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    [21]

    III
    VERGESSEN VON NAMEN UND WORTFOLGEN

    Erfahrungen, wie die eben erwähnte, über den Hergang des
    Vergessens eines Stückes aus einer fremdsprachigen Wortfolge
    können die Wißbegierde rege machen, ob denn das Vergessen
    von Wortfolgen in der Muttersprache eine wesentlich andere
    Aufklärung erfordere. Man pflegt zwar nicht verwundert zu
    sein, wenn man eine auswendig gelernte Formel oder ein
    Gedicht nach einiger Zeit nur ungetreu, mit Abänderungen und
    Lücken reproduzieren kann. Da aber dieses Vergessen das im
    Zusammenhang Erlernte nicht gleichmäßig betrifft, sondern
    wiederum einzelne Stücke daraus loszubröckeln scheint, könnte
    es sich der Mühe verlohnen, einzelne Beispiele von solcher
    fehlerhaft gewordenen Reproduktion analytisch zu untersuchen.

    Ein jüngerer Kollege, der im Gespräche mit mir die Ver-
    mutung äußerte, das Vergessen von Gedichten in der Mutter-
    sprache könnte wohl ähnlich motiviert sein wie das Vergessen
    einzelner Elemente in einer fremdsprachigen Wortfolge, erbot
    sich zugleich zum Untersuchungsobjekt. Ich fragte ihn, an
    welchem Gedichte er die Probe machen wolle, und er wählte
    „Die Braut von Korinth“, welches Gedicht er sehr liebe und
    wenigstens strophenweise auswendig zu kennen glaube. Zu
    Beginn der Reproduktion traf sich ihm eine eigentlich auffällige
    Unsicherheit. „Heißt es: ‚Von Korinthus nach Athen gezogen‘,“

  • S.

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    fragte er, „oder ‚Nach Korinthus von Athen gezogen‘.“ Auch
    ich war einen Moment lange schwankend, bis ich lachend
    bemerkte, daß der Titel des Gedichtes „Die Braut von Korinth“
    ja keinen Zweifel darüber lasse, welchen Weg der Jüngling
    ziehe. Die Reproduktion der ersten Strophe ging dann glatt
    oder wenigstens ohne auffällige Verfälschung vor sich. Nach
    der ersten Zeile der zweiten Strophe schien der Kollege eine
    Weile zu suchen; er setzte bald fort und rezitierte also:

    Aber wird er auch willkommen scheinen,
    Jetzt, wo jeder Tag was Neues bringt?
    Denn er ist noch Heide mit den Seinen
    Und sie sind Christen und — getauft. 

    Ich hatte schon vorher wie befremdet aufgehorcht; nach dem
    Schlusse der letzten Zeile waren wir beide einig, daß hier eine Ent-
    stellung stattgefunden habe. Da es uns aber nicht gelang, dieselbe
    zu korrigieren, eilten wir zur Bibliothek, um Goethes Gedichte zur
    Hand zu nehmen, und fanden zu unserer Überraschung, daß die
    zweite Zeile dieser Strophe einen völlig anderen Wortlaut habe,
    der vom Gedächtnis des Kollegen gleichsam herausgeworfen und
    durch etwas anscheinend fremdes ersetzt worden war. Es hieß
    richtig:

    Aber wird er auch willkommen scheinen,
    Wenn er teuer nicht die Gunst erkauft.

    Auf „erkauft“ reimte „getauft und es schien mir sonderbar,
    daß die Konstellation: Heide, Christen und getauft, ihn bei der
    Wiederherstellung des Textes so wenig gefördert hatte.

    Können Sie sich erklären, fragte ich den Kollegen, daß Sie in
    dem Ihnen angeblich so wohl vertrauten Gedichte die Zeile so
    vollständig gestrichen haben, und haben Sie eine Ahnung, aus
    welchem Zusammenhang Sie den Ersatz holen konnten?

    Er war imstande, Aufklärung zu geben, obwohl er es offenbar nicht
    sehr gern tat. „Die Zeile: Jetzt, wo jeder Tag was Neues bringt, kommt
    mir bekannt vor; ich muß diese Worte vor kurzem mit Bezug auf

  • S.

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    meine Praxis gebraucht haben, mit deren Aufschwung ich, wie Sie
    wissen, gegenwärtig sehr zufrieden bin. Wie dieser Satz aber dahinein
    gehört? Ich wüßte einen Zusammenhang. Die Zeile ‚wenn er teuer
    nicht die Gunst erkauft‘ war mir offenbar nicht angenehm. Es hängt
    das mit einer Bewerbung zusammen, die ein erstes Mal abgeschlagen
    worden ist, und die ich jetzt mit Rücksicht auf meine sehr gebesserte
    materielle Lage zu wiederholen gedenke. Ich kann Ihnen nicht mehr
    sagen, aber es kann mir doch gewiß nicht lieb sein, wenn ich
    jetzt angenommen werde, mich daran zu erinnern, daß eine Art
    von Berechnung damals wie nun den Ausschlag gegeben hat."

    Das erschien mir einleuchtend, auch ohne daß ich die näheren
    Umstände zu wissen brauchte. Aber ich fragte weiter: Wie
    kommen Sie überhaupt dazu, sich und Ihre privaten Verhältnisse
    in den Text der „Braut von Korinth“ zu mengen? Bestehen
    vielleicht in Ihrem Falle solche Unterschiede der Religions-
    bekenntnisse, wie sie im Gedichte zur Bedeutung kommen?

    (Keimt ein Glaube neu,
    wird oft Lieb' und Treu
    wie ein böses Unkraut ausgerauft.)

    Ich hatte nicht richtig geraten, aber es war merkwürdig zu
    erfahren, wie die eine wohlgezielte Frage den Mann plötzlich
    hellsehend machte, so daß er mir als Antwort bringen konnte,
    was ihm sicherlich bis dahin selbst unbekannt geblieben war.
    Er sah mich mit einem gequälten und auch unwilligen Blick
    an, murmelte eine spätere Stelle des Gedichtes vor sich hin:

    Sieh sie an genau1!
    Morgen ist sie grau.

    1) Der Kollege hat übrigens die schöne Stelle des Gedichtes sowohl in ihrem
    Wortlaut wie nach ihrer Anwendung etwas abgeändert. Das gespenstische Mädchen
    sagt seinem Bräutigam:

    Meine Kette hab' ich dir gegeben;
    Deine Locke nehm' ich mit mir fort.
    Sieh sie an genau!
    Morgen bist du grau,
    Und nur braun erscheinst du wieder dort.

  • S.

    24

    und fügte kurz hinzu: Sie ist etwas älter als ich. Um ihm nicht
    noch mehr Pein zu bereiten, brach ich die Erkundigung ab. Die
    Aufklärung erschien mir zureichend. Aber es war gewiß über-
    raschend, daß die Bemühung, eine harmlose Fehlleistung des
    Gedächtnisses auf ihren Grund zurückzuführen, an so fern
    liegende, intime und mit peinlichem Affekt besetzte Angelegen-
    heiten des Untersuchten rühren mußte.

    Ein anderes Beispiel vom Vergessen in der Wortfolge eines
    bekannten Gedichtes will ich nach C. G. Jung1 und mit den
    Worten des Autors anführen.

    „Ein Herr will das bekannte Gedicht rezitieren: ‚Ein Fichten-
    baum steht einsam usw.‘ In der Zeile: ‚Ihn schläfert‘ bleibt er
    rettungslos stecken, er hat ‚mit weißer Decke‘ total vergessen.
    Dieses Vergessen in einem so bekannten Vers schien mir auf-
    fallend, und ich ließ ihn nun reproduzieren, was ihm zu ‚mit
    weißer Decke‘ einfiel. Es entstand folgende Reihe: ‚Man denkt
    bei weißer Decke an ein Totentuch — ein Leintuch, mit dem
    man einen Toten zudeckt — (Pause) — jetzt fällt mir ein naher
    Freund ein — sein Bruder ist jüngst ganz plötzlich gestorben —
    er soll an einem Herzschlag gestorben sein — er war eben auch
    sehr korpulent — mein Freund ist auch korpulent und ich
    habe schon gedacht, es könnte ihm auch so gehen — er gibt
    sich wahrscheinlich zu wenig Bewegung — als ich von dem
    Todesfall hörte, ist mir plötzlich angst geworden, es könnte mir
    auch so gehen, da wir in unserer Familie sowieso Neigung zur
    Fettsucht haben, und auch mein Großvater an einem Herzschlag
    gestorben ist; ich finde mich auch zu korpulent und habe deshalb
    in diesen Tagen mit einer Entfettungskur begonnen.‘”

    „Der Herr hat sich also unbewußt sofort mit dem Fichtenbaum
    identifiziert,“ bemerkt Jung, „der vom weißen Leichentuch
    umhüllt ist.“

    1) C. G. Jung, Über die Psychologie der Dementia praecox, 1907, Seite 64.

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    Das nachstehende Beispiel von Vergessen einer Wortfolge, das
    ich meinem Freunde S. Ferenczi in Budapest verdanke, bezieht
    sich, anders als die vorigen, auf eine selbstgeprägte Rede, nicht
    auf einen vom Dichter übernommenen Satz. Es mag uns auch
    den nicht ganz gewöhnlichen Fall vorführen, daß sich das Ver-
    gessen in den Dienst unserer Besonnenheit stellt, wenn ihr die
    Gefahr droht, einem augenblicklichen Gelüste zu erliegen. Die
    Fehlleistung gelangt so zu einer nützlichen Funktion. Wenn wir
    wieder ernüchtert sind, geben wir dann jener inneren Strömung
    recht, welche sich vorhin nur durch ein Versagen — ein Ver-
    gessen, eine psychische Impotenz — äußern konnte.

    „In einer Gesellschaft fällt das Wort ,Tout comprendre c'est
    tout pardonner‘. Ich bemerke dazu, daß der erste Teil des Satzes
    genügt; das ‚Pardonnieren‘ sei eine Überhebung, man überlasse
    das Gott und den Geistlichen. Ein Anwesender findet diese
    Bemerkung sehr gut; das macht mich verwegen und — wahr-
    scheinlich um die gute Meinung des wohlwollenden Kritikers zu
    sichern — sage ich, daß mir unlängst etwas Besseres eingefallen
    sei. Wie ich es aber erzählen will — fällt es mir nicht ein. —
    Ich ziehe mich sofort zurück und schreibe die Deckeinfälle auf.
    — Zuerst kommt der Name des Freundes und der Straße in
    Budapest, die die Zeugen der Geburt jenes (gesuchten) Einfalles
    waren; dann der Name eines anderen Freundes, Max, den wir
    gewöhnlich Maxi nennen. Das führt mich zum Worte Maxime
    und zur Erinnerung, daß es sich damals (wie im eingangs
    erwähnten Falle) um die Abänderung einer bekannten Maxime
    handelte. Seltsamerweise fällt mir dazu nicht eine Maxime,
    sondern folgendes ein: Gott schuf den Menschen nach
    seinem Bilde
    , und dessen veränderte Fassung: der Mensch
    schuf Gott nach dem seinigen
    . Daraufhin taucht
    sofort die Erinnerung an das Gesuchte auf: Mein Freund sagte
    damals zu mir in der Andrássystraße: Nichts Menschliches
    ist mir fremd
    , worauf ich — auf die psychoanalytischen

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    Erfahrungen anspielend — sagte: Du solltest weiter-
    gehen und bekennen, daß dir nichts Tierisches
    fremd ist
    .“

    „Nachdem ich aber endlich die Erinnerung an das Gesuchte
    hatte, konnte ich es in der Gesellschaft, in der ich mich gerade
    befand, erst recht nicht erzählen. Die junge Gattin des Freundes,
    den ich an die Animalität des Unbewußten erinnert hatte, war
    auch unter den Anwesenden, und ich mußte wissen, daß sie zur
    Kenntnisnahme solcher unerfreulicher Einsichten gar nicht vor-
    bereitet war. Durch das Vergessen ist mir eine Reihe unan-
    genehmer Fragen ihrerseits und eine aussichtslose Diskussion
    erspart worden, und gerade das muß das Motiv der ‚temporären
    Amnesie‘ gewesen sein.“

    „Es ist interessant, daß sich als Deckeinfall ein Satz einstellte,
    in dem die Gottheit zu einer menschlichen Erfindung degradiert
    wird, während im gesuchten Satze auf das Tierische im Menschen
    hingewiesen wurde. Also die capitis diminutio ist das Gemein-
    same. Das Ganze ist offenbar nur die Fortsetzung des durch
    das Gespräch angeregten Gedankenganges über das Verstehen und
    Verzeihen.“

    „Daß sich in diesem Falle das Gesuchte so rasch einstellte,
    verdanke ich vielleicht auch dem Umstand, daß ich mich aus
    der Gesellschaft, in der es zensuriert war, sofort in ein menschen-
    leeres Zimmer zurückzog.“

    Ich habe seither zahlreiche andere Analysen in Fällen von
    Vergessen oder fehlerhafter Reproduktion einer Wortfolge ange-
    stellt und bin durch das übereinstimmende Ergebnis dieser Unter-
    suchungen der Annahme geneigt werden, daß der in den
    Beispielen „aliquis“ und „Braut von Korinth“ nachgewiesene
    Mechanismus des Vergessens fast allgemeine Gültigkeit hat. Es
    ist meist nicht sehr bequem, solche Analysen mitzuteilen, da sie
    wie die vorstehend erwähnten stets zu intimen und für den
    Analysierten peinlichen Dingen hinleiten; ich werde die Zahl

  • S.

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    solcher Beispiele darum auch nicht weiter vermehren. Gemeinsam
    bleibt all diesen Fällen ohne Unterschied des Materials, daß das
    Vergessene oder Entstellte auf irgend einem assoziativen Wege
    mit einem unbewußten Gedankeninhalt in Verbindung gebracht
    wird, von welchem die als Vergessen sichtbar gewordene Wirkung
    ausgeht.

    Ich wende mich nun wiederum zu dem Vergessen von Namen,
    wovon wir bisher weder die Kasuistik noch die Motive erschöpfend
    betrachtet haben. Da ich gerade diese Art von Fehlleistung bei
    mir zuzeiten reichlich beobachten kann, bin ich um Beispiele
    hiefür nicht verlegen. Die leisen Migränen, an denen ich noch
    immer leide, pflegen sich Stunden vorher durch Namenvergessen
    anzukündigen‚ und auf der Höhe des Zustandes, während dessen
    ich die Arbeit aufzugeben nicht genötigt bin, bleiben mir häufig
    alle Eigennamen aus. Nun könnten gerade Fälle wie der meinige
    zu einer prinzipiellen Einwendung gegen unsere analytischen
    Bemühungen Anlaß geben. Soll man aus solchen Beobachtungen
    nicht folgern müssen, daß die Verursachung der Vergeßlichkeit
    und speziell des Namenvergessens in Zirkulations- und allgemeinen
    Funktionsstörungen des Großhirns gelegen ist, und sich darum
    psychologische Erklärungsversuche für diese Phänomene ersparen?
    Ich meine keineswegs; das hieße den in allen Fällen gleichartigen
    Mechanismus eines Vorgangs mit dessen variabeln und nicht
    notwendig erforderlichen Begünstigungen verwechseln. An Stelle
    einer Auseinandersetzung will ich aber ein Gleichnis zur Erledigung
    des Einwandes bringen.

    Nehmen wir an, ich sei so unvorsichtig gewesen, zur Nacht-
    zeit in einer menschenleeren Gegend der Großstadt spazieren zu
    gehen, werde überfallen und meiner Uhr und Börse beraubt. An
    der nächsten Polizeiwachstelle erstatte ich dann die Meldung mit
    den Worten: Ich bin in dieser und jener Straße gewesen, dort
    haben Einsamkeit und Dunkelheit mir Uhr und Börse
    weggenommen. Obwohl ich in diesen Worten nichts gesagt hätte,

  • S.

    28

    was nicht richtig wäre, liefe ich doch Gefahr, nach dem Wort-
    laut meiner Meldung für nicht ganz richtig im Kopfe gehalten
    zu werden. Der Sachverhalt kann in korrekter Weise nur so
    beschrieben werden, daß, von der Einsamkeit des Ortes begünstigt,
    unter dem Schutze der Dunkelheit unbekannte Täter
    mich meiner Kostbarkeiten beraubt haben. Nun denn, der Sach-
    verhalt beim Namenvergessen braucht kein anderer zu sein; durch
    Ermüdung, Zirkulationsstörung und Intoxikation begünstigt, raubt
    mir eine unbekannte psychische Macht die Verfügung über die
    meinem Gedächtnis zustehenden Eigennamen, dieselbe Macht,
    welche in anderen Fällen dasselbe Versagen des Gedächtnisses
    bei voller Gesundheit und Leistungsfähigkeit zustande bringen
    kann.

