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    V
    DAS VERSPRECHEN

    Wenn das gebräuchliche Material unserer Rede in der Mutter-
    sprache gegen das Vergessen geschützt erscheint, so unterliegt
    dessen Anwendung um so häufiger einer anderen Störung, die
    als „Versprechen“ bekannt ist. Das beim normalen Menschen
    beobachtete Versprechen macht den Eindruck der Vorstufe für
    die unter pathologischen Bedingungen auftretenden sogenannten
    „Paraphasien“.

    Ich befinde mich hier ausnahmsweise in der Lage, eine
    Vorarbeit würdigen zu können. Im Jahre 1895 haben Meringer
    und C. Mayer eine Studie über „Versprechen und Verlesen“
    publiziert, deren Gesichtspunkte fernab von den meinigen liegen.
    Der eine der Autoren, der im Texte das Wort führt, ist
    nämlich Sprachforscher und ist von linguistischen Interessen zur
    Untersuchung veranlaßt worden, den Regeln nachzugehen, nach
    denen man sich verspricht. Er hoffte, aus diesen Regeln auf das
    Vorhandensein „eines gewissen geistigen Mechanismus“ schließen
    zu können, „in welchem die Laute eines Wortes, eines Satzes,
    und auch die Worte untereinander in ganz eigentümlicher Weise
    verbunden und verknüpft sind“ (S. 10).

    Die Autoren gruppieren die von ihnen gesammelten Beispiele
    des „Versprechens“ zunächst nach rein deskriptiven Gesichts-
    punkten als Vertauschungen (z. B. die Milo von Venus

  • S.

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    anstatt Venus von Milo), Vorklänge oder Antizipationen
    (z. B. es war mir auf der Schwest . . . auf der Brust so schwer),
    Nachklänge, Postpositionen (z. B. „Ich fordere Sie auf,
    auf das Wohl unseres Chefs aufzustoßen“ für anzustoßen),
    Kontaminationen (z. B. „Er setzt sich auf den Hinterkopf“
    aus: „Er setzt sich einen Kopf auf“ und: „Er stellt sich auf die
    Hinterbeine“), Substitutionen (z. B. „Ich gebe die Präparate
    in den Briefkasten“ statt Brütkasten), zu welchen Hauptkategorien
    noch einige minder wichtige (oder für unsere Zwecke minder
    bedeutsame) hinzugefügt werden. Es macht bei dieser Gruppierung
    keinen Unterschied, ob die Umstellung, Entstellung, Ver-
    schmelzung usw. einzelne Laute des Wortes, Silben oder ganze
    Worte des intendierten Satzes betrifft.

    Zur Erklärung der beobachteten Arten des Versprechens stellt
    Meringer eine verschiedene psychische Wertigkeit der Sprach-
    laute auf. Wenn wir den ersten Laut eines Wortes, das erste
    Wort eines Satzes innervieren, wendet sich der Erregungsvorgang
    bereits den späteren Lauten, den folgenden Worten, zu, und soweit
    diese Innervationen miteinander gleichzeitig sind, können sie
    einander abändernd beeinflussen. Die Erregung des psychisch
    intensiveren Lautes klingt vor oder hallt nach und stört so den
    minderwertigen Innervationsvorgang. Es handelt sich nun darum
    zu bestimmen, welche die höchstwertigen Laute eines Wortes
    sind. Meringer meint: „Wenn man wissen will, welchem Laute
    eines Wortes die höchste Intensität zukommt, so beobachte man
    sich beim Suchen nach einem vergessenen Wort, z. B. einen
    Namen. Was zuerst wieder ins Bewußtsein kommt, hatte jeden-
    falls die größte Intensität vor dem Vergessen (S. 160). Die hoch-
    wertigen Laute sind also der Anlaut der Wurzelsilbe und der
    Wortanlaut und der oder die betonten Vokale“ (S. 162).

    Ich kann nicht umhin, hier einen Widerspruch zu erheben.
    Ob der Anlaut des Namens zu den höchstwertigen Elementen
    des Wortes gehöre oder nicht, es ist gewiß nicht richtig, daß

  • S.

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    er im Falle des Wortvergessens zuerst wieder ins Bewußtsein
    tritt; die obige Regel ist also unbrauchbar. Wenn man sich
    bei der Suche nach einem vergessenen Namen beobachtet, so
    wird man verhältnismäßig häufig die Überzeugung äußern
    müssen, er fange mit einem bestimmten Buchstaben an. Diese
    Überzeugung erweist sich nun ebenso oft als unbegründet wie
    als begründet. Ja, ich möchte behaupten, man proklamiert
    in der Mehrzahl der Fälle einen falschen Anlaut. Auch in
    unserem Beispiel „Signorelli“ ist bei dem Ersatznamen der
    Anlaut und sind die wesentlichen Silben verloren gegangen;
    gerade das minderwertige Silbenpaar elli ist im Ersatznamen
    Botticelli der Erinnerung wiedergekehrt. Wie wenig die Er-
    satznamen den Anlaut des entfallenen Namens respektieren,
    mag z. B. folgender Fall lehren:

    Eines Tages ist es mir unmöglich, den Namen des kleinen
    Landes zu erinnern, dessen Hauptort Monte Carlo ist. Die
    Ersatznamen für ihn lauten:

    Piemont, Albanien, Montevideo, Colico.

    Für Albanien tritt bald Montenegro ein, und dann fällt
    mir auf, daß die Silbe Mont (Mon ausgesprochen) doch allen
    Ersatznamen bis auf den letzten zukommt. Es wird mir so
    erleichtert, vom Namen des Fürsten Albert aus das vergessene
    Monaco aufzufinden. Colico ahmt die Silbenfolge und Rhythmik
    des vergessenen Namens ungefähr nach.

    Wenn man der Vermutung Raum gibt, daß ein ähnlicher
    Mechanismus wie der fürs Namenvergessen nachgewiesene auch
    an den Erscheinungen des Versprechens Anteil haben könne, so
    wird man zu einer tiefer begründeten Beurteilung der Fälle
    von Versprechen geführt. Die Störung in der Rede, welche sich
    als Versprechen kundgibt, kann erstens verursacht sein durch
    den Einfluß eines anderen Bestandteils derselben Rede, also
    durch das Vorklingen oder Nachhallen, oder durch eine zweite
    Fassung innerhalb des Satzes oder des Zusammenhanges, den

  • S.

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    auszusprechen man intendiert — hieher gehören alle oben
    Meringer und Mayer entlehnten Beispiele —: zweitens aber
    könnte die Störung analog dem Vorgang im Falle Signorelli
    zustande kommen durch Einflüsse außerhalb dieses Wortes,
    Satzes oder Zusammenhanges, von Elementen her, die auszu-
    sprechen man nicht intendiert und von deren Erregung man
    erst durch eben die Störung Kenntnis erhält. In der Gleich-
    zeitigkeit der Erregung läge das Gemeinsame, in der Stellung
    innerhalb oder außerhalb desselben Satzes oder Zusammenhanges
    das Unterscheidende für die beiden Entstehungsarten des Versprechens.
    Der Unterschied erscheint zunächst nicht so groß, als er für
    gewisse Folgerungen aus der Symptomatologie des Versprechens
    in Betracht kommt. Es ist aber klar, daß man nur im ersteren
    Falle Aussicht hat, aus den Erscheinungen des Versprechens
    Schlüsse auf einen Mechanismus zu ziehen, der Laute und Worte
    zur gegenseitigen Beeinflussung ihrer Artikulation miteinander
    verknüpft, also Schlüsse, wie sie der Sprachforscher aus dem
    Studium des Versprechens zu gewinnen hoffte. Im Falle der
    Störung durch Einflüsse außerhalb des nämlichen Satzes oder
    Redezusammenhanges würde es sich vor allem darum handeln,
    die störenden Elemente kennen zu lernen, und dann entstünde
    die Frage, ob auch der Mechanismus dieser Störung die zu
    vermutenden Gesetze der Sprachbildung verraten kann.

    Man darf nicht behaupten, daß Meringer und Mayer die
    Möglichkeit der Sprechstörung durch „komplizierte psychische
    Einflüsse“, durch Elemente außerhalb desselben Wortes, Satzes
    oder derselben Redefolge übersehen haben. Sie mußten ja bemerken,
    daß die Theorie der psychischen Ungleichwertigkeit der Laute
    streng genommen nur für die Aufklärung der Lautstörungen,
    sowie der Vor- und Nachklänge ausreicht. Wo sich die Wort-
    störungen nicht auf Lautstörungen reduzieren lassen, z. B. bei
    den Substitutionen und Kontaminationen von Worten, haben
    auch sie unbedenklich die Ursache des Versprechens außerhalb

  • S.

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    des intendierten Zusammenhanges gesucht und diesen Sachverhalt
    durch schöne Beispiele erwiesen. Ich zitiere folgende Stellen:

    (S. 62.) „Ru. erzählt von Vorgängen, die er in seinem Innern
    für ,Schweinereien‘ erklärt. Er sucht aber nach einer milden Form
    und beginnt: ‚Dann aber sind Tatsachen zum Vorschwein
    gekommen . . .‘ Mayer und ich waren anwesend und Ru.
    bestätigte, daß er ‚Schweinereien‘ gedacht hatte. Daß sich dieses
    gedachte Wort bei ‚Vorschein‘ verriet und plötzlich wirksam
    wurde, findet in der Ähnlichkeit der Wörter seine genügende
    Erklärung.“

    (S. 73.) „Auch bei den Substitutionen spielen wie bei den
    Kontaminationen und in wahrscheinlich viel höherem Grade die
    ‚schwebenden‘ oder ,vagierenden‘ Sprachbilder eine große Rolle.
    Sie sind, wenn auch unter der Schwelle des Bewußtseins, so doch
    noch in wirksamer Nähe, können leicht durch eine Ähnlichkeit
    des zu sprechenden Komplexes herangezogen werden und führen
    dann eine Entgleisung herbei oder kreuzen den Zug der Wörter.
    Die ‚schwebenden‘ oder ‚vagierenden‘ Sprachbilder sind, wie
    gesagt, oft die Nachzügler von kürzlich abgelaufenen Sprach-
    prozessen (Nachklänge).“

    (S. 97.) „Eine Entgleisung ist auch durch Ähnlichkeit möglich,
    wenn ein anderes ähnliches Wort nahe unter der Bewußtseins-
    schwelle liegt, ohne daß es gesprochen zu werden
    bestimmt wäre
    . Das ist der Fall bei den Substitutionen. —
    So hoffe ich, daß man beim Nachprüfen meine Regeln wird
    bestätigen müssen. Aber dazu ist notwendig, daß man (wenn ein
    anderer spricht) sich Klarheit darüber verschafft, an
    was alles der Sprecher gedacht hat
    1. Hier ein lehr-
    reicher Fall. Klassendirektor Li. sagte in unserer Gesellschaft: ‚Die
    Frau würde mit Furcht einlagen‘. Ich wurde stutzig, denn das
    l schien mir unerklärlich. Ich erlaube mir, den Sprecher auf
    seinen Fehler ,einlagen‘ für ‚einjagen‘ aufmerksam zu machen,

    1) Von mir hervorgehoben.

  • S.

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    worauf er sofort antwortete: ‚Ja, das kommt daher, weil ich
    dachte: ich wäre nicht in der Lage‘ usw.“

    „Ein anderer Fall. Ich frage R. v. Schid., wie es seinem
    kranken Pferd gehe. Er antwortete: ‚Ja, das draut . . . dauert
    vielleicht noch einen Monat.‘ Das ‚draut‘ mit einem r war mir
    unverständlich, denn das r von ,dauert‘ konnte unmöglich so
    gewirkt haben. Ich machte also R. v. S. aufmerksam, worauf er
    erklärte, er habe gedacht, ‚das ist eine traurige Geschichte‘.
    Der Sprecher hatte also zwei Antworten im Sinne und diese
    vermengten sich.“

    Es ist wohl unverkennbar, wie nahe die Rücksichtnahme auf
    die „vagierenden“ Sprachbilder, die unter der Schwelle des
    Bewußtseins stehen und nicht zum Gesprochenwerden bestimmt
    sind, und die Forderung, sich zu erkundigen, an was der Sprecher
    alles gedacht habe, an die Verhältnisse bei unseren „Analysen“
    herankommen. Auch wir suchen unbewußtes Material, und zwar
    auf dem nämlichen Wege, nur daß wir von den Einfällen des
    Befragten bis zur Auffindung des störenden Elements einen längeren
    Weg durch eine komplexe Assoziationsreihe zurückzulegen haben.

    Ich weile noch bei einem anderen interessanten Verhalten, für
    das die Beispiele Meringers Zeugnis ablegen. Nach der Einsicht
    des Autors selbst ist es irgend eine Ähnlichkeit eines Wortes im
    intendierten Satze mit einem anderen nicht intendierten, welche
    dem letzteren gestattet, sich durch die Verursachung einer
    Entstellung, Mischbildung, Kompromißbildung (Kontamination) im
    Bewußtsein zur Geltung zu bringen:

    lagen, dauert, Vorschein.
    jagen, traurig, ...schwein.

    Nun habe ich in meiner Schrift über die „Traumdeutung“1
    dargetan, welchen Anteil die Verdichtungsarbeit an der
    Entstehung des sogenannten manifesten Trauminhalts aus den

    1) Die Traumdeutung. Leipzig und Wien 1900, 7. Aufl. 1922.

  • S.

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    latenten Traumgedanken hat. Irgend eine Ähnlichkeit der Dinge
    oder der Wortvorstellungen zwischen zwei Elementen des
    unbewußten Materials wird da zum Anlaß genommen, um ein
    Drittes, eine Misch- oder Kompromißvorstellung zu schaffen,
    welche im Trauminhalt ihre beiden Komponenten vertritt, und
    die infolge dieses Ursprungs so häufig mit widersprechenden
    Einzelbestimmungen ausgestattet ist. Die Bildung von Substitutionen
    und Kontaminationen beim Versprechen ist somit ein Beginn
    jener Verdichtungsarbeit, die wir in eifrigster Tätigkeit am Aufbau
    des Traumes beteiligt finden.

    In einem kleinen, für weitere Kreise bestimmten Aufsatz („Neue
    Freie Presse“ vom 23. August 1900: „Wie man sich versprechen
    kann“) hat Meringer eine besondere praktische Bedeutung für
    gewisse Fälle von Wortvertauschungen in Anspruch genommen,
    für solche nämlich, in denen man ein Wort durch sein Gegenteil
    dem Sinne nach ersetzt. „Man erinnert sich wohl noch der Art,
    wie vor einiger Zeit der Präsident des österreichischen Abgeordneten-
    hauses die Sitzung eröffnete: ‚Hohes Haus! Ich konstatiere die
    Anwesenheit von soundsoviel Herren und erkläre somit die Sitzung
    für geschlossen!‘ Die allgemeine Heiterkeit machte ihn erst
    aufmerksam und er verbesserte den Fehler. Im vorliegenden Falle
    wird die Erklärung wohl diese sein, daß der Präsident sich
    wünschte, er wäre schon in der Lage, die Sitzung, von der
    wenig Gutes zu erwarten stand, zu schließen, aber — eine
    häufige Erscheinung — der Nebengedanke setzte sich wenigstens
    teilweise durch und das Resultat war ,geschlossen‘ für ,eröffnet‘,
    also das Gegenteil dessen, was zu sprechen beabsichtigt war. Aber
    vielfältige Beobachtung hat mich belehrt, daß man gegensätzliche
    Worte überhaupt sehr häufig miteinander vertauscht; sie sind
    eben schon in unserem Sprachbewußtsein assoziiert, liegen hart
    nebeneinander und werden leicht irrtümlich aufgerufen.“

    Nicht in allen Fällen von Gegensatzvertauschung wird es so
    leicht, wie hier im Beispiel des Präsidenten, wahrscheinlich zu

  • S.

    68

    machen, daß das Versprechen infolge eines Widerspruchs geschieht,
    der sich im Innern des Redners gegen den geäußerten Satz
    erhebt. Wir haben den analogen Mechanismus in der Analyse
    des Beispiels aliquis gefunden; dort äußerte sich der innere Wider-
    spruch im Vergessen eines Wortes anstatt in seiner Ersetzung
    durch das Gegenteil. Wir wollen aber zur Ausgleichung des
    Unterschiedes bemerken, daß das Wörtchen aliquis eines ähnlichen
    Gegensatzes, wie ihn „schließen“ und „eröffnen“ ergeben, eigentlich
    nicht fähig ist, und daß „eröffnen“ als gebräuchlicher Bestandteil
    des Redeschatzes dem Vergessen nicht unterworfen sein kann.

    Zeigen uns die letzten Beispiele von Meringer und Mayer,
    daß die Sprechstörung ebensowohl durch einen Einfluß vor- und
    nachklingender Laute und Worte desselben Satzes entstehen kann,
    die zum Ausgesprochenwerden bestimmt sind, wie durch die
    Einwirkung von Worten außerhalb des intendierten Satzes, deren
    Erregung sich sonst nicht verraten hätte
    , so werden
    wir zunächst erfahren wollen, ob man die beiden Klassen von
    Versprechen scharf sondern und wie man ein Beispiel der einen
    von einem Falle der anderen Klasse unterscheiden kann. An dieser
    Stelle der Erörterung muß man aber der Äußerungen Wundts
    gedenken, der in seiner umfassenden Bearbeitung der Entwicklungs-
    gesetze der Sprache (Völkerpsychologie, 1. Band, 1. Teil, S. 371 u. ff.,
    1900) auch die Erscheinungen des Versprechens behandelt. Was
    bei diesen Erscheinungen und anderen, ihnen verwandten niemals
    fehlt, das sind nach Wundt gewisse psychische Einflüsse. „Dahin
    gehört zunächst als positive Bedingung der ungehemmte Fluß
    der von den gesprochenen Lauten angeregten Laut- und Wort-
    assoziationen. Ihm tritt der Wegfall oder der Nachlaß der
    diesen Lauf hemmenden Wirkungen des Willens und der auch
    hier als Willensfunktion sich betätigenden Aufmerksamkeit als
    negatives Moment zur Seite. Ob jenes Spiel der Assoziation darin
    sich äußert, daß ein kommender Laut antizipiert oder die voraus-
    gegangenen reproduziert, oder ein gewohnheitsmäßig eingeübter

  • S.

    69

    zwischen andere eingeschaltet wird, oder endlich darin, daß ganz
    andere Worte, die mit den gesprochenen Lauten in assoziativer
    Beziehung stehen, auf diese herüberwirken — alles dies bezeichnet
    nur Unterschiede in der Richtung und allenfalls in dem Spiel-
    raum der stattfindenden Assoziationen, nicht in der allgemeinen
    Natur derselben. Auch kann es in manchen Fällen zweifelhaft
    sein, welcher Form man eine bestimmte Störung zuzurechnen,
    oder ob man sie nicht mit größerem Rechte nach dem
    Prinzip der Komplikation der Ursache1
    auf ein
    Zusammentreffen mehrerer Motive zurückzuführen habe.
    “ (S. 380
    und 381.)

    Ich halte diese Bemerkungen Wundts für vollberechtigt und
    sehr instruktiv. Vielleicht könnte man mit größerer Entschieden-
    heit als Wundt betonen, daß das positiv begünstigende Moment
    der Sprechfehler — der ungehemmte Fluß der Assoziationen —
    und das negative — der Nachlaß der hemmenden Aufmerksam-
    keit — regelmäßig miteinander zur Wirkung gelangen, so daß
    beide Momente nur zu verschiedenen Bestimmungen des nämlichen
    Vorganges werden. Mit dem Nachlaß der hemmenden Aufmerk-
    samkeit tritt eben der ungehemmte Fluß der Assoziationen in
    Tätigkeit; noch unzweifelhafter ausgedrückt: durch diesen
    Nachlaß.

    Unter den Beispielen von Versprechen, die ich selbst gesammelt,
    finde ich kaum eines, bei dem ich die Sprechstörung einzig und
    allein auf das, was WundtKontaktwirkung der Laute“ nennt,
    zurückführen müßte. Fast regelmäßig entdecke ich überdies einen
    störenden Einfluß von etwas außerhalb der intendierten Rede,
    und das Störende ist entweder ein einzelner, unbewußt gebliebener
    Gedanke, der sich durch das Versprechen kundgibt und oft erst
    durch eingehende Analyse zum Bewußtsein gefördert werden
    kann, oder es ist ein allgemeineres psychisches Motiv, welches
    sich gegen die ganze Rede richtet.

    1) Von mir hervorgehoben.

  • S.

    70

    1) Ich will gegen meine Tochter, die beim Einbeißen in einen
    Apfel ein garstiges Gesicht geschnitten hat, zitieren:

    Der Affe gar possierlich ist,
    Zumal wenn er vom Apfel frißt.

    Ich beginne aber: Der Apfe . . . Dies scheint eine Kontamination
    von „Affe“ und „Apfel“ (Kompromißbildung) oder kann auch
    als Antizipation des vorbereiteten „Apfel“ aufgefaßt werden. Der
    genauere Sachverhalt ist aber der: Ich hatte das Zitat schon
    einmal begonnen und mich das erstemal dabei nicht versprochen.
    Ich versprach mich erst bei der Wiederholung, die sich als
    notwendig ergab, weil die Angesprochene, von anderer Seite mit
    Beschlag belegt, nicht zuhörte. Diese Wiederholung, die mit ihr
    verbundene Ungeduld, des Satzes ledig zu werden, muß ich in
    die Motivierung des Sprechfehlers, der sich als eine Verdichtungs-
    leistung darstellt, mit einrechnen.

    2) Meine Tochter sagt: Ich schreibe der Frau Schresinger . . .
    Die Frau heißt Schlesinger. Dieser Sprechfehler hängt wohl
    mit einer Tendenz zur Erleichterung der Artikulation zusammen,
    denn das I ist nach wiederholtem r schwer auszusprechen. Ich
    muß aber hinzufügen, daß sich dieses Versprechen bei meiner
    Tochter ereignete, nachdem ich ihr wenige Minuten zuvor
    „Apfe“ anstatt „Affe“ vorgesagt hatte. Nun ist das Versprechen
    in hohem Maße ansteckend, ähnlich wie das Namenvergessen, bei
    dem Meringer und Mayer diese Eigentümlichkeit bemerkt
    haben. Einen Grund für diese psychische Kontagiosität weiß ich
    nicht anzugeben.

    3) „Ich klappe zusammen wie ein Tassenmescher
    Taschenmesser“, sagt eine Patientin zu Beginn der Behandlungs-
    stunde, die Laute vertauschend, wobei ihr wieder die Artikulations-
    schwierigkeit („Wiener Weiber Wäscherinnen waschen weiße
    Wäsche“ — „Fischflosse“ und ähnliche Prüfworte) zur Entschuldi-
    gung dienen kann. Auf den Sprechfehler aufmerksam gemacht,
    erwidert sie prompt: „Ja, das ist nur, weil Sie heute ,Ernscht‘

  • S.

    71

    gesagt haben.“ Ich hatte sie wirklich mit der Rede empfangen:
    „Heute wird es also Ernst“ (weil es die letzte Stunde vor dem
    Urlaub werden sollte) und hatte das „Ernst“ scherzhaft zu
    „Ernscht“ verbreitert. Im Laufe der Stunde verspricht sie sich
    immer wieder von neuem, und ich merke endlich, daß sie mich
    nicht bloß imitiert, sondern daß sie einen besonderen Grund hat,
    im Unbewußten bei dem Worte Ernst als Namen zu verweilen1.

    4) „Ich bin so verschnupft, ich kann nicht durch die Ase
    natmenNase atmen“ — passiert derselben Patientin ein
    andermal. Sie weiß sofort, wie sie zu diesem Sprechfehler kommt.
    „Ich steige jeden Tag in der Hasenauerstraße in die
    Tramway, und heute früh ist mir während des Wartens auf den
    Wagen eingefallen, wenn ich eine Französin wäre, würde ich
    Asenauer aussprechen, denn die Franzosen lassen das H im
    Anlaut immer weg.“ Sie bringt dann eine Reihe von Reminis-
    zenzen an Franzosen, die sie kennen gelernt hat, und langt nach
    weitläufigen Umwegen bei der Erinnerung an, daß sie als vier-
    zehnjähriges Mädchen in dem kleinen Stück „Kurmärker und
    Picarde“ die Picarde gespielt und damals gebrochen Deutsch
    gesprochen hat. Die Zufälligkeit, daß in ihrem Logierhaus ein
    Gast aus Paris angekommen ist, hat die ganze Reihe von Erinne-
    rungen wachgerufen. Die Lautvertauschung ist also Folge der
    Störung durch einen unbewußten Gedanken aus einem ganz
    fremden Zusammenhang.

    5) Ähnlich ist der Mechanismus des Versprechens bei einer
    anderen Patientin, die mitten in der Reproduktion einer längst
    verschollenen Kindererinnerung von ihrem Gedächtnis verlassen
    wird. An welche Körperstelle die vorwitzige und lüsterne Hand

    1) Sie stand nämlich, wie sich zeigte, unter dem Einfluß von unbewußten
    Gedanken über Schwangerschaft und Kinderverhütung. Mit den Worten: „zusammen-
    geklappt wie ein Taschenmesser“, welche sie bewußt als Klage vorbrachte, wollte sie
    die Haltung des Kindes im Mutterleibe beschreiben. Das Wort „Ernst“ in meiner
    Anrede hatte sie an den Namen (S. Ernst) einer bekannten Wiener Firma in der
    Kärntnerstraße gemahnt, welche sich als Verkaufsstätte von Schutzmitteln gegen die
    Konzeption zu annoncieren pflegt.

  • S.

    72

    des anderen gegriffen hat, will ihr das Gedächtnis nicht mitteilen.
    Sie macht unmittelbar darauf einen Besuch bei einer Freundin
    und unterhält sich mit ihr über Sommerwohnungen. Gefragt, wo
    denn ihr Häuschen in M. gelegen sei, antwortet sie: an der
    Berglende anstatt Berglehne.

    6) Eine andere Patientin, die ich nach Abbruch der Stunde
    frage, wie es ihrem Onkel geht, antwortet: „Ich weiß nicht, ich
    sehe ihn jetzt nur in flagranti.“ Am nächsten Tage beginnt
    sie: „Ich habe mich recht geschämt, Ihnen eine so dumme
    Antwort gegeben zu haben. Sie müssen mich natürlich für eine
    ganz ungebildete Person halten, die beständig Fremdwörter
    verwechselt. Ich wollte sagen: en passant. Wir wußten
    damals noch nicht, woher sie die unrichtig angewendeten Fremd-
    wörter genommen hatte. In derselben Sitzung aber brachte sie
    als Fortsetzung des vortägigen Themas eine Reminiszenz, in welcher
    das Ertapptwerden in flagranti die Hauptrolle spielte. Der
    Sprechfehler am Tage vorher hatte also die damals noch nicht
    bewußt gewordene Erinnerung antizipiert.

    7) Gegen eine andere muß ich an einer gewissen Stelle der
    Analyse die Vermutung aussprechen, daß sie sich zu der Zeit,
    von welcher wir eben handeln, ihrer Familie geschämt und ihrem
    Vater einen uns noch unbekannten Vorwurf gemacht habe. Sie
    erinnert sich nicht daran, erklärt es übrigens für unwahrschein-
    lich. Sie setzt aber das Gespräch mit Bemerkungen über ihre
    Familie fort: „Man muß ihnen das eine lassen: Es sind doch
    besondere Menschen, sie haben alle Geiz — ich wollte sagen
    Geist.“ Das war auch denn wirklich der Vorwurf, den sie aus
    ihrem Gedächtnis verdrängt hatte. Daß sich in dem Versprechen
    gerade jene Idee durchdrängt, die man zurückhalten will, ist ein
    häufiges Vorkommnis (vgl. den Fall von Meringer: zum
    Vorschwein gekommen). Der Unterschied liegt nur darin, daß die
    Person bei Meringer etwas zurückhalten will, was ihr bewußt
    ist, während meine Patientin das Zurückgehaltene nicht weiß,

  • S.

    73

    oder wie man auch sagen kann, nicht weiß, daß sie etwas, und
    was sie zurückhält.

    8) Auf absichtliche Zurückhaltung geht auch das nachstehende
    Beispiel von Versprechen zurück. Ich treffe einmal in den Dolo-
    miten mit zwei Damen zusammen, die als Touristinnen verkleidet
    sind. Ich begleite sie ein Stück weit, und wir besprechen die
    Genüsse, aber auch die Beschwerden der touristischen Lebens-
    weise. Die eine der Damen gibt zu, daß diese Art, den Tag zu
    verbringen, manches Unbequeme hat. „Es ist wahr,“ sagt sie,
    „daß es gar nicht angenehm ist, wenn man so in der Sonne den
    ganzen Tag marschiert hat und Bluse und Hemd ganz durch-
    geschwitzt sind.“ In diesem Satze hat sie einmal eine kleine
    Stockung zu überwinden. Dann setzt sie fort: „Wenn man aber
    dann nach Hose kommt und sich umkleiden kann . . .“ Ich
    meine, es bedurfte keines Examens, um dieses Versprechen
    aufzuklären. Die Dame hatte offenbar die Absicht gehabt, die
    Aufzählung vollständiger zu halten und zu sagen: Bluse, Hemd
    und Hose. Dies dritte Wäschestück zu nennen, unterdrückte sie
    dann aus Gründen der Wohlanständigkeit. Aber im nächsten,
    inhaltlich unabhängigen Satz setzte sich das unterdrückte Wort
    als Verunstaltung des ähnlichen Wortes „nach Hause“ wider
    ihren Willen durch.

    9) „Wenn Sie Teppiche kaufen wollen, so gehen Sie nur zu
    Kaufmann in der Matthäusgasse. Ich glaube, ich kann Sie dort
    auch empfehlen,“ sagt mir eine Dame. Ich wiederhole: „Also
    bei Matthäus . . . bei Kaufmann will ich sagen.“ Es sieht
    aus wie Folge von Zerstreutheit, wenn ich den einen Namen an
    Stelle des anderen wiederhole. Die Rede der Dame hat mich
    auch wirklich zerstreut gemacht, denn sie hat meine Aufmerk-
    samkeit auf anderes gelenkt, was mir weit wichtiger ist als
    Teppiche. In der Matthäusgasse steht nämlich das Haus, in dem
    meine Frau als Braut gewohnt hatte. Der Eingang des Hauses
    war in einer anderen Gase, und nun merke ich, daß ich deren

  • S.

    74

    Namen vergessen habe und ihn mir erst auf einem Umweg
    bewußt machen muß. Der Name Matthäus, bei dem ich verweile,
    ist mir also ein Ersatzname für den vergessenen Namen der
    Straße. Er eignet sich besser dazu als der Name Kaufmann, denn
    Matthäus ist ausschließlich ein Personenname, was Kaufmann
    nicht ist, und die vergessene Straße heißt auch nach einem
    Personennamen: Radetzky.

    10) Folgenden Fall könnte ich ebensogut bei den später zu
    besprechenden „Irrtümern“ unterbringen, führe ihn aber hier an,
    weil die Lautbeziehungen, auf Grund deren die Wortersetzung
    erfolgt, ganz besonders deutlich sind. Eine Patientin erzählt mir
    ihren Traum: Ein Kind hat beschlossen, sich durch einen Schlangen-
    biß zu töten. Es führt den Beschluß aus. Sie sieht zu, wie es
    sich in Krämpfen windet usw. Sie soll nun die Tagesanknüpfung
    für diesen Traum finden. Sie erinnert sofort, daß sie gestern
    abends eine populäre Vorlesung über erste Hilfe bei Schlangen-
    bissen mitangehört hat. Wenn ein Erwachsener und ein Kind
    gleichzeitig gebissen worden sind, so soll man zuerst die Wunde
    des Kindes behandeln. Sie erinnert auch, welche Vorschriften für
    die Behandlung der Vortragende gegeben hat. Es käme sehr viel
    darauf an, hatte er auch geäußert, von welcher Art man gebissen
    worden ist. Hier unterbreche ich sie und frage: Hat er denn
    nicht gesagt, daß wir nur sehr wenige giftige Arten in unserer
    Gegend haben, und welche die gefürchteten sind? „Ja, er hat die
    Klapperschlange hervorgehoben.“ Mein Lachen macht sie dann
    aufmerksam, daß sie etwas Unrichtiges gesagt hat. Sie korrigiert
    jetzt aber nicht etwa den Namen, sondern sie nimmt ihre Aussage
    zurück. „Ja so, die kommt ja bei uns nicht vor, er hat von der
    Viper gesprochen. Wie gerate ich nur auf die Klapperschlange?“
    Ich vermutete, durch die Einmengung der Gedanken, die sich
    hinter ihrem Traum verborgen hatten. Der Selbstmord durch
    Schlangenbiß kann kaum etwas anderes sein, als eine Anspielung
    auf die schöne Kleopatra. Die weitgehende Lautähnlichkeit der

  • S.

    75

    beiden Worte, die Übereinstimmung in den Buchstaben Kl . . p . . r
    in der nämlichen Reihenfolge und in dem betonten a sind nicht
    zu verkennen. Die gute Beziehung zwischen den Namen Klapper-
    schlange und Kleopatra erzeugt bei ihr eine momentane
    Einschränkung des Urteils, derzufolge sie in der Behauptung, der
    Vortragende habe sein Publikum in Wien in der Behandlung
    von Klapperschlangenbissen unterwiesen, keinen Anstoß nimmt.
    Sie weiß sonst so gut wie ich, daß diese Schlange nicht zur
    Fauna unserer Heimat gehört. Wir wollen es ihr nicht verübeln,
    daß sie an die Versetzung der Klapperschlange nach Ägypten
    ebensowenig Bedenken knüpfte, denn wir sind gewohnt, alles
    Außereuropäische, Exotische zusammenzuwerfen, und ich selbst
    mußte mich einen Moment besinnen, ehe ich die Behaup-
    tung aufstellte, daß die Klapperschlange nur der neuen Welt
    angehört.

    Weitere Bestätigungen ergeben sich bei Fortsetzung der
    Analyse. Die Träumerin hat gestern zum erstenmal die in der
    Nähe ihrer Wohnung aufgestellte Antoniusgruppe von Straßer
    besichtigt. Dies war also der zweite Traumanlaß (der erste der
    Vortrag über Schlangenbisse). In der Fortsetzung ihres Traumes
    wiegte sie ein Kind in ihren Armen, zu welcher Szene ihr das
    Gretchen einfällt. Weitere Einfälle bringen Reminiszenzen an
    Arria und Messalina“. Das Auftauchen so vieler Namen
    von Theaterstücken in den Traumgedanken läßt bereits vermuten,
    daß bei der Träumerin in früheren Jahren eine geheimgehaltene
    Schwärmerei für den Beruf der Schauspielerin bestand. Der Anfang
    des Traumes: „Ein Kind hat beschlossen, sein Leben durch einen
    Schlangenbiß zu enden“, bedeutet wirklich nichts anderes als:
    Sie hat sich als Kind vorgenommen, einmal eine berühmte
    Schauspielerin zu werden. Von dem Namen Messalina zweigt
    endlich der Gedankenweg ab, der zu dem wesentlichen Inhalt
    dieses Traumes führt. Gewisse Vorfälle der letzten Zeit haben in
    ihr die Besorgnis erweckt, daß ihr einziger Bruder eine nicht

  • S.

    76

    standesgemäße Ehe mit einer Nicht-Arierin, eine Mésalliance
    eingehen könnte.

    11) Ein völlig harmloses oder vielleicht uns nicht genügend
    in seinen Motiven aufgeklärtes Beispiel will ich hier wiedergeben,
    weil es einen durchsichtigen Mechanismus erkennen läßt:

    Ein in Italien reisender Deutscher bedarf eines Riemens, um
    seinen schadhaft gewordenen Koffer zu umschnüren. Das Wörter-
    buch liefert ihm für Riemen das italienische Wort coreggia.
    Dieses Wort werde ich mir leicht merken, meint er, indem ich
    an den Maler (Correggio) denke. Er geht dann in einen
    Laden und verlangt: una ribera.

    Es war ihm anscheinend nicht gelungen, das deutsche Wort
    in seinem Gedächtnis durch das italienische zu ersetzen, aber
    seine Bemühung war doch nicht gänzlich ohne Erfolg geblieben.
    Er wußte, daß er sich an den Namen eines Malers halten müsse,
    und so geriet er nicht auf jenen Malernamen, der an das
    italienische Wort anklingt, sondern an einen anderen, der sich
    dem deutschen Worte Riemen annähert. Ich hätte dieses Beispiel
    natürlich ebensowohl beim Namenvergessen wie hier beim
    Versprechen unterbringen können.

    Als ich Erfahrungen von Versprechen für die erste Auflage
    dieser Schrift sammelte, ging ich so vor, daß ich alle Fälle, die
    ich beobachten konnte, darunter also auch die minder eindrucks-
    vollen, der Analyse unterzog. Seither haben manche andere sich
    der amüsanten Mühe, Versprechen zu sammeln und zu analysieren,
    unterzogen und mich so in den Stand gesetzt, Auswahl aus einem
    reicheren Material zu schöpfen.

    12) Ein junger Mann sagt zu seiner Schwester: Mit den D.
    bin ich jetzt ganz zerfallen, ich grüße sie nicht mehr. Sie antwortet:
    Überhaupt eine saubere Lippschaft. Sie wollte sagen: Sipp-
    schaft, aber sie drängte noch zweierlei in dem Sprechirrtum
    zusammen, daß ihr Bruder einst selbst mit der Tochter dieser
    Familie einen Flirt begonnen hatte, und daß es von dieser hieß,

  • S.

    77

    sie habe sich in letzter Zeit in eine ernsthafte unerlaubte Lieb-
    schaft eingelassen.

    13) Ein junger Mann spricht eine Dame auf der Straße mit
    den Worten an: „Wenn Sie gestatten, mein Fräulein, möchte ich
    Sie begleit-digen.“ Er dachte offenbar, er möchte sie gern
    begleiten, fürchtete aber, sie mit dem Antrag zu beleidigen.
    Daß diese beiden einander widerstreitenden Gefühlsregungen in
    einem Worte — eben dem Versprechen — Ausdruck fanden,
    weist darauf hin, daß die eigentlichen Absichten des jungen Mannes
    jedenfalls nicht die lautersten waren und ihm dieser Dame
    gegenüber selbst beleidigend erscheinen mußten. Während er aber
    gerade dies vor ihr zu verbergen sucht, spielt ihm das Unbewußte
    den Streich, seine eigentliche Absicht zu verraten, wodurch
    er aber andererseits der Dame gleichsam die konventionelle
    Antwort: „Ja, was glauben Sie denn von mir, wie können
    Sie mich denn so beleidigen“ vorwegnimmt. (Mitgeteilt von
    O. Rank.)

    Eine Anzahl von Beispielen entnehme ich einem Aufsatz von
    W. Stekel aus dem „Berliner Tageblatt“ vom 4. Jänner 1904,
    betitelt „Unbewußte Geständnisse“.

    14) „Ein unangenehmes Stück meiner unbewußten Gedanken
    enthüllt das folgende Beispiel. Ich schicke voraus, daß ich in
    meiner Eigenschaft als Arzt niemals auf meinen Erwerb bedacht
    bin und immer nur das Interesse des Kranken im Auge habe,
    was ja eine selbstverständliche Sache ist. Ich befinde mich bei
    einer Kranken, der ich nach schwerer Krankheit in einem
    Rekonvaleszentenstadium meinen ärztlichen Beistand leiste. Wir
    haben schwere Tage und Nächte mitgemacht. Ich bin glücklich,
    sie besser zu finden, male ihr die Wonnen eines Aufenthaltes in
    Abbazia aus und gebrauche dabei den Nachsatz: ‚wenn Sie, was
    ich hoffe, das Bett bald nicht verlassen werden —‘. Offenbar
    entsprang das einem egoistischen Motiv des Unbewußten, diese
    wohlhabende Kranke noch länger behandeln zu dürfen, einem

  • S.

    78

    Wunsche, der meinem wachen Bewußtsein vollkommen fremd ist
    und den ich mit Entrüstung zurückweisen würde.

    15) Ein anderes Beispiel (W. Stekel). „Meine Frau nimmt
    eine Französin für die Nachmittage auf und will, nachdem man
    sich über die Bedingungen geeinigt hatte, ihre Zeugnisse zurück-
    behalten. Die Französin bittet, sie behalten zu dürfen, mit der
    Motivierung: Je cherche encore pour les après-midis, pardon, pour
    les avant-midis
    . Offenbar hatte sie die Absicht, sich noch ander-
    weitig umzusehen und vielleicht bessere Bedingungen zu erhalten
    — eine Absicht, die sie auch ausgeführt hat.

    16) (Dr. Stekel:) „Ich soll einer Frau die Leviten lesen, und
    ihr Mann, auf dessen Bitte das geschieht, steht lauschend hinter
    der Tür. Am Ende meiner Predigt, die einen sichtlichen Eindruck
    gemacht hatte, sagte ich: ‚Küss’ die Hand, gnädiger Herr!‘ Dem
    Kundigen hatte ich damit verraten, daß die Worte an die
    Adresse des Herrn gerichtet waren, daß ich sie um seinetwillen
    gesprochen hatte.

    17) Dr. Stekel berichtet von sich selbst, daß er zu einer
    Zeit zwei Patienten aus Triest in Behandlung gehabt habe, die
    er immer verkehrt zu begrüßen pflegte. „Guten Morgen, Herr Peloni,“
    sagte ich zu Askoli, — „Guten Morgen, Herr Askoli,“ zu Peloni. Er war
    anfangs geneigt, dieser Verwechslung keine tiefere Motivierung zu-
    zuschreiben, sondern sie durch die mehrfachen Gemeinsamkeiten der
    beiden Herren zu erklären. Er ließ sich aber leicht überzeugen, daß die
    Namenvertauschung hier einer Art Prahlerei entsprach, indem er
    durch sie jeden seiner italienischen Patienten wissen lassen konnte,
    er sei nicht der einzige Triestiner, der nach Wien gekommen
    sei, um seinen ärztlichen Rat zu suchen.

    18) Dr. Stekel selbst in einer stürmischen Generalversammlung:
    Wir streiten (schreiten) nun zu Punkt 4 der Tagesordnung.

    19) Ein Professor in seiner Antrittsvorlesung: „Ich bin nicht
    geneigt (geeignet), die Verdienste meines sehr geschätzten
    Vorgängers zu schildern.

  • S.

    79

    20) Dr. Stekel zu einer Dame, bei welcher er Basedowsche
    Krankheit vermutet: „Sie sind um einen Kropf (Kopf) größer
    als Ihre Schwester.“

    21) Dr. Stekel berichtet: Jemand will das Verhältnis zweier
    Freunde schildern, von denen einer als Jude charakterisiert werden
    soll. Er sagt: Sie lebten zusammen wie Kastor und Pollak.
    Das war durchaus kein Witz, der Redner hatte das Versprechen
    selbst nicht bemerkt und wurde erst von mir darauf aufmerksam
    gemacht.

    22) Gelegentlich ersetzt ein Versprechen eine ausführliche
    Charakteristik. Eine junge Dame, die das Regiment im Hause
    führt, erzählt mir von ihrem leidenden Manne, er sei beim Arzt
    gewesen, um ihn nach der ihm zuträglichen Diät zu befragen.
    Der Arzt habe aber gesagt, darauf käme es nicht an. „Er kann
    essen und trinken was ich will.“

    Die folgenden zwei Beispiele von Th. Reik (Intern. Zeitschr. f.
    Psychoanalyse, III, 1915) stammen aus Situationen, in denen sich
    Versprechen besonders leicht ereignen, weil in ihnen mehr zurück-
    gehalten werden muß, als gesagt werden kann.

    23) Ein Herr spricht einer jungen Dame, deren Gatte kürzlich
    gestorben ist, sein Beileid aus und setzt hinzu: „Sie werden Trost
    finden, indem Sie sich völlig ihren Kindern widwen.
    “ Der unter-
    drückte Gedanke wies auf andersartigen Trost hin: eine junge
    schöne Witwe wird bald neue Sexualfreuden genießen.

    24) Derselbe Herr unterhält sich mit derselben Dame in einer
    Abendgesellschaft über die großen Vorbereitungen, welche in Berlin
    zum Osterfeste getroffen werden, und fragt: „Haben Sie heute die
    Auslage bei Wertheim gesehen? Sie ist ganz dekolletiert.
    “ Er
    hatte seiner Bewunderung über die Dekolletage der schönen Frau
    nicht laut Ausdruck geben dürfen, und nun setzte sich der verpönte
    Gedanke durch, indem er die Dekoration einer Warenauslage in
    eine Dekolletage verwandelte, wobei das Wort Auslage unbewußt
    doppelsinnig verwendet wurde.

  • S.

    80

    Dieselbe Bedingung trifft auch für eine Beobachtung zu, über
    welche Dr. Hanns Sachs ausführliche Rechenschaft zu geben
    versucht:

    25) „Eine Dame erzählt mir von einem gemeinsamen Bekannten,
    er sei, als sie ihn das letztemal sah, so elegant angezogen gewesen
    wie immer, besonders habe er hervorragend schöne, braune Halb-
    schuhe getragen. Auf meine Frage, wo sie ihn denn getroffen
    habe, berichtete sie: ‚Er hat an meiner Haustür geläutet und ich
    hab’ ihn durch die heruntergelassenen Rouleaux gesehen. Ich habe
    aber weder geöffnet noch sonst ein Lebenszeichen gegeben, denn
    ich wollte nicht, daß er es erfährt, daß ich schon in der Stadt
    bin.‘ Ich denke mir beim Zuhören, daß sie mir dabei etwas ver-
    schweigt, am wahrscheinlichsten wohl, daß sie deswegen nicht
    geöffnet habe, weil sie nicht allein und nicht in der Toilette war,
    um Besuche zu empfangen, und frage ein wenig ironisch: ‚Also
    durch die geschlossenen Jalousien hindurch haben Sie seine Haus-
    schuhe — seine Halbschuhe bewundern können?‘ In ,Hausschuhe‘
    kommt der von der Äußerung abgehaltene Gedanke an ihr Haus-
    kleid zum Ausdruck. Das Wort ‚Halb‘ wurde anderseits wieder
    deswegen zu beseitigen versucht, weil gerade in diesem Worte
    der Kern der verpönten Antwort: ‚Sie sagen mir nur die halbe
    Wahrheit und verschweigen, daß Sie halb angezogen waren‘ ent-
    halten ist. Befördert wurde das Versprechen auch dadurch, daß
    wir unmittelbar vorher von dem Eheleben des betreffenden Herrn,
    von seinem ‚häuslichen Glück‘ gesprochen hatten, was wohl die
    Verschiebung auf seine Person mitdeterminierte. Schließlich muß
    ich gestehen, daß vielleicht mein Neid mitgewirkt hat, wenn ich
    diesen eleganten Herrn in Hausschuhen auf der Straße stehen ließ;
    ich selbst habe mir erst vor kurzem braune Halbschuhe gekauft,
    die keineswegs mehr ‚hervorragend schön’ sind.

    Kriegszeiten wie die gegenwärtigen bringen eine Reihe von
    Versprechen hervor, deren Verständnis wenig Schwierigkeiten
    macht.

  • S.

    81

    26) „Bei welcher Waffe befindet sich Ihr Herr Sohn?“ wird
    eine Dame gefragt. Sie antwortet: „Bei den 42er Mördern.“

    27) Leutnant Henrik Haiman schreibt aus dem Felde: „Ich
    werde aus der Lektüre eines fesselnden Buches herausgerissen, um
    für einen Moment den Aufklärungstelephonisten zu vertreten. Auf
    die Leitungsprobe der Geschützstation reagiere ich mit: Kontrolle
    richtig, Ruhe. Reglementmäßig sollte es lauten: Kontrolle richtig,
    Schluß. Meine Abweichung erklärt sich durch den Ärger über die
    Störung im Lesen.
    “ (Intern. Zeitschr. f. Psychoanalyse, IV, 1916/17.)

    28) Ein Feldwebel instruiert die Mannschaft‚ ihre Adressen
    genau nach Hause anzugeben, damit die Gespeckstücke nicht
    verloren gehen.

    29) Das nachstehende, hervorragend schöne und durch seinen
    tieftraurigen Hintergrund bedeutsame Beispiel verdanke ich der
    Mitteilung von Dr. L. Czeszer, der während seines Aufenthaltes
    in der neutralen Schweiz zu Kriegszeiten diese Beobachtung gemacht
    und sie erschöpfend analysiert hat. Ich gebe seine Zuschrift mit
    unwesentlichen Auslassungen im folgenden wieder:

    Ich gestatte mir, einen Fall von ‚Versprechen‘ mitzuteilen, der
    Herrn Professor M. N. in O. bei einem seiner im eben verflossenen
    Sommersemester abgehaltenen Vorträge über die Psychologie der
    Empfindungen unterlief. Ich muß voraussenden, daß diese Vor-
    lesungen in der Aula der Universität unter großem Zudrang der
    französischen internierten Kriegsgefangenen und im übrigen der meist
    aus entschieden ententefreundlich gesinnten Französisch-Schweizern
    bestehenden Studentenschaft gehalten wurden. In O. wird, wie in
    Frankreich selbst, das Wort boche jetzt allgemein und ausschließlich
    zur Bezeichnung der Deutschen gebraucht. Bei öffentlichen Kund-
    gebungen aber, sowie bei Vorlesungen u. dgl. bestreben sich höhere
    Beamte, Professoren und sonst verantwortliche Personen, aus Neu-
    tralitätsgründen das ominöse Wort zu vermeiden.

    Professor N. nun war gerade im Zuge, die praktische Bedeutung
    der Affekte zu besprechen, und beabsichtigte, ein Beispiel zu zitieren

  • S.

    82

    für die zielbewußte Ausbeutung eines Affekts, um eine an sich
    uninteressante Muskelarbeit mit Lustgefühlen zu laden und so inten-
    siver zu gestalten. Er erzählte also, natürlich in französischer Sprache,
    die gerade damals von hiesigen Blättern aus einem alldeutschen
    Blatte abgedruckte Geschichte von einem deutschen Schulmeister,
    der seine Schüler im Garten arbeiten ließ und, um sie zu inten-
    siverer Arbeit anzufeuern, sie aufforderte, sich vorzustellen, daß
    sie statt jeder Erdscholle einen französischen Schädel einschlügen.
    Beim Vortrag seiner Geschichte sagte N. natürlich jedesmal, wo
    von Deutschen die Rede war, ganz korrekt Allemand und nicht
    boche. Doch als es zur Pointe der Geschichte kam, trug er die
    Worte des Schulmeisters folgenderweise vor: Imaginez vous, qu’en
    chaque moche vous écrasez le crâne d’un Français
    . Also statt motte
    moche!

    Sieht man da nicht förmlich, wie der korrekte Gelehrte vom
    Anfang der Erzählung sich zusammennimmt, um ja nicht der
    Gewohnheit und vielleicht auch der Versuchung nachzugeben und
    das sogar durch einen Bundeserlaß ausdrücklich verpönte Wort
    von dem Katheder der Universitätsaula fallen zu lassen! Und gerade
    im Augenblick, wo er glücklich das letztemal ganz korrekt ‚insti-
    titeur allemand‘ gesagt hat und innerlich aufatmend zum unver-
    fänglichen Schlusse eilt, klammert sich die mühsam zurückgedrängte
    Vokabel an den Gleichklang des Wortes motte und — das Unheil
    ist geschehen. Die Angst vor der politischen Taktlosigkeit, vielleicht
    eine zurückgedrängte Lust, das gewohnte und von allen erwartete
    Wort doch zu gebrauchen, sowie der Unwillen des geborenen
    Republikaners und Demokraten gegen jeden Zwang in der freien
    Meinungsäußerung interferieren mit der auf die korrekte Wieder-
    gabe des Beispiels gerichteten Hauptabsicht. Die interferierende
    Tendenz ist dem Redner bekannt und er hat, wie nicht anders
    anzunehmen ist, unmittelbar vor dem Versprechen an sie gedacht.

    Sein Versprechen hat Professor N. nicht bemerkt, wenigstens hat
    er es nicht verbessert, was man doch meist geradezu automatisch

  • S.

    83

    tut. Dagegen wurde der Lapsus von der meist französischen Zuhörer-
    schaft mit wahrer Genugtuung aufgenommen und wirkte voll-
    kommen wie ein beabsichtigter Wortwitz. Ich aber folgte diesem
    anscheinend harmlosen Vorgang mit wahrer innerer Erregung. Denn
    wenn ich mir auch aus naheliegenden Gründen Versagen mußte,
    dem Professor die sich nach psychoanalytischer Methode aufdrän-
    genden Fragen zu stellen, so war doch dieses Versprechen für
    mich ein schlagender Beweis für die Richtigkeit Ihrer Lehre von
    der Determinierung der Fehlhandlungen und den tiefen Analogien
    und Zusammenhängen zwischen dem Versprechen und dem Witz.

    30) Unter den betrübenden Eindrücken der Kriegszeit entstand
    auch das Versprechen, welches ein heimgekehrter österreichischer
    Offizier, Oberleutnant T., berichtet:

    Während mehrerer Monate meiner italienischen Kriegsgefangen-
    schaft waren wir, eine Zahl von 200 Offizieren, in einer engen
    Villa untergebracht. In dieser Zeit starb einer unserer Kameraden
    an der Grippe. Der Eindruck, der durch diesen Vorfall hervor-
    gerufen wurde, war naturgemäß ein tiefgehender; denn die
    Verhältnisse, in denen wir uns befanden, das Fehlen ärztlichen
    Beistands, die Hilflosigkeit unserer damaligen Existenz ließen ein
    Umsichgreifen der Seuche mehr denn wahrscheinlich werden —
    Wir hatten den Toten in einem Kellerraume aufgebahrt. Am
    Abend, als ich mit einem Freunde einen Rundgang um unser
    Haus angetreten hatte, äußerten wir beide den Wunsch, die Leiche
    zu sehen. Mir als dem Voranschreitenden bot sich beim Eintritt
    in den Keller ein Anblick, der mich heftig erschrecken ließ; denn
    ich war nicht vorbereitet gewesen, die Bahre so nahe beim Ein-
    gang aufgestellt zu finden und aus solcher Nähe in das durch
    spielende Kerzenlichter in Unruhe versetzte Antlitz schauen zu
    müssen. Noch unter diesem nachwirkenden Bilde setzten wir dann
    den Rundgang fort. An einer Stelle, von wo sich dem Auge die
    Ansicht des im vollen Mondenscheine schwimmenden Parkes, einer
    hellbestrahlten Wiese und dahintergelegter, leichter Nebelschleier

  • S.

    84

    zeigte, gab ich der damit verknüpften Vorstellung Ausdruck, einen
    Reigen Elfen unter dem Saume der anschließenden Kiefern tanzen
    zu sehen.

    Am folgenden Nachmittag begruben wir den toten Gefährten.
    Der Weg von unserem Kerker bis zum Friedhof des kleinen,
    benachbarten Ortes war für uns gleicherweise bitter und ent-
    würdigend; denn halbwüchsige, johlende Burschen, eine spöttische,
    höhnende Bevölkerung, derbe, schreiende Lärmer hatten diesen
    Anlaß benützt, um unverhohlen ihren von Neugierde und Haß
    gemischten Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Die Empfindung,
    selbst in diesem wehrlosen Zustand nicht ungekränkt bleiben zu
    können, der Abscheu vor der bekundeten Roheit beherrschten
    mich bis zum Abend mit Erbitterung. Zur gleichen Stunde wie
    tagszuvor, in der nämlichen Begleitung begingen wir auch dies-
    mal den Kiesweg rund um das Wohnhaus; und an dem Keller-
    gitter vorüberkommend, hinter dem die Leiche gelegen hatte,
    überfiel mich die Erinnerung des Eindrucks, den ihr Anblick in
    mir hinterlassen hatte. An der Stelle, von der sich mir dann
    wiederum der erhellte Park darbot, unter dem gleichen Vollmond-
    lichte, hielt ich an und äußerte zu meinem Begleiter: ‚Wir könnten
    uns hier ins Grab — — Gras setzen und eine Serenade
    sinken!‘ — Erst beim zweiten Versprechen wurde ich auf-
    merksam; das erstemal hatte ich verbessert, ohne des Sinnes im
    Fehler bewußt geworden zu sein. Nun überlegte ich und reihte
    aneinander: ‚ins Grab — sinken!‘ Blitzartig folgten diese Bilder:
    im Mondschein tanzende, schwebende Elfen; der aufgebahrte
    Kamerad, der erweckte Eindruck; einzelne Szenen vom Begräbnis,
    die Empfindung des gehabten Ekels und der gestörten Trauer;
    Erinnerung an einzelne Gespräche über die aufgetretene Seuche,
    Furchtäußerungen mehrerer Offiziere. Später entsann ich mich
    des Umstandes, daß es der Todestag meines Vaters sei, was für
    mich meines sonst sehr schlechten Datengedächtnisses wegen auf-
    fallend wurde.

  • S.

    85

    Beim nachherigen Überdenken wurde mir klar: das Zusammen-
    treffen äußerer Bedingungen zwischen beiden Abenden, die gleiche
    Stunde, Beleuchtung, der nämliche Ort und Begleiter. Ich erinnerte
    mich des Unbehagens, das ich empfunden hatte, als die Besorgnis
    einer Ausbreitung der Grippe erörtert wurde; aber zugleich auch
    des inneren Verbotes, mich Furcht anwandeln zu lassen. Auch die
    Wortstellung: ‚wir könnten ins Grab sinken‘ wurde mir darauf
    in ihrer Bedeutung bewußt, wie ich auch die Überzeugung gewann,
    nur die zuerst stattgehabte Korrektur von ,Grab‘ in ‚Gras‘, die
    noch ohne Deutlichkeit geschehen war, habe auch das zweite
    Versprechen: ‚singen‘ in ‚sinken‘ zur Folge gehabt, um dem unter-
    drückten Komplex endgültige Wirkung zu sichern.

    Ich füge bei, daß ich zu jener Zeit an beängstigenden Träumen
    litt, in denen ich eine mir sehr nahestehende Angehörige wieder-
    holt krank, einmal selbst tot sah. Ich hatte noch knapp vor meiner
    Gefangennahme die Nachricht erhalten, daß die Grippe gerade in
    der Heimat dieser Angehörigen mit besonderer Heftigkeit wüte,
    hatte ihr auch meine lebhaften Befürchtungen geäußert. Seither
    war ich ohne Verbindung geblieben. Monate später empfing ich
    die Kunde, daß sie zwei Wochen vor dem geschilderten Ereignis
    ein Opfer der Epidemie geworden sei!

    31) Das nachstehende Beispiel von Versprechen beleuchtet blitz-
    ähnlich einen der schmerzlichen Konflikte, die das Los des Arztes
    sind. Ein wahrscheinlich dem Tode verfallener Mann, dessen
    Diagnose aber noch nicht feststeht, ist nach Wien gekommen,
    um hier die Lösung seines Knotens abzuwarten, und hat einen
    Jugendfreund, der ein bekannter Arzt geworden ist, gebeten, seine
    Behandlung zu übernehmen, worauf dieser nicht ohne Wider-
    streben schließlich einging. Der Kranke soll in einer Heilanstalt
    Aufenthalt nehmen und der Arzt schlägt das Sanatorium „Hera“
    vor. Das ist doch eine Anstalt nur für bestimmte Zwecke (eine
    Entbindungsanstalt), wendet der Kranke ein. O nein, ereifert sich
    der Arzt: In der „Hera“ kann man jeden Patienten umbringen

  • S.

    86

    — unterbringen, meine ich. Er sträubt sich dann heftig gegen
    die Deutung seines Versprechens. „Du wirst doch nicht glauben,
    daß ich feindselige Impulse gegen dich habe?“ Eine Viertelstunde
    später sagte er zu der ihn hinausbegleitenden Dame, die die Pflege
    des Kranken übernommen hat: „Ich kann nichts finden und glaube
    ja noch immer nicht daran. Aber wenn es so sein sollte, bin ich
    für eine tüchtige Dosis Morphium, und dann ist Ruhe.“ Es kommt
    heraus, daß der Freund ihm die Bedingung gestellt hat, daß er
    seine Leiden durch ein Medikament abkürze, sobald es feststeht,
    daß ihm nicht mehr zu helfen ist. Der Arzt hatte also wirklich
    die Aufgabe übernommen, den Freund umzubringen.

    32) Auf ein ganz besonders lehrreiches Beispiel von Versprechen
    möchte ich nicht verzichten, obwohl es sich nach Angabe meines
    Gewährsmannes vor etwa 20 Jahren zugetragen hat. „Eine Dame
    äußerte einmal in einer Gesellschaft — man hört es den Worten
    an, daß sie im Eifer und unter dem Drucke allerlei geheimer
    Regungen zustande gekommen sind: ‚Ja, eine Frau muß schön
    sein, wenn sie den Männern gefallen soll. Da hat es ein Mann
    viel besser; wenn er nur seine fünf geraden Glieder hat, mehr
    braucht er nicht!‘ Dieses Beispiel gestattet uns einen guten Ein-
    blick in den intimen Mechanismus eines Versprechens durch
    Verdichtung oder einer Kontamination (vgl. S. 62). Es
    liegt nahe, anzunehmen, daß hier zwei sinnähnliche Redeweisen
    verschmolzen sind:

    wenn er seine vier geraden Glieder hat
    wenn er seine fünf Sinne beisammen hat.

    Oder aber das Element gerade ist das Gemeinsame zweier Rede-
    intentionen gewesen, die gelautet haben:

    wenn er nur seine geraden Glieder hat
    alle fünf gerade sein lassen.

    Es hindert uns auch nichts anzunehmen, daß beide Redensarten,
    die von den fünf Sinnen und die von den geraden fünf mit-

  • S.

    87

    gewirkt haben, um in den Satz von den geraden Gliedern zunächst
    eine Zahl und dann die geheimsinnige fünf anstatt der simpeln
    vier einzuführen. Diese Verschmelzung wäre aber gewiß nicht
    erfolgt, wenn sie nicht in der als Versprechen resultierenden Form
    einen eigenen guten Sinn hätte, den einer zynischen Wahrheit,
    wie sie von einer Frau allerdings nicht ohne Bemäntelung bekannt
    werden darf. — Endlich wollen wir nicht versäumen, aufmerksam
    zu machen, daß die Rede der Dame ihrem Wortlaut nach ebenso-
    wohl einen vortrefflichen Witz wie ein lustiges Versprechen bedeuten
    kann. Es hängt nur davon ab, ob sie diese Worte mit bewußter
    Absicht oder — mit unbewußter Absicht gesprochen hat. Das
    Benehmen der Rednerin in unserem Falle widerlegte allerdings
    die bewußte Absicht und schloß den Witz aus.“

    Die Annäherung eines Versprechens an einen Witz kann so
    weit gehen wie in dem von O. Rank mitgeteilten Falle, in dem
    die Urheberin des Versprechens es schließlich selbst als Witz belacht:

    33) „Ein jung verheirateter Ehemann, dem seine um ihr
    mädchenhaftes Aussehen besorgte Frau den häufigen Geschlechts-
    verkehr nur ungern gestattet, erzählte mir folgende, nachträglich
    auch ihn und seine Frau höchst belustigende Geschichte: Nach
    einer Nacht, in welcher er das Abstinenzgebot seiner Frau wieder
    einmal übertreten hat, rasiert er sich morgens in ihrem gemein-
    samen Schlafzimmer und benützt dabei — wie schon öfter aus
    Bequemlichkeit — die auf dem Nachtkästchen liegende Puder-
    quaste seiner noch ruhenden Gattin. Die um ihren Teint äußerst
    besorgte Dame hatte ihm auch dies schon mehrmals verwiesen
    und ruft ihm darum geärgert zu: ‚Du puderst mich ja schon
    wieder mit deiner Quaste!‘ Durch des Mannes Gelächter auf ihr
    Versprechen aufmerksam gemacht (sie wollte sagen: du puderst
    dich schon wieder mit meiner Quaste), lacht sie schließlich
    belustigt mit (‚pudern‘ ist ein jedem Wiener geläufiger Ausdruck
    für koitieren, die Quaste als phallisches Symbol kaum zweifelhaft).

    (Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, I, 1913.)

  • S.

    88

    34) An die Absicht eines Witzes könnte man auch in folgendem
    Falle denken (A. J. Storfer):

    Frau B., die an einem Leiden, offenbar psychogenen Ursprungs,
    laboriert, wird wiederholt nahegelegt, den Psychoanalytiker X. zu
    konsultieren. Sie lehnt es stets mit der Bemerkung ab, so eine
    Behandlung sei doch nie etwas Rechtes, der Arzt würde doch
    alles fälschlicherweise auf sexuelle Dinge zurückführen. Schließlich
    ist sie einmal doch bereit, dem Rate Folge zu leisten und sie
    fragt: „Nun gut, wann ordinärt also dieser Dr. X.?“

    Die Verwandtschaft zwischen Witz und Versprechen bekundet
    sich auch darin, daß das Versprechen oft nichts anderes ist als
    eine Verkürzung:

    35) Ein junges Mädchen hat nach dem Verlassen der Schule
    den herrschenden Zeitströmungen Rechnung getragen, indem sie
    sich zum Studium der Medizin inskribierte. Nach wenigen Seme-
    stern hatte sie die Medizin mit der Chemie vertauscht. Von dieser
    Schwenkung erzählt sie einige Jahre später in folgender Rede:
    Ich hab’ mich ja im allgemeinen beim Sezieren nicht gegraust,
    aber wie ich einmal an einer Leiche die Nägel von den Fingern
    abziehen sollte, da habe ich die Lust an der ganzen — Chemie
    verloren.

    36) Ich reihe hier einen anderen Fall von Versprechen an,
    dessen Deutung wenig Kunst erfordert. „Der Professor bemüht
    sich in der Anatomie um die Erklärung der Nasenhöhle, eines
    bekanntlich sehr schwierigen Abschnittes der Eingeweidelehre.
    Auf seine Frage, ob die Hörer seine Ausführungen erfaßt haben,
    wird ein allgemeines ,Ja‘ vernehmlich. Darauf bemerkt der
    bekannt selbstbewußte Professor: Ich glaube kaum, denn die
    Leute, welche die Nasenhöhle verstehen, kann man selbst in einer
    Millionenstadt wie Wien an einem Finger, pardon, an den
    Fingern einer Hand wollte ich sagen, abzählen.“

    37) Derselbe Anatom ein andermal: „Beim weiblichen Genitale
    hat man trotz vieler Versuchungen — pardon, Versuche . . .“

  • S.

    89

    38) Herrn Dr. Alf. Robitsek in Wien verdanke ich den
    Hinweis auf zwei von einem altfranzösischen Autor bemerkte
    Fälle von Versprechen, die ich unübersetzt wiedergeben werde.
    Brantôme (1527—1614) Vies des Dames galantes, Discours
    second: „Si ay-je cogneu une très belle et honneste dame de par
    le monde, qui, devisant avec un honneste gentilhomme de la cour
    des affaires de la guerre durant ces civiles, elle luy dit: ‚J’ay
    ouy dire que le roy a faiet rompre tous les c... de ce pays là.
    Elle vouloit dire les ponts. Pensez que, venant de coucher d’avec
    son mary, ou songeant à son amant, elle avoit encor ce nom frais
    en la bouche; et le gentilhomme s’en eschauffer en amours d’elle
    pour ce mot.‘

    Une autre dame que j´ai cogneue, entretenant une autre
    grand dame plus qu’elle, et luy louant et exaltant ses beautez,
    elle luy dit après: ‚Non, madame, ce que je vous en dis: ce n’est
    point pour vous adultérer; voulant dire adulater, comme
    elle le rhabilla ainsi: pensez qu’elle songeoit à adultérer.‘

    39) Es gibt natürlich auch modernere Beispiele für die Ent-
    stehung sexueller Zweideutigkeiten durch Versprechen: Frau F.
    erzählt über ihre erste Stunde in einem Sprachkurs: „Es ist ganz
    interessant, der Lehrer ist ein netter junger Engländer. Er hat
    mir gleich in der ersten Stunde durch die Bluse (korrigiert sich:
    durch die Blume) zu verstehen gegeben, daß er mir lieber
    Einzelunterricht erteilen möchte.“ (Storfer.)

    Bei dem psychotherapeutischen Verfahren, dessen ich mich zur
    Auflösung und Beseitigung neurotischer Symptome bediene, ist
    sehr häufig die Aufgabe gestellt, aus den wie zufällig vorge-
    brachten Reden und Einfällen des Patienten einen Gedankeninhalt
    aufzuspüren, der zwar sich zu verbergen bemüht ist, aber doch
    nicht umhin kann, sich in mannigfaltigster Weise unabsichtlich
    zu verraten. Dabei leistet oft das Versprechen die wertvollsten
    Dienste, wie ich an den überzeugendsten und anderseits sonder-
    barsten Beispielen dartun könnte. Die Patienten sprechen z. B.

  • S.

    90

    von ihrer Tante und nennen sie konsequent, ohne das Versprechen
    zu bemerken, „meine Mutter“, oder bezeichnen ihren Mann als
    ihren „Bruder“. Sie machen mich auf diese Weise aufmerksam,
    daß sie diese Personen miteinander „identifiziert“, in eine Reihe
    gebracht haben, welche für ihr Gefühlsleben die Wiederkehr
    desselben Typus bedeutet. Oder: ein junger Mann von 20 Jahren
    stellt sich mir in der Sprechstunde mit den Worten vor: Ich bin
    der Vater des N. N., den Sie behandelt haben. — Pardon, ich
    will sagen, der Bruder; er ist ja um vier Jahre älter als ich. Ich
    verstehe, daß er durch dieses Versprechen ausdrücken will, daß
    er wie der Bruder durch die Schuld des Vaters erkrankt sei, wie
    der Bruder Heilung verlange, daß aber der Vater derjenige ist,
    dem die Heilung am dringlichsten wäre. Andere Male reicht eine
    ungewöhnlich klingende Wortfügung, eine gezwungen erscheinende
    Ausdrucksweise hin, um den Anteil eines verdrängten Gedankens
    an der anders motivierten Rede des Patienten aufzudecken.

    In groben wie in solchen feineren Redestörungen, die sich
    eben noch dem „Versprechen“ subsumieren lassen, finde ich also
    nicht den Einfluß von Kontaktwirkungen der Laute, sondern den
    von Gedanken außerhalb der Redeintention maßgebend für die
    Entstehung des Versprechens und hinreichend zur Aufhellung des
    zustande gekommenen Sprechfehlers. Die Gesetze, nach denen die
    Laute verändernd aufeinander einwirken, möchte ich nicht
    anzweifeln; sie scheinen mir aber nicht wirksam genug, um für
    sich allein die korrekte Ausführung der Rede zu stören. In den
    Fällen, die ich genauer studiert und durchschaut habe, stellen sie
    bloß den vorgebildeten Mechanismus dar, dessen sich ein ferner
    gelegenes psychisches Motiv bequemerweise bedient, ohne sich
    aber an den Machtbereich dieser Beziehungen zu binden. In
    einer großen Reihe von Substitutionen wird beim
    Versprechen von solchen Lautgesetzen völlig abge
    -
    sehen. Ich befinde mich hiebei in voller Übereinstimmung mit
    Wundt, der gleichfalls die Bedingungen des Versprechens als

  • S.

    91

    zusammengesetzte und weit über die Kontaktwirkungen der Laute
    hinausgehende vermutet.

    Wenn ich diese „entfernteren psychischen Einflüsse“ nach
    Wundts Ausdruck für gesichert halte, so weiß ich anderseits
    von keiner Abhaltung um auch zuzugeben, daß bei beschleunigter
    Rede und einigermaßen abgelenkter Aufmerksamkeit die Bedin-
    gungen fürs Versprechen sich leicht auf das von Meringer und
    Mayer bestimmte Maß einschränken können. Bei einem Teile
    der von diesen Autoren gesammelten Beispiele ist wohl eine kom-
    pliziertere Auflösung wahrscheinlicher. Ich greife etwa den vorhin
    angeführten Fall heraus:

    Es war mir auf der Schwest...
                                    Brust so schwer.

    Geht es hier wohl so einfach zu, daß das schwe das gleich-
    wertige Bru als Vorklang verdrängt? Es ist kaum abzuweisen,
    daß die Laute schwe außerdem durch eine besondere Relation
    zu dieser Vordringlichkeit befähigt werden. Diese könnte dann
    keine andere sein als die Assoziation: Schwester—Bruder,
    etwa noch: Brust der Schwester, die zu anderen Gedanken-
    kreisen hinüberleitet. Dieser hinter der Szene unsichtbare Helfer
    verleiht dem sonst harmlosen schwe die Macht, deren Erfolg
    sich als Sprechfehler äußert.

    Für anderes Versprechen läßt sich annehmen, daß der Anklang
    an obszöne Worte und Bedeutungen das eigentlich Störende ist.
    Die absichtliche Entstellung und Verzerrung der Worte und
    Redensarten, die bei unartigen Menschen so beliebt ist, bezweckt
    nichts anderes, als beim harmlosen Anlaß an das Verpönte zu
    mahnen, und diese Spielerei ist so häufig, daß es nicht wunder-
    bar wäre, wenn sie sich auch unabsichtlich und wider Willen
    durchsetzen sollte. Beispiele wie: Eischeißweibchen für Eiweiß-
    scheibchen, Apopos Fritz für Apropos, Lokuskapitäl für
    Lotuskapitäl usw., vielleicht noch die Alabüsterbachse (Alabaster-

  • S.

    92

    büchse) der hl. Magdalena gehören wohl in diese Kategorie1. —
    „Ich fordere Sie auf, auf das Wohl unseres Chefs aufzustoßen,“
    ist kaum etwas anderes als eine unabsichtliche Parodie als Nach-
    klang einer beabsichtigten. Wenn ich der Chef wäre, zu dessen
    Feierlichkeit der Festredner diesen Lapsus beigetragen hätte, würde
    ich wohl daran denken, wie klug die Römer gehandelt haben, als
    sie den Soldaten des triumphierenden Imperators gestatteten, den
    inneren Einspruch gegen den Gefeierten in Spottliedern laut
    zu äußern. — Meringer erzählt von sich selbst, daß er zu
    einer Person, die als die älteste der Gesellschaft mit dem ver-
    traulichen Ehrennamen „Senexl“ oder „altes Senexl“ angesprochen
    wurde, einmal gesagt habe: „Prost, Senex altesl!“ Er erschrak
    selbst über diesen Fehler (S. 50). Wir können uns vielleicht seinen
    Affekt deuten, wenn wir daran mahnen, wie nahe „Altesl“ an
    den Schimpf „alter Esel“ kommt. Auf die Verletzung der Ehr-
    furcht vor dem Alter (d. i., auf die Kindheit reduziert: vor dem
    Vater) sind große innere Strafen gesetzt.

    1) Bei einer meiner Patientinnen setzte sich das Versprechen als Symptom so
    lange fort, bis es auf den Kinderstreich, das Wort ruinieren durch uri-
    nieren zu ersetzen, zurückgeführt war. — An die Versuchung, durch den Kunst-
    griff des Versprechens zum freien Gebrauch unanständiger und unerlaubter Worte
    zu kommen, knüpfen sich Abrahams Beobachtungen über Fehlleistungen „mit
    überkompensierender Tendenz“ (Intern. Zeitschr. f. Psychoanalyse VIII,
    1922). Eine Patientin mit leichter Neigung, die Anfangssilbe von Eigennamen durch
    Stottern zu verdoppeln, hatte den Namen Protagoras in Protragoras verändert.
    Kurz vorher hatte sie anstatt Alexandros — Aalexandros gesagt. Die Erkun-
    digung ergab, daß sie als Kind besonders gerne die Unart gepflegt hatte die an-
    lautenden Silben a und po zu wiederholen, eine Spielerei, die nicht selten das
    Stottern der Kinder einleitet. Beim Namen Protagoras verspürte sie nun die Gefahr,
    das r der ersten Silke auszulassen und Po—potagoras zu sagen. Zum Schutz dagegen
    hielt sie aber dies r krampfhaft fest und schob noch ein weiteres r in die zweite
    Silbe ein. In ähnlicher Weise entstellte sie andere Male die Worte parterre und
    Kondolenz zu partrerre und Kodolenz, um den in ihrer Assoziation naheliegen-
    den Worten pater (Vater) und Kondom auszuweichen. Ein anderer Patient
    Abrahams bekannte sich zur Neigung anstatt Angina jedesmal Angora zu
    sagen, sehr wahrscheinlich, weil er die Versuchung fürchtete, Angina durch
    Vagina zu ersetzen. Diese Versprechungen kommen also dadurch zustande, daß
    an Stelle der entstellenden eine abwehrende Tendenz die Oberhand behält, und
    Abraham macht mit Recht auf die Analogie dieses Vorganges mit der Symptom-
    bildung bei Zwangsneurosen aufmerksam.

  • S.

    93

    Ich hoffe, die Leser werden den Wertunterschied dieser Deu-
    tungen, die sich durch nichts beweisen lassen, und der Beispiele,
    die ich selbst gesammelt und durch Analysen erläutert habe, nicht
    vernachlässigen. Wenn ich aber im stillen immer noch an der
    Erwartung festhalte, auch die scheinbar einfachen Fälle von Ver-
    sprechen würden sich auf Störung durch eine halb unterdrückte
    Idee außