorra Neapels, sondern dem deutschen
    Blut in Oberitalien. Wir aber diirfen mit ziemlicher Zuversicht in die Arena treten.
    Und die Arena des deutschen Geistes ist die Welt....“

    Nur sollten wir uns noch unbefangener und selbstverstindlicher zu allen unseren
    Eigenschaften bekennen. Wer zweifelnd an eine Aufgabe geht, hat sich selbst zum
    Gegner. Wer an sich glaubt, verhundertfacht seine Kraft.

    Er schildert dann, wie durch die Entwickelung der wirtschaftlichen Verhåltnisse
    im 16. Jahrhundert die deutsche Nation, sei es nur als ,ein Begriff in wenigen hellen

    41"

  • S.

    624 Varia.

    Köpfen“, erwachte, bis der grosse Krieg alles zerschlug. Die deutsche Kultur wurde
    ein Scherbenhaufen.

    Aber ans diesen kleinlichen und armseligen Verhältnissen wuchs der deutsche
    Geist in die Welt. Die Gelehrtenstuben Deutschlands in diesem achtzehnten Jahrhundert
    dampften vor Fleiss und Begeisterung fiir grosse Gedanken. Das politisch und wirt-
    schaftlich gedemiitigte Deutschland wurde die Heimat der Idee, diese Nation ohne
    Nationalstolz war die Trägerin des Wunsches einer Verbrüderung aller Völker (p. 4).

    Aber das gebrochene Selbstgefühl der Nation war noch immer nicht
    erstanden.

    Nach dem Siege von 1866 und 1870 aber begann ein stetiger Anstieg des Volks-
    wohlstandes, von welchem die Redaktion sehnstichtig die „Wiederbelebung der nationalen
    Empfindung“ erwartet. Man selie nur auf England, dessen letzte Jahrhunderte arm
    an begeisternden äusseren Vorgängen, aber reich an wirtschaftlichen Erfolgen sind,
    und man vergleiche damit das ständige Anschwellen des britischen Stolzes.

    Darin vor allem hätten wir England nachzuahmen. (p. 5)

    Nachdem er im deutschen Geist die Ambivalenz der ,Auslandssklaven* und
    der ,Schneidigen“ erkannt hat, weist er den Weg zwischen diesen Polen.

    Ohne die Nachbarn umbringen zu wollen, verlangen wir unseren Platz an der
    Sonne, als die tiichtige, grosse Nation, die wir uns nennen dürfen. (p. 8.)

    Also der kollektivpsychische Mut zu sich selbst.

    Wir ertappen hier die metapsychologische Geburt der Kollektivpsyche
    als Folge der „Verlegung auf ein Grosses“, А. J. Resink.

    Die Träume der Kinder.

    In den Süddeutschen Monatsheften teilt Carl Spitteler seine frühesten Er-
    lebnisse mit, von den wir die Abschnitte über ,, Die Träume des Kindes“ hier publizieren:

    „Im Anfang ist der Schlaf, lehrt tausendjährige Beobachtung. Im Anfang war
    der Traum, ergänzt meine Erinnerung. Und kein Traum war jemals der erste, selbst
    der älteste besann sich auf einen Vorgänger.

    Ich spreche, wohlverstanden, vom-Traum im Schlafe, von der nämlichen Er-
    scheinung, die auch dem Erwachsenen geschieht: Stilles Erwachen der scheuen Seele,
    wenn die Aufpasser: der Geist, der Wille, die Sinne ermiidet ruhen, spielerische,
    launenhafte Verarbeitung der Themen, die das Auge bei Tage aus der Wirklichkeit
    geschópit hatte, freies Erschaffen und Erdichten von leuchtenden Bildern und Ge-
    málden, unbefugtes Auftauchen unterdrückter Sehnsuchtswiinsche unter falschem
    Antlitz und Namen.

    Der letztere, der verräterische Sehnsuchts- und Wehmutstranm, ist Monopol
    des Erwachsenen. Die thematische Verarbeitung dagegen und das Dichten versteht
    der Traum des Kindes besser. Tausend kleine Dinge und Vorkommnisse des wachen
    Lebens, die den abgestumpften Erwachsenen gänzlich kalt lassen, die er nicht einmal
    mehr sieht und, wenn er sie sieht, nicht bemerkt, rühren dem Kinde, weil es noch
    frisch fühlt und weil ihm die Erdendinge neu sind, bis in die Seele und erzeugen
    Traumspiegelungen im Schlafe. Ich kann aus meiner Erfahrung berichten, dass mir
    ein Eisengitter um ein Haus, ein flichtiger Blick in ein Kellergeschoss in der darauf-
    folgenden Nacht ernste, tiefsinnige Träume verursachten, dass auf grössere Neuig-
    keiten, zum Beispiel auf den erstmaligen Anblick siromenden Wassers, ein wahrer
    Traumsturm folgte. Und wie golden schon die Landschaftsbilder in den Träumen
    des Erwachsenen leuchten mögen, die Landschaften, die der Traum des Kindes malt,
    sind noch viel seliger und süsser. Die Träume meiner zwei ersten Lebensjahre sind
    meine schönste Bildersammlung und mein Jiebstes Poesiebuch. Niemand wird mir

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    Varia. 625

    zumuten, dass ich sie erzähle; denn Träume lassen sich ja überhaupt nicht erzählen;
    sie zerrinnen, wenn der niichterne Verstand sie mit Worten anfasst.

    Von den Sehnsuchtsträumen kennt das Kind wenigstens den Liebestraum,
    jenen Traum, der über eine herzinnige Gegend den Seelenodem eines geliebten
    Menschen wie einen Schmelz hinhaucht, während vielleicht die Gestalt des Geliebten
    in dem Gemälde gar nicht sichtbar wird. So erging es mir als Kind mit meiner
    Grossmutter. Welche Mä:chenlandschafien immer der Traum mir vorzaubern mochte,
    unfehlbar schwebte der Geist meines Grossmiitterehens darüber.

    Die Traumwelt ist ein Reich fiir sich, mit besonderer Landeshoheit und eigenem
    Verkehrswesen. Drahtlose Phantasie entführt auf geheimen Wegen den Tråumenden
    blitzschnell an die entlegensten Stellen, zum Beispiel in die früheste Kindheit zurück
    und lässt ihn dort wieder genau so schauen und fühlen, wie er einst geschaut und
    gefühlt hatte. Wenn ich aber im Traum die nämlichen Gefühle und Gesichte er-
    lebe, ob ich zweijihriz, oder zwanzigjährig oder sechzigjährig bin, wenn ich darauf
    beim Erwachen es als eine Überraschung empfinde, dass ich das eine Mal mich als
    gesund, ein anderes Mal als leidend verspüre, heute vor der Welt einen Buben
    vorstelle, den man massregelt, morgen einen bärtigen Mann, vor dem man den Hut
    zieht, so gelingt es mir nicht, nichts dabei zu denken. Folgendes muss ich denken:
    Inwendig im Menschen gibt es etwas, nenne man es Seele oder Ich oder wie man
    will, meinetwegen X, das von den Wandlungen des Leibes unabhängig ist, das sich
    nicht um den Zustand des Gehirns und um die Fassungskraft des Geistes kümmert,
    das nicht wächst und sich entwickelt, weil es von Anbeginn fertig da war, etwas,
    das schon im Säugling wohnt und sich zeitlebens gleich bleibt. Sogar sprechen kann
    das X. Es spricht, wenn ich seinen {remdländischen Dialekt recht verstehe: „Wir
    kommen von weitem her.“ Stekel.

    Mitteilung aus Madäch’s „Tragödie des Menschen".

    Ein grosser Teil der von Vaihinger beschriebenen „Fiktionen“ dient dazu,
    Herrschaften aufzurichten und zu erhalten. Am deutlichsten ist dies wohl beim
    Rechte der Fall. In der Diskussion des Vereins für Individualpsychologie am
    5. Juni 1913 (Österr, Ärzteztg., Jg. 10, H. 15, S. 268) wies Alfred Adler auf eine
    Art Fiktion hin, die im Weissagen, im Aberglauben und in der Zwangsneurose vor-
    kommt und demselben Zwecke dient: „Durch die Aufstellung eines Junktims nach
    dem Schema: Wenn das und das geschieht, so wird ein Unglück — ein Glick —
    eintreten, werde aus einem Nichts etwas Grosses gemacht, um daraus
    eine Herrschaft abzuleiten.“ Denselben Gedanken finde ich in Emerich
    у. Madéch's „Tragödie des Menschen“ (Reclams Universalbibl. Nr. 2389 —90, S. 123)
    ausgesprochen, wo er sich wohl hauptsächlich auf Theologie und Kthik bezieht:

    „Die Philosophie
    Ist nur all’ dessen Poesie, wovon
    Wir keinen richtigen Begriff noch haben.
    Und unter andern hohen Wissenschaften
    Ist diese wohl die unschuldigste noch,
    Weil sie in ihrer Welt voll Hirngespinsten
    Ganz still sich mit sich selber unterhält.
    Nun hat sie aber andere Geschwister,
    Die in den Sand mit wicht'ger Miene schreiben,
    Hier einen Strich als Wirbelschlund bezeichnen,
    Dort einen Kreis als Heiligtum. Schon reizt dich’s
    Hell aufzulachen, doch bald wirst du inne,

  • S.

    626 Lesefriichte.

    Welch’ schrecklich ernster Streich das Ganze ist.
    Denn während mit gepresster Brust und zitternd
    Den Staubfiguren alles sorglich ausweicht,

    Sind hie und da Fussangeln aufgestellt,

    Die den Verwegnen, der sie iiberschreitet,

    Auf's Blut verletzen, Solcher Unsinn, siehst du,
    Steht immer uns im Wege, jede Macht,

    So sie einmal besteht, als Gegenstand

    Der Pietät scheinheilig stets beschirmend.**

    In einer anderen Ubersetzung (Hendel’s Bibl. Nr. 541—2, S. 90) Jauten die
    drei letzten Zeilen wie folgt:
    „So hemmt ein blóder Wahnsinn unsre Wege
    Als heil’ge Ehrfurcht, Pietät verkleidet,
    Und schützt, erhält die schon geschaffne Macht.“
    Dr. Stefan v. Mäday (Prag).

    Die „himmlische Musik“.

    Die „himmlische Musik“ ist bekanntlich ein Phänomen, das unter den ver-
    schiedensten Umständen auftritt: bei Regression der Psyche, am Sterbelager, in
    schweren psychischen Krisen, in der religiösen Extase (Fra Angelico, Odillon, Redon)
    in der künstlerischen Inspiration usw. Tschuang-tse beschreibt einen Fall von
    „himmlischer Musik“ folgender Art im Beginne des Buches Tsi-Wu-Lum (Ann. Mus.
    Guimet XX. 227).

    Tse-tschi von Nan-Kuo sass gestützt anf einem kleinen Tisch und sann, die
    Augen gen Himmel gerichtet. Yen-Tscheng-tse-yu nähert sich ihm und fragt ihn,
    was er denn tue, ob er in der Ferne schweife und Körper und Seele vertrocknen
    lasse. Ist er wirklich in diesem Zustand? Dann wird erzählt:

    „Du hast recht, antwortete Tse-tschi; denn heute habe ich mich verloren, ich
    habe mich selbst vergessen und beerdigt. Verstehst du mich? Vielleicht weisst du
    nicht, was die Musik der Erde und die des Himmels ist. Darauf erklärt er ihm,
    dass die Musik der Erde entstehe, wenn der Wind in den Löchern und Höhlen bläst.
    Was aber die himmlische Musik anlange, so ist sie das Werk der Leiden-
    schaften und der Gefühle, die im Herzen toben, Die es Tag und Nacht
    schütteln, deren Ursache wir aber nicht zu ergründen vermögen. Sie sind nicht ohne
    mich und ich bin nicht ohne sie. Sie müssen ein schaffendes Prinzip haben, einen
    stabilen Herrn (Jung's Ich-Komplex?), aber man kann ihre Form nicht sehen.“

    Die himmlische Musik bietet der theosophischen Geheimlehre Gelegenheit zu
    tiefgründigen naturphilosophischen Gedanken (die Vach-Lehre der Indier z. B.) wie sie
    auch in der praktischen Magie, z. B. in der Mantsam-Kunst und in der kaballistischen
    Batt-Kol, eine Art auditive Autopsie ') eine Rolle spielt. Auch das ästhetische Problem
    der Musik und des Musikers hat den Okultismus der himmlischen Musik zum Hinter-
    grund. Resink.

    Lesefriichte.

    Boccacio, der bekanntlich sehr scharf beobachtete, enthiilt mehrere Beispiele,
    die sowohl für die Traumdeutung (Entstehung der Träume, Wunscherfüllung) sowie
    1) Silberer's ,autosymbolische Halluzinationen“ sind wohl nichts anderes als
    die alte Autopsie (vergl. K. H. G. de Yong, das antike Mysterienwesen, 89, 96 usw.).