    Wenn ich die an mir selbst beobachteten Fälle von Namen-
    vergessen analysiere, so finde ich fast regelmäßig, daß der vor-
    enthaltene Name eine Beziehung zu einem Thema hat, welches
    meine Person nahe angeht, und starke, oft peinliche Affekte in mir
    hervorzurufen vermag. Nach der bequemen und empfehlenswerten
    Übung der Züricher Schule (Bleuler, Jung, Riklin) kann
    ich dasselbe auch in der Form ausdrücken: Der entzogene Name
    habe einen „persönlichen Komplex“ in mir gestreift. Die Beziehung
    des Namens zu meiner Person ist eine unerwartete, meist durch
    oberflächliche Assoziation (Wortzweideutigkeit, Gleichklang) ver-
    mittelte; sie kann allgemein als eine Seitenbeziehung gekenn-
    zeichnet werden. Einige einfache Beispiele werden die Natur
    derselben am besten erläutern:

    1) Ein Patient bittet mich, ihm einen Kurort an der Riviera
    zu empfehlen. Ich weiß einen solchen Ort ganz nahe bei Genua,
    erinnere auch den Namen des deutschen Kollegen, der dort
    praktiziert, aber den Ort selbst kann ich nicht nennen, so gut
    ich ihn auch zu kennen glaube. Es bleibt mir nichts anderes
    übrig, als den Patienten warten zu heißen und mich rasch an
    die Frauen meiner Familie zu wenden. „Wie heißt doch der Ort

  • S.

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    neben Genua, wo Dr. N. seine kleine Anstalt hat, in der die und
    jene Frau so lange in Behandlung war?“ „Natürlich, gerade du
    mußtest diesen Namen vergessen. Nervi heißt er.“ Mit Nerven
    habe ich allerdings genug zu tun.

    2) Ein anderer spricht von einer nahen Sommerfrische und
    behauptet, es gebe dort außer den zwei bekannten ein drittes
    Wirtshaus, an welches sich für ihn eine gewisse Erinnerung
    knüpfe; den Namen werde er mir sogleich sagen. Ich bestreite
    die Existenz dieses dritten Wirtshauses und berufe mich darauf,
    daß ich sieben Sommer hindurch in jenem Orte gewohnt habe,
    ihn also besser kennen muß als er. Durch den Widerspruch
    gereizt, hat er sich aber schon des Namens bemächtigt. Das Gast-
    haus heißt: der Hochwartner. Da muß ich freilich nachgeben,
    ja ich muß bekennen, daß ich sieben Sommer lang in der
    nächsten Nähe dieses von mir verleugneten Wirtshauses gewohnt
    habe. Warum sollte ich hier Namen und Sache vergessen haben?
    Ich meine, weil der Name gar zu deutlich an den eines Wiener
    Fachkollegen anklingt, wiederum den „professionellen“ Komplex
    in mir anrührt.

    3) Ein andermal, im Begriffe auf dem Bahnhof von Reichen-
    hall eine Fahrkarte zu lösen, will mir der sonst sehr vertraute
    Name der nächsten großen Bahnstation, die ich schon so oft
    passiert habe, nicht einfallen. Ich muß ihn allen Ernstes auf dem
    Fahrplan suchen. Er lautet: Rosenheim. Dann weiß ich aber
    sofort, durch welche Assoziation er mir abhanden gekommen ist.
    Eine Stunde vorher hatte ich meine Schwester in ihrem Wohn-
    orte ganz nahe bei Reichenhall besucht; meine Schwester heißt
    Rosa, also auch ein Rosenheim. Diesen Namen hat mir der
    „Familienkomplex“ weggenommen.

    4) Das geradezu räuberische Wirken des „Familienkomplexes“
    kann ich dann in einer ganzen Anzahl von Beispielen verfolgen.

    Eines Tages kam ein junger Mann in meine Ordination, jüngerer
    Bruder einer Patientin, den ich ungezählte Male gesehen hatte,

  • S.

    30

    und dessen Person ich mit dem Vornamen zu bezeichnen gewohnt
    war. Als ich dann von seinem Besuch erzählen wollte, hatte ich
    seinen, wie ich wußte, keineswegs ungewöhnlichen Vornamen
    vergessen und konnte ihn durch keine Hilfe zurückrufen. Ich ging
    dann auf die Straße, um Firmenschilder zu lesen, und erkannte
    den Namen, sowie er mir das erstemal entgegentrat. Die Analyse
    belehrte mich darüber, daß ich zwischen dem Besucher und meinem
    eigenen Bruder eine Parallele gezogen hatte, die in der verdrängten
    Frage gipfeln wollte: Hätte sich mein Bruder im gleichen Falle
    ähnlich oder vielmehr entgegengesetzt benommen? Die äußerliche
    Verbindung zwischen den Gedanken über die fremde und über
    die eigene Familie war durch den Zufall ermöglicht worden, daß
    die Mütter hier und dort den gleichen Vornamen: Amalia tragen.
    Ich verstand dann auch nachträglich die Ersatznamen: Daniel und
    Franz, die sich mir aufgedrängt hatten, ohne mich aufzuklären.
    Es sind dies, wie auch Amalia, Namen aus den Räubern von
    Schiller, an welche sich ein Scherz des Wiener Spaziergängers
    Daniel Spitzer knüpft.

    5) Ein andermal kann ich den Namen eines Patienten nicht
    finden, der zu meinen Jugendbeziehungen gehört. Die Analyse
    führt über einen langen Umweg, ehe sie mir den gesuchten Namen
    liefert. Der Patient hatte die Angst geäußert, das Augenlicht zu
    verlieren; dies rief die Erinnerung an einen jungen Mann wach,
    der durch einen Schuß blind geworden war; daran knüpfte sich
    wieder das Bild eines anderen Jünglings, der sich angeschossen
    hatte, und dieser letztere trug denselben Namen wie der erste
    Patient, obwohl er nicht mit ihm verwandt war. Den Namen
    fand ich aber erst, nachdem mir die Übertragung einer ängstlichen
    Erwartung von diesen beiden juvenilen Fällen auf eine Person
    meiner eigenen Familie bewußt geworden war.

    Ein beständiger Strom von „Eigenbeziehung“ geht so durch
    mein Denken, von dem ich für gewöhnlich keine Kunde erhalte,
    der sich mir aber durch solches Namenvergessen verrät. Es ist, als

  • S.

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    wäre ich genötigt, alles, was ich über fremde Personen höre, mit
    der eigenen Person zu vergleichen, als ob meine persönlichen
    Komplexe bei jeder Kenntnisnahme von anderen rege würden. Dies
    kann unmöglich eine individuelle Eigenheit meiner Person sein;
    es muß vielmehr einen Hinweis auf die Art, wie wir überhaupt
    „Anderes“ verstehen, enthalten. Ich habe Gründe anzunehmen,
    daß es bei anderen Individuen ganz ähnlich zugeht wie bei mir.

    Das Schönste dieser Art hat mir als eigenes Erlebnis ein Herr
    Lederer berichtet. Er traf auf seiner Hochzeitsreise in Venedig
    mit einem ihm oberflächlich bekannten Herrn zusammen, den er
    seiner jungen Frau vorstellen mußte. Da er aber den Namen des
    Fremden vergessen hatte, half er sich das erstemal mit einem
    unverständlichen Gemurmel. Als er dann dem Herrn, wie in
    Venedig unausweichlich, ein zweitesmal begegnete, nahm er ihn
    beiseite und bat ihn, ihm doch aus der Verlegenheit zu helfen,
    indem er ihm seinen Namen sage, den er leider vergessen habe.
    Die Antwort des Fremden zeugte von überlegener Menschen-
    kenntnis: Ich glaube es gern, daß Sie sich meinen Namen nicht
    gemerkt haben. Ich heiße wie Sie: Lederer! — Man kann sich
    einer leicht unangenehmen Empfindung nicht erwehren, wenn
    man seinen eigenen Namen bei einem Fremden wiederfindet. Ich
    verspürte sie unlängst recht deutlich, als sich mir in der ärztlichen
    Sprechstunde ein Herr S. Freud vorstellte. (Übrigens nehme ich
    Notiz von der Versicherung eines meiner Kritiker, daß er sich in
    diesem Punkte entgegengesetzt wie ich verhalte).

    6) Die Wirksamkeit der Eigenbeziehung erkennt man auch in
    folgendem von Jung1 mitgeteilten Beispiel:

    „Ein Herr Y. verliebte sich erfolglos in eine Dame, welche
    bald darauf einen Herrn X. heiratete. Trotzdem nun Herr Y. den
    Herrn X. schon seit geraumer Zeit kennt und sogar in geschäft-
    lichen Verbindungen mit ihm steht, vergißt er immer und immer

    1) Dementia praecox, S. 52.

  • S.

    32

    wieder dessen Namen, so daß er sich mehreremal bei anderen
    Leuten danach erkundigen mußte, als er mit Herrn X. korre-
    spondieren wollte.“

    Indes ist die Motivierung des Vergessens in diesem Falle durch-
    sichtiger als in den vorigen, welche unter der Konstellation der
    Eigenbeziehung stehen. Das Vergessen scheint hier direkte Folge
    der Abneigung des Herrn Y. gegen seinen glücklicheren Rivalen;
    er will nichts von ihm wissen; „nicht gedacht soll seiner
    werden“.

    7) Das Motiv zum Vergessen eines Namens kann auch ein
    feineres sein, in einem sozusagen „sublimierten“ Groll gegen
    dessen Träger bestehen. So schreibt ein Fräulein I. v. K. aus
    Budapest:

    „Ich habe mir eine kleine Theorie zurechtgelegt. Ich habe
    nämlich beobachtet, daß Menschen, die Talent zur Malerei, für
    Musik keinen Sinn haben, und umgekehrt. Vor einiger Zeit
    sprach ich hierüber mit jemandem, indem ich sagte: ‚Meine
    Beobachtung hat bisher immer zugetroffen, einen Fall ausge-
    nommen.‘ Als ich mich an den Namen dieser Person erinnern
    wollte, hatte ich ihn hoffnungslos vergessen, trotzdem ich wußte,
    daß sein Träger einer meiner intimsten Bekannten ist. Als ich
    nach einigen Tagen den Namen zufällig nennen hörte, wußte
    ich natürlich sofort, daß vom Zerstörer meiner Theorie die
    Rede war. Der Groll, den ich unbewußt gegen ihn hegte,
    äußerte sich durch das Vergessen seines mir sonst so geläufigen
    Namens.“

    8) Auf etwas anderem Wege führte die Eigenbeziehung zum
    Vergessen eines Namens in dem folgenden von Ferenczi mit-
    geteilten Falle, dessen Analyse besonders durch die Aufklärung
    der Ersatzeinfälle (wie Botticelli—Boltraffio zu Signorelli) lehr-
    reich wird.

    „Einer Dame, die etwas von Psychoanalyse gehört hat, will
    der Name des Psychiaters Jung nicht einfallen.“

  • S.

    33

    „Dafür stellen sich folgende Einfälle ein: Kl. (ein Name) —
    WildeNietzscheHauptmann.“

    „Ich sage ihr den Namen nicht und fordere sie auf, an jeden
    einzelnen Einfall frei zu assoziieren.“

    „Bei Kl. denkt sie sofort an Frau Kl., und daß sie eine
    gezierte, affektierte Person sei, die aber für ihr Alter sehr gut
    aussehe. ‚Sie wird nicht alt.‘ Als gemeinsamen Oberbegriff von
    Wilde und Nietzsche nennt sie ‚Geisteskrankheit‘.
    Dann sagt sie spöttisch: ‚Sie Freudianer werden so lange die
    Ursachen der Geisteskrankheiten suchen, bis sie selbst geistes-
    krank werden.‘ Dann: ‚Ich kann Wilde und Nietzsche
    nicht ausstehen. Ich verstehe sie nicht. Ich höre, sie waren beide
    homosexuell; Wilde hat sich mit jungen Leuten abgegeben.‘
    (Trotzdem sie in diesem Satze den richtigen Namen — allerdings
    ungarisch — schon ausgesprochen hat, kann sie sich seiner immer
    noch nicht erinnern.)“

    „Zu Hauptmann fällt ihr Halbe, dann Jugend ein, und
    jetzt erst, nachdem ich ihre Aufmerksamkeit auf das Wort Jugend
    lenke, weiß sie, daß sie den Namen Jung gesucht hat.“

    „Allerdings hat diese Dame, die im Alter von 39 Jahren den
    Gatten verlor und keine Aussicht hat, sich wieder zu verheiraten,
    Grund genug, der Erinnerung an alles, was an Jugend oder
    Alter gemahnt, auszuweichen. Auffallend ist die rein inhaltliche
    Assoziierung der Deckeinfälle zu dem gesuchten Namen und das
    Fehlen von Klangassoziationen.“

    9) Noch anders und sehr fein motiviert ist ein Beispiel
    von Namenvergessen, welches sich der Betreffende selbst auf-
    geklärt hat:

    „Als ich Prüfung aus Philosophie als Nebengegenstand machte,
    wurde ich vom Examinator nach der Lehre Epikurs gefragt,
    und dann weiter, ob ich wisse, wer dessen Lehre in späteren
    Jahrhunderten wieder aufgenommen habe. Ich antwortete mit
    dem Namen Pierre Gassendi, den ich gerade zwei Tage

  • S.

    34

    vorher im Café als Schüler Epikurs hatte nennen hören. Auf
    die erstaunte Frage, woher ich das wisse, gab ich kühn die Ant-
    wort, daß ich mich seit langem für Gassendi interessiert habe.
    Daraus ergab sich ein magna cum laude fürs Zeugnis, aber leider
    auch für später eine hartnäckige Neigung, den Nauen Gassendi
    zu vergessen. Ich glaube, mein schlechtes Gewissen ist schuld
    daran, wenn ich diesen Namen allen Bemühungen zum Trotz
    jetzt nicht behalten kann. Ich hätte ihn ja auch damals nicht
    wissen sollen.“

    Will man die Intensität der Abneigung gegen die Erinnerung an
    diese Prüfungsepisode bei unserem Gewährsmann richtig würdigen,
    so muß man erfahren haben, wie hoch er seinen Doktortitel
    anschlägt, und für wieviel anderes ihm dieser Ersatz bieten muß.

    10) Ich schalte hier noch ein Beispiel von Vergessen eines
    Städtenamens ein, welches vielleicht nicht so einfach ist wie die
    vorher angeführten, aber jedem mit solchen Untersuchungen
    Vertrauteren glaubwürdig und wertvoll erscheinen wird. Der
    Name einer italienischen Stadt entzieht sich der Erinnerung
    infolge seiner weitgehenden Klangähnlichkeit mit einem weiblichen
    Vornamen, an den sich vielerlei affektvolle, in der Mitteilung
    wohl nicht erschöpfend ausgeführte Erinnerungen knüpfen.
    S. Ferenczi (Budapest), der diesen Fall von Vergessen an sich
    selbst beobachtete, hat ihn behandelt, wie man einen Traum oder
    eine neurotische Idee analysiert, und dies gewiß mit Recht.

    „Ich war heute bei einer befreundeten Familie; es kamen ober-
    italienische Städte zur Sprache. Da erwähnt jemand, daß diese
    den österreichischen Einfluß noch erkennen lassen. Man zitiert
    einige dieser Städte; auch ich will eine nennen, ihr Name fällt
    mir aber nicht ein, obzwar ich weiß, daß ich dort zwei sehr
    angenehme Tage verlebte, was nicht gut zu Freuds Theorie
    des Vergessens stimmt. — Statt des gesuchten Städtenamens
    drängen sich mir folgende Einfälle auf: Capua — Brescia
    Der Löwe von Brescia.“

  • S.

    35

    „Diesen ‚Löwen‘ sehe ich in Gestalt einer Marmorstatue
    wie gegenständlich vor mir stehen, merke aber sofort, daß er
    weniger dem Löwen auf dem Freiheitsdenkmal zu Brescia (das
    ich nur im Bilde gesehen habe), als jenem anderen marmornen
    Löwen ähnelt, den ich am Grabdenkmal der in den
    Tuilerien gefallenen Schweizer Gardisten in Luzern
    gesehen habe, und dessen Reproduktion en miniature auf meinem
    Bücherschrank steht. Endlich fällt mir der gesuchte Name doch
    ein: es ist Verona.“

    „Ich weiß auch sofort, wer an dieser Amnesie schuld war.
    Niemand anderer als eine frühere Bedienstete der Familie, bei der
    ich gerade zu Gaste war. Sie hieß Veronika, auf ungarisch
    Verona, und war mir wegen ihrer abstoßenden Physiognomie
    wie auch wegen ihrer heiseren, kreischenden Stimme
    und unleidlichen Konfidenz (wozu sie sich durch die lange Dienst-
    zeit berechtigt glaubte) sehr antipathisch. Auch die tyrannische Art,
    wie sie seinerzeit die Kinder des Hauses behandelte, war mir unaus-
    stehlich. Nun wußte ich auch, was die Ersatzeinfälle bedeuteten.“

    „An Capua assoziiere ich sofort caput mortuum. Ich
    verglich Veronikas Kopf sehr oft mit einem Totenschädel. —
    Das ungarische Wort kapzsi (geldgierig) gab sicher auch eine
    Determinierung für die Verschiebung her. Natürlich finde ich auch
    jene viel direkteren Assoziationswege, die Capua und Verona
    als geographische Begriffe und als italienische Worte mit gleichem
    Rhythmus miteinander verbinden.“

    „Das gleiche gilt von Brescia; aber auch hier finden sich
    verschlungene Seitenwege der Ideenverknüpfung.“

    „Meine Antipathie war seinerzeit so heftig, daß ich Veronika
    förmlich ekelhaft fand und mehreremal mein Erstaunen darüber
    äußerte, daß sie doch ein Liebesleben haben und geliebt werden
    konnte; ‚sie zu küssen‘ — sagte ich — ‚muß ja einen Brech-
    reiz hervorrufen.‘ Und doch war sie sicher längst in Beziehung
    zu bringen zur Idee der gefallenen Schweizer Gardisten.“

  • S.

    36

    Brescia wird, wenigstens hier in Ungarn, nicht mit dem
    Löwen, sondern einem anderen wilden Tier zusammen sehr
    oft genannt. Der bestgehaßte Name in diesem Lande wie auch
    in Oberitalien ist der des Generals Haynau, der kurzweg die
    Hyäne von Brescia genannt wird. Vom gehaßten Tyrannen
    Haynau führt also der eine Gedankenfaden über Brescia zur Stadt
    Verona, der andere über die Idee des Totengräbertieres
    mit der heiseren Stimme (der das Auftauchen eines Grab-
    denkmals mitbestimmt) zum Totenschädel und zum unange-
    nehmen Organ der durch mein Unbewußtes so arg beschimpften
    Veronika, die seinerzeit in diesem Hause beinahe so tyrannisch
    gehaust hat, wie der österreichische General nach den ungarischen
    und italienischen Freiheitskämpfen.“

    „An Luzern knüpft sich der Gedanke an den Sommer, den
    Veronika mit ihrer Dienstherrschaft am Vierwaldstätter See in
    der Nähe von Luzern
    verbrachte; an die ‚Schweizer
    Garde
    ‘ wiederum die Erinnerung, daß sie nicht nur die Kinder,
    sondern auch die erwachsenen Mitglieder der Familie zu
    tyrannisieren verstand und sich in der Rolle der Garde-Dame
    gefiel.“

    „Ich bemerke ausdrücklich, daß diese meine Antipathie gegen
    V. — bewußt — zu den längst überwundenen Dingen gehört.
    Sie hat sich inzwischen äußerlich wie in ihren Manieren sehr
    zu ihrem Vorteil verändert, und ich kann ihr (wozu ich aller-
    dings selten Gelegenheit habe) mit aufrichtiger Freundlichkeit
    begegnen. Mein Unbewußtes hält, wie gewöhnlich, zäher an den
    Eindrücken fest, es ist ‚nachträglich‘ und nachtragend.“

    „Die Tuilerien sind eine Anspielung auf eine zweite
    Persönlichkeit, eine ältere französische Dame, die die Frauen
    des Hauses bei vielen Anlässen tatsächlich ,gardiert‘ hat, und
    die von groß und klein geachtet — wohl ein wenig auch
    gefürchtet wird. Ich war eine Zeitlang ihr élève in fran-
    zösischer Konversation. Zum Worte élève fällt mir noch ein,

  • S.

    37

    daß ich, als ich beim Schwager meines heutigen Gastgebers
    in Nordböhmen auf Besuch war, viel darüber lachen mußte,
    daß die dortige Landbevölkerung die Eleven der dortigen Forst-
    akademie ‚Löwen‘ nannte. Auch diese lustige Erinnerung mag
    an der Verschiebung von der Hyäne zum Löwen beteiligt
    gewesen sein.“

    11) Auch das nachstehende Beispiel1 kann zeigen, wie ein
    zurzeit die Person beherrschender Eigenkomplex ein Namen-
    vergessen an weit abliegender Stelle hervorruft:

    „Zwei Männer, ein älterer und ein jüngerer, die vor sechs
    Monaten gemeinsam in Sizilien gereist sind, tauschen Erinne-
    rungen an jene schönen und inhaltreichen Tage aus. ‚Wie hat
    nur der Ort geheißen,‘ fragt der Jüngere, ‚an dem wir über-
    nachtet haben, um die Partie nach Selinunt zu machen?
    Calatafimi, nicht wahr?‘ — Der Ältere weist dies zurück:
    ‚Gewiß nicht, aber ich habe den Namen ebenfalls vergessen,
    obwohl ich mich an alle Einzelheiten des Aufenthaltes dort sehr
    gut erinnere. Es reicht bei mir hin, daß ich merke, ein anderer
    habe einen Namen vergessen; sogleich wird auch bei mir das
    Vergessen induziert. Wollen wir den Namen nicht suchen? Mir
    fällt aber kein anderer ein als Caltanisetta, der doch gewiß
    nicht der richtige ist.‘ — ,Nein,‘ sagt der Jüngere, ‚der Name
    fängt mit w an oder es kommt ein w darin vor.‘ — ,Ein w
    gibt es doch im Italienischen nicht,‘ mahnt der Ältere. — ‚Ich
    meinte ja auch nur ein v und habe nur w gesagt, weil ich’s
    von meiner Muttersprache her so gewohnt bin.‘ — Der Ältere
    sträubt sich gegen das v. Er meint: ‚Ich glaube, ich habe über-
    haupt schon viele sizilianische Namen vergessen; es wäre an der
    Zeit, Versuche zu machen. Wie heißt z. B. der hochgelegene
    Ort, der im Altertum Enna geheißen hat? — Ah, ich weiß
    schon: Castrogiovanni.‘ — Im nächsten Moment hat der

    1) Zentralblatt für Psychoanalyse, I, 9, 1911.

  • S.

    38

    Jüngere auch den verlorenen Namen wiedergefunden. Er ruft:
    Castelvetrano und freut sich, das behauptete v nachweisen
    zu können. Der Ältere vermißt noch eine Weile das Bekannt-
    heitsgefüh]; nachdem er aber den Namen akzeptiert hat, soll er
    Auskunft darüber geben, weshalb er ihm entfallen war. Er
    meint: ‚Offenbar weil die zweite Hälfte vetrano an —
    Veteran anklingt. Ich weiß schon, daß ich nicht gern ans
    Altern denke und in sonderbarer Weise reagiere, wenn ich
    daran gemahnt werde. So z. B. habe ich unlängst einem hoch-
    geschätzten Freund in der merkwürdigsten Einkleidung vorge-
    halten, daß er ‚längst über die Jahre der Jugend hinaus sei‘,
    weil dieser früher einmal mitten unter den schmeichelhaftesten
    Äußerungen über mich auch behauptete: ‚Ich sei kein junger
    Mann mehr.‘ Daß sich der Widerstand bei mir gegen die zweite
    Hälfte des Namens Castelvetrano gerichtet hat, geht ja auch
    daraus hervor, daß der Anlaut desselben in dem Ersatznamen
    Caltanisetta wiedergekehrt war.‘ — ‚Und der Name
    Caltanisetta selbst?‘ fragt der Jüngere. — ‚Der ist mir
    immer wie ein Kosenamen für ein junges Weib erschienen,‘
    gesteht der Ältere ein.“

    „Einige Zeit später setzt er hinzu: ‚Der Name für Enna
    war ja auch ein Ersatzname. Und nun fällt mir auf, daß dieser
    mit Hilfe einer Rationalisierung vordringende Namen Castro-
    giovanni genau so an giovane—jung anklingt, wie der
    verlorene Name Castelvetrano an Veteran—alt.‘“

    „Der Ältere glaubt so für sein Namenvergessen Rechenschaft
    gegeben zu haben. Aus welchem Motiv der Jüngere zum gleichen
    Ausfallsphänomen gekommen war, wurde nicht untersucht.“

    Neben den Motiven des Namenvergessens verdient auch der
    Mechanismus desselben unser Interesse. In einer großen Reihe
    von Fällen wird ein Name vergessen, nicht weil er selbst solche
    Motive wachruft, sondern weil er durch Gleichklang und Laut-
    ähnlichkeit an einen anderen streift, gegen den sich diese Motive

  • S.

    39

    richten. Man versteht, daß durch solche Lockerung der Bedin-
    gungen eine außerordentliche Erleichterung für das Zustande-
    kommen des Phänomens geschaffen wird. So in den folgenden
    Beispielen:

    12) Dr. Ed. Hitschmann: „Herr N. will die Buchhandlungsfirma
    Gilhofer & Ranschburg jemandem angeben. Es fällt
    ihm aber trotz allen Nachdenkens nur der Name Ranschburg ein,
    trotzdem ihm die Firma sonst sehr geläufig ist. Mit einer
    leichten Unbefriedigung darüber nach Hause kommend, ist ihm
    die Sache wichtig genug, um den anscheinend bereits schlafenden
    Bruder nach der ersten Hälfte des Firmanamens zu fragen. Der-
    selbe nennt ihn anstandslos. Darauf fällt Herrn N. sofort zu
    ,Gilhofer‘ das Wort ‚Gallhof‘ ein. Zum ,Gallhof‘ hatte er einige
    Monate vorher in Gesellschaft eines anziehenden Mädchens
    einen erinnerungsreichen Spaziergang gemacht. Das Mädchen
    hatte ihm als Andenken einen Gegenstand geschenkt, auf dem
    geschrieben steht: ‚Zur Erinnerung an die schönen Gallhofer
    Stunden.‘ In den letzten Tagen vor dem Namenvergessen wurde
    dieser Gegenstand, scheinbar zufällig, beim raschen Zuschieben
    der Lade durch N. stark beschädigt, was er — mit dem Sinne
    von Symptomhandlungen vertraut — nicht ohne Schuldgefühl
    konstatierte. Er war in diesen Tagen in etwas ambivalenter
    Stimmung zu der Dame, die er zwar liebte, deren Ehewunsch
    er aber zaudernd gegenüberstand.“ (Internat. Zeitschr. f. Psycho-
    analyse I, 1913.)

    13) Dr. Hanns Sachs: „In einem Gespräche über Genua und
    seine nächste Umgebung will ein junger Mann auch den Ort
    Pegli nennen, kann den Namen aber erst mit Mühe, durch
    angestrengtes Nachdenken, erinnern. Im Nachhausegehen denkt
    er an das peinliche Entgleiten dieses ihm sonst vertrauten
    Namens und wird dabei auf das ganz ähnlich klingende Wort
    Peli geführt. Er weiß, daß eine Südsee-Insel so heißt, deren
    Bewohner ein paar merkwürdige Gebräuche bewahrt haben. Er

  • S.

    40

    hat darüber vor kurzem in einem ethnologischen Werk gelesen
    und sich damals vorgenommen, diese Mitteilungen für eine
    eigene Hypothese zu verwerten. Dann fällt ihm ein, daß Peli
    auch der Schauplatz eines Romanes ist, den er mit Interesse
    und Vergnügen gelesen hat, nämlich von ‚Van Zantens glück-
    lichste Zeit‘ von Laurids Bruun. — Die Gedanken, die ihn
    an diesem Tage fast unaufhörlich beschäftigt hatten, knüpften
    sich an einen Brief, den er am selben Morgen von einer ihm
    sehr teuren Dame erhalten hatte; dieser Brief läßt ihn befürchten,
    daß er auf ein verabredetes Zusammentreffen werde verzichten
    müssen. Nachdem er den ganzen Tag in übelster Laune zuge-
    bracht hatte, war er am Abend mit dem Vorsatz ausgegangen,
    sich nicht länger mit dem ärgerlichen Gedanken abzuplagen,
    sondern die ihm in Aussicht stehende und von ihm äußerst hoch
    geschätzte Geselligkeit möglichst ungetrübt zu genießen. Es ist
    klar, daß durch das Wort Pegli sein Vorsatz arg gefährdet
    werden konnte, da dieses mit Peli lautlich so eng zusammen-
    hängt; Peli aber, da es durch das ethnologische Interesse die
    Ich-Beziehung gewonnen hatte, verkörpert nicht nur Van Zantens,
    sondern auch seine eigene ,glücklichste Zeit‘ und deshalb auch
    die Befürchtungen und Sorgen, die er tagsüber genährt hatte.
    Es ist charakteristisch, daß diese einfache Deutung erst gelang,
    nachdem ein zweiter Brief die Zweifel in eine fröhliche Gewiß-
    heit baldigen Wiedersehens umgewandelt hatte.“

    Erinnert man sich bei diesem Beispiel an das ihm
    sozusagen benachbarte, in welchem der Ortsnamen Nervi nicht
    erinnert werden kann (Beispiel 1), so sieht man, wie sich der
    Doppelsinn eines Wortes durch die Klangähnlichkeit zweier
    Worte ersetzen läßt.

    14) Als 1915 der Krieg mit Italien ausbrach, konnte ich an
    mir die Beobachtung machen, daß meinem Gedächtnis plötzlich
    eine ganze Anzahl von Namen italienischer Örtlichkeiten entzogen
    war, über die ich sonst leicht verfügt hatte. Wie so viele andere

  • S.

    41

    Deutsche hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, einen Teil
    der Ferien auf italienischem Boden zuzubringen, und konnte
    nicht daran zweifeln, daß dies massenhafte Namenvergessen der
    Ausdruck der begreiflichen Verfeindung mit Italien war, die nun
    an die Stelle der früheren Vorliebe trat. Neben diesem direkt
    motivierten Namenvergessen machte sich aber auch ein indirektes
    bemerkbar, welches auf denselben Einfluß zurückzuführen war.
    Ich neigte auch dazu, nichtitalienische Ortsnamen zu vergessen,
    und fand bei der Untersuchung dieser Vorfälle, daß diese Namen
    irgendwie durch entfernten Anklang mit den verpönten feind-
    lichen zusammenhingen. So quälte ich mich eines Tages mit
    dem Erinnern des mährischen Städtenamens Bisenz. Als er mir
    endlich einfiel, wußte ich sofort, daß dieses Vergessen auf
    Rechnung des Palazzo Bisenzi in Orvieto zu setzen sei. In
    diesem Palazzo befindet sich das Hotel Belle Arti, wo ich bei
    jedem meiner Aufenthalte in Orvieto gewohnt hatte. Die liebsten
    Erinnerungen waren natürlich durch die veränderte Gefühls-
    einstellung am stärksten geschädigt worden.

    Es ist auch zweckmäßig, daß wir uns durch einige Beispiele
    daran mahnen lassen, in den Dienst wie verschiedener Absichten
    sich die Fehlleistung des Namenvergessens stellen kann.

    15) A. J. Storfer („Namenvergessen zur Sicherung eines
    Vorsatzvergessens“): „Eine Basler Dame wird eines Morgens
    verständigt, daß ihre Jugendfreundin Selma X. aus Berlin, die
    eben auf ihrer Hochzeitsreise begriffen ist, auf der Durchreise in
    Basel angekommen ist; die Berliner Freundin soll nur einen Tag
    in Basel bleiben, und die Baslerin eilt daher sofort ins Hotel. Als
    die Freundinnen auseinandergehen, verabreden sie, nachmittags
    wieder zusammenzukommen und bis zur Abreise der Berlinerin
    beisammen zu bleiben. — Nachmittags vergißt die Baslerin
    das Rendezvous. Die Determination dieses Vergessens ist mir nicht
    bekannt, doch sind ja gerade in dieser Situation (Zusammentreffen
    mit einer eben verheirateten Jugendfreundin) mehrerlei

  • S.

    42

    typische Konstellationen möglich, die eine Hemmung gegen die
    Wiederholung der Zusammenkunft bedingen können. Das Inter-
    essante an diesem Falle ist eine fernere Fehlleistung, die eine
    unbewußte Sicherung der ersten darstellt. Zur Zeit, da sie wieder
    mit der Freundin aus Berlin zusammenkommen sollte, befand sich
    die Baslerin an einem anderen Orte in Gesellschaft. Es kam auf
    die vor kurzem erfolgte Heirat der Wiener Opernsängerin Kurz
    die Rede. Die Basler Dame äußerte sich in kritischer Weise (!)
    über diese Ehe, als sie aber den Namen der Sängerin aussprechen
    wollte, fiel ihr zu ihrer größten Verlegenheit der Vorname
    nicht ein. (Bekanntlich neigt man gerade bei einsilbigen Familien-
    namen besonders dazu, den Vornamen mitzunennen.) Die Basler
    Dame ärgerte sich um so mehr über die Gedächtnisschwäche, als
    sie die Sängerin Kurz oft singen gehört hatte und der (ganze)
    Name ihr sonst geläufig war. Ohne daß vorher jemand anderer
    den entfallenen Vornamen genannt hätte, nahm das Gespräch
    eine andere Wendung. — Am Abend desselben Tages befindet
    sich unsere Basler Dame in einer mit der nachmittägigen zum
    Teil identischen Gesellschaft. Es kommt zufällig wieder auf die
    Ehe der Wiener Sängerin die Rede und die Dame nennt ohne
    jede Schwierigkeit den Namen ‚Selma Kurz‘. Dem folgt auch
    gleich ihr Ausruf: ‚Ach, jetzt fällt mir ein: ich habe ganz vergessen,
    daß ich heute nachmittag eine Verabredung mit meiner Freundin
    Selma hatte.‘ Ein Blick auf die Uhr zeigte, daß die Freundin
    schon abgereist sein mußte.“ (Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse,
    II, 1914.)

    Wir sind vielleicht noch nicht vorbereitet, dieses schöne Beispiel
    nach all seinen Beziehungen zu würdigen. Einfacher ist das nach-
    folgende, in dem zwar nicht ein Name, aber ein fremdsprachliches
    Wort aus einem in der Situation liegenden Motiv vergessen wird.
    (Wir bemerken schon, daß wir dieselben Vorgänge behandeln, ob
    sie sich nun auf Eigennamen, Vornamen, fremdsprachliche Worte
    oder Wortfolgen beziehen.) Hier vergißt ein junger Mann das

  • S.

    43

    englische Wort für Gold, das mit dem deutschen identisch ist,
    um Anlaß zu einer ihm erwünschten Handlung zu finden.

    16) Dr. Hanns Sachs: „Ein junger Mann lernt in einer
    gemeinsamen Pension eine Engländerin kennen, die ihm gefällt.
    Als er sich am ersten Abend ihrer Bekanntschaft in ihrer
    Muttersprache, die er so ziemlich beherrscht, mit ihr unter-
    hält und dabei das englische Wort für ‚Gold‘ verwenden will,
    fällt ihm trotz angestrengten Suchens das Vokabel nicht ein.
    Dagegen drängen sich ihm als Ersatzworte das französische or,
    das lateinische aurum und das griechische chrysos hartnäckig
    auf, so daß er nur mit Mühe imstande ist, sie abzuweisen,
    obgleich er bestimmt weiß, daß sie mit dem gesuchten Worte
    keine Verwandtschaft haben. Er findet schließlich keinen anderen
    Weg, sich verständlich zu machen, als den, einen goldenen
    Ring, den die Dame an der Hand trägt, zu berühren; sehr
    beschämt erfährt er nun von ihr, daß das Ianggesuchte Wort
    für Gold genau so laute wie das deutsche, nämlich: gold.
    Der hohe Wert einer solchen, durch das Vergessen herbeige-
    führten Berührung liegt nicht bloß in der unanstößigen Befriedi-
    gung des Ergreifungs- oder Berührungstriebes, die ja auch
    bei anderen, von Verliebten eifrig ausgenutzten Anlässen möglich
    ist, sondern noch viel mehr darin, daß sie eine Aufklärung
    über die Aussichten der Bewerbung ermöglicht. Das Unbewußte
    der Dame wird, besonders wenn es dem Gesprächspartner gegen-
    über sympathisch eingestellt ist, den hinter der harmlosen Maske
    verborgenen erotischen Zweck des Vergessens erraten; die Art
    und Weise, wie sie die Berührung aufnimmt und die Moti-
    vierung gelten läßt, kann so ein beiden Teilen unbewußtes,
    aber sehr bedeutungsvolles Mittel der Verständigung über die
    Chancen des eben begonnenen Flirts werden.“

    17) Ich teile noch nach J. Stärcke eine interessante Beobachtung
    von Vergessen und Wiederauffinden eines Eigennamens mit, die
    sich dadurch auszeichnet, daß mit dem Namenvergessen die

  • S.

    44

    Fälschung der Wortfolge eines Gedichtes wie im Beispiel der
    „Braut von Korinth“ verbunden ist.

    „Ein alter Jurist und Sprachgelehrter, Z., erzählt in Gesell-
    schaft, daß er in seiner Studentenzeit in Deutschland einen
    Studenten gekannt hat, der außerordentlich dumm war, und über
    dessen Dummheit er manche Anekdote zu erzählen weiß. Er kann
    sich aber an den Namen dieses Studenten nicht erinnern, glaubt,
    daß dieser Name mit W anfängt, nimmt dies aber später wieder
    zurück. Er erinnert sich, daß dieser dumme Student später
    Weinhändler geworden ist. Dann erzählt er wieder eine
    Anekdote von der Dummheit desselben Studenten, verwundert
    sich noch einmal darüber, daß sein Name ihm nicht einfällt,
    und sagt dann: ‚Er war ein solcher Esel, daß ich noch nicht
    begreife, daß ich ihm mit Wiederholen Lateinisch habe
    eintrichtern können.‘ Einen Augenblick später erinnert er
    sich, daß der gesuchte Name ausgeht auf ...man. Jetzt fragen
    wir ihn, ob ihm ein anderer Name, der auf man ausgeht,
    einfällt, und er sagt: Erdmann. — ‚Wer ist denn das?‘ —
    ‚Das war auch ein Student aus dieser Zeit.‘ — Seine Tochter
    bemerkt aber, daß es auch einen Professor Erdmann gibt. Bei
    genauerer Erörterung zeigt sich, daß dieser Professor Erdmann
    vor kurzem eine von Z. eingesandte Arbeit nur in verkürzter
    Form in eine von ihm redigierte Zeitschrift hat aufnehmen
    lassen und zum Teil damit nicht einverstanden war, usw., und
    daß Z. das als ziemlich unangenehm empfunden hat. (Überdies
    vernahm ich später, daß Z. in früheren Jahren wohl einmal die
    Aussicht gehabt hat, Professor in demselben Fache zu werden,
    worin jetzt Professor E. doziert, und daß dieser Name also auch
    in dieser Hinsicht vielleicht eine empfindliche Saite berührt.)

    Jetzt fällt ihm plötzlich der Name des dummen Studenten
    ein: Lindeman! Weil er sich schon früher erinnert hatte,
    daß der Name auf ...man ausgeht, war also Linde noch
    länger verdrängt geblieben. Auf die Frage, was ihm bei Linde

  • S.

    45

    einfällt, sagt er zuerst: ‚Dabei fällt mir gar nichts ein.‘ Auf mein
    Drängen, daß ihm bei diesem Worte doch wohl etwas einfallen
    wird, sagt er, indem er aufwärts blickt und mit der Hand eine
    Gebärde in der Luft macht: ‚Nun ja, eine Linde, das ist ein
    schöner Baum.‘ Weiter will ihm dabei nichts einfallen. Alle
    schweigen und jedermann verfolgt seine Lektüre und andere
    Beschäftigung, bis Z. einige Augenblicke später in träumerischem
    Tone folgendes zitiert:

    Steht er mit festen
    Gefügigen Knochen
    Auf der Erde,
    So reicht er nicht auf,
    Nur mit der Linde
    Oder der Rebe
    Sich zu vergleichen.

    Ich stieß einen Triumphschrei aus: ‚Da haben wir den Erd-
    mann,‘ sagte ich. ,Jener Mann, der ‚auf der Erde steht‘, das ist
    also der Erde-Mann oder Erdmann, kann nicht aufreichen,
    sich mit der Linde (Lindeman) oder der Rebe (Wein-
    händler) zu vergleichen. Mit anderen Worten: jener Lindeman,
    der dumme Student, der später Weinhändler geworden ist, war
    schon ein Esel, aber der Erdmann ist ein noch viel größerer
    Esel, kann sich mit diesem Lindeman noch nicht vergleichen.‘
    — Eine solche im Unbewußten gehaltene Hohn- oder Schmäh-
    rede ist etwas sehr Gewöhnliches, darum kam es mir vor, daß
    die Hauptursache des Namenvergessens jetzt wohl gefunden war.

    Ich fragte jetzt, aus welchem Gedichte die zitierten Zeilen
    stammten. Z. sagte, daß es ein Gedicht von Goethe sei, er
    glaubte, daß es anfängt:

    Edel sei der Mensch
    Hilfreich und gut!

    und daß weiter auch darin vorkommt:

    Und hebt er sich aufwärts,
    So spielen mit ihm die Winde.

  • S.

    46

    Am nächsten Tag suchte ich dieses Gedicht von Goethe auf,
    und es zeigte sich, daß der Fall noch hübscher (aber auch
    komplizierter) war, als er erst zu sein schien.

    a) Die ersten zitierten Zeilen lauten (vgl. oben):

    Steht er mit festen
    Markigen Knochen.

    Gefügige Knochen wäre eine ziemlich fremdartige Kom-
    bination. Darauf will ich aber nicht näher eingehen.

    b) Die folgenden Zeilen dieser Strophe lauten (vgl. oben):

    Auf der wohlbegründeten
    Dauernden Erde,
    Reicht er nicht auf,
    Nur mit der Eiche
    Oder der Rebe
    Sich zu vergleichen.

    Es kommt also im ganzen Gedicht keine Linde vor! Der
    Wechsel von Linde statt Eiche hat (in seinem Unbewußten)
    nur stattgefunden, um das Wortspiel ,Erde—Linde—Rebe‘ zu
    ermöglichen.

    c) Dieses Gedicht heißt: ‚Grenzen der Menschheit‘ und enthält
    eine Vergleichung zwischen der Allmacht der Götter und der
    geringen Macht des Menschen. Das Gedicht, dessen Anfang lautet:

    Edel sei der Mensch,
    Hilfreich und gut!

    ist aber ein anderes Gedicht, das einige Seiten weiter steht. Es
    heißt: ‚Das Göttliche‘, und enthält ebenso Gedanken über Götter
    und Menschen. Weil hierauf nicht näher eingegangen worden
    ist, kann ich höchstens vermuten, daß auch Gedanken über Leben
    und Tod, über das Zeitliche und das Ewige und über das eigene
    schwache Leben und den künftigen Tod beim Entstehen dieses
    Falles eine Rolle gespielt haben1.“

    1) Aus der holländischen Ausgabe dieses Buches unter dem Titel: De invloed
    van ons onbewuste in ons dagelijksche leven, Amsterdam 1916, deutsch abgedruckt
    in Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, IV, 1916.

  • S.

    47

    In manchen dieser Beispiele werden alle Feinheiten der psycho-
    analytischen Technik in Anspruch genommen, um ein Namen-
    vergessen aufzuklären. Wer mehr von solcher Arbeit kennen
    lernen will, den verweise ich auf eine Mitteilung von E. Jones
    (London), die aus dem Englischen übersetzt ist1.

    18) Ferenczi hat bemerkt, daß das Namenvergessen auch
    als hysterisches Symptom auftreten kann. Es zeigt dann einen
    Mechanismus, der sich von dem der Fehlleistung weit entfernt.
    Wie diese Unterscheidung gemeint ist, soll aus seiner Mitteilung
    ersichtlich werden:

    „Ich habe jetzt eine Patientin, ein alterndes Fräulein, in
    Behandlung, der auch die gebräuchlichsten und ihr bestbekannten
    Eigennamen nicht einfallen wollen, obwohl sie sonst ein gutes
    Gedächtnis hat. Bei der Analyse stellte sich heraus, daß sie durch
    dieses Symptom ihre Unwissenheit dokumentieren will. Diese
    demonstrative Hervorkehrung ihrer Ignoranz ist aber eigentlich
    ein Vorwurf gegen ihre Eltern, die ihr keine höhere Schulbildung
    zuteil werden ließen. Auch ihr quälender Zwang zum Reine-
    machen (‚Hausfrauenpsychose‘) entspringt zum Teil aus derselben
    Quelle. Sie will damit ungefähr sagen: Ihr habt einen Dienst-
    boten aus mir gemacht.“

    Ich könnte die Beispiele von Namenvergessen vermehren und
    die Diskussion derselben sehr viel weiter führen, wenn ich nicht
    vermeiden wollte, fast alle Gesichtspunkte, die für spätere Themata
    in Betracht kommen, schon hier beim ersten zu erörtern. Doch
    darf ich mir gestatten, die Ergebnisse der hier mitgeteilten Analysen
    in einigen Sätzen zusammenzufassen:

    Der Mechanismus des Namenvergessens (richtiger: des Entfallens,
    zeitweiligen Vergessens) besteht in der Störung der intendierten
    Reproduktion des Namens durch eine fremde und derzeit nicht
    bewußte Gedankenfolge. Zwischen dem gestörten Namen und dem

    1) Analyse eines Falles von Namenvergessen. Zentralblatt für Psychoanalyse,
    II, 1911.

  • S.

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    störenden Komplex besteht entweder ein Zusammenhang von
    vornherein, oder ein solcher hat sich, oft auf gekünstelt erschei-
    nenden Wegen, durch oberflächliche (äußerliche) Assoziationen
    hergestellt.

    Unter den störenden Komplexen erweisen sich die der Eigen-
    beziehung (die persönlichen, familiären, beruflichen) als die
    wirksamsten.

    Ein Name, der infolge von Mehrdeutigkeit mehreren Gedanken-
    kreisen (Komplexen) angehört, wird häufig im Zusammenhange
    der einen Gedankenfolge durch seine Zugehörigkeit zum anderen,
    stärkeren Komplex gestört.

    Unter den Motiven dieser Störungen leuchtet die Absicht
    hervor, die Erweckung von Unlust durch Erinnern zu vermeiden.

    Man kann im allgemeinen zwei Hauptfälle des Namen-
    vergessens unterscheiden, wenn der Name selbst an Unangenehmes
    rührt, oder wenn er mit anderem in Verbindung gebracht ist,
    dem solche Wirkung zukäme, so daß Namen um ihrer selbst
    willen oder wegen ihrer näheren oder entfernteren Assoziations-
    beziehungen in der Reproduktion gestört werden können.

    Ein Überblick dieser allgemeinen Sätze läßt uns verstehen, daß
    das zeitweilige Namenvergessen als die häufigste unserer Fehl-
    leistungen zur Beobachtung kommt.

    19) Wir sind indes weit davon entfernt, alle Eigentümlich-
    keiten dieses Phänomens verzeichnet zu haben. Ich will noch
    darauf hinweisen, daß das Namenvergessen in hohem Grade
    ansteckend ist. In einem Gespräche zweier Personen reicht es
    oft hin, daß die eine äußere, sie habe diesen oder jenen Namen
    vergessen, um ihn auch bei der zweiten Person entfallen zu
    lassen. Doch stellt sich dort, wo das Vergessen induziert ist, der
    vergessene Name leichter wieder ein. Dieses „kollektive“ Vergessen,
    streng genommen ein Phänomen der Massenpsychologie, ist noch
    nicht Gegenstand der analytischen Untersuchung geworden. In
    einem einzigen, aber besonders schönen Fall hat Th. Reik

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    eine gute Erklärung dieses merkwürdigen Vorkommens geben
    können1.

    „In einer kleinen Gesellschaft von Akademikern, in der sich
    auch zwei Studentinnen der Philosophie befanden, sprach man
    von den zahlreichen Fragen, welche der Ursprung des Christen-
    tums der Kulturgeschichte und Religionswissenschaft aufgibt. Die
    eine der jungen Damen, welche sich am Gespräch beteiligte,
    erinnerte sich, in einem englischen Roman, den sie kürzlich
    gelesen hatte, ein anziehendes Bild der vielen religiösen Strö-
    mungen, welche jene Zeit bewegten, gefunden zu haben. Sie
    fügte hinzu, in dem Roman werde das ganze Leben Christi von
    der Geburt bis zu seinem Tode geschildert, doch wollte ihr der
    Name der Dichtung nicht einfallen (die visuelle Erinnerung an
    den Umschlag des Buches und an das typographische Bild des
    Titels war überdeutlich). Auch drei von den anwesenden
    Herren behaupteten, den Roman zu kennen, und bemerkten,
    daß auch ihnen sonderbarerweise der Name nicht zur Verfügung
    stehe ...

    Nur die junge Dame unterzog sich der Analyse zur Aufklärung
    dieses Namenvergessens. Der Titel des Buches lautete: Ben Hur
    (von Lewis Wallace). Ihre Ersatzeinfälle waren: Ecce homo —
    homo sum — quo vadis? gewesen. Das Mädchen verstand selbst,
    daß sie den Namen vergessen, „weil er einen Ausdruck enthält,
    den ich und jedes andere junge Mädchen — noch dazu in
    Gesellschaft junger Leute — nicht gern gebrauchen wird“. Diese
    Erklärung fand durch die sehr interessante Analyse eine weitere
    Vertiefung. In dem einmal berührten Zusammenhang hat ja auch
    die Übersetzung von homo, Mensch, eine anrüchige Bedeutung.
    Reik schließt nun: Die junge Dame behandelt das Wort so,
    als ob sie sich mit dem Aussprechen jenes verdächtigen Titels
    vor jungen Männern zu den Wünschen bekannt hätte, die sie

    1) Über kollektives Vergessen, Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, VI, 1920.
    (Auch in Reik, Der eigene und der fremde Gott, 1923.)

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    als ihrer Persönlichkeit nicht gemäß und als peinlich abgewiesen
    hat. Kürzer gesagt: unbewußt setzt sie das Aussprechen von „Ben
    Hur“ einem sexuellen Angebot gleich und ihr Vergessen entspricht
    demnach der Abwehr einer unbewußten Versuchung dieser Art.
    Wir haben Grund zur Annahme, daß ähnliche unbewußte Vor-
    gänge das Vergessen der jungen Männer bedingt haben. Ihr
    Unbewußtes hat das Vergessen des Mädchens in seiner wirklichen
    Bedeutung erfaßt und es ... gleichsam gedeutet ... Das Vergessen
    der Männer stellt eine Rücksicht auf solch abweisendes Verhalten
    dar ... Es ist so, als hätte ihnen ihre Gesprächspartnerin durch
    ihre plötzliche Gedächtnisschwäche einen deutlichen Wink gegeben,
    den die Männer unbewußt wohl verstanden hätten.

    Es kommt auch ein fortgesetztes Namenvergessen vor, bei
    dem ganze Ketten von Namen dem Gedächtnis entzogen werden.
    Hascht man, um einen entfallenen Namen wiederzufinden, nach
    anderen, mit denen jener in fester Verbindung steht, so entfliehen
    nicht selten auch diese neuen als Anhalt aufgesuchten Namen.
    Das Vergessen springt so von einem zum anderen über, wie um
    die Existenz eines nicht leicht zu beseitigenden Hindernisses zu
    beweisen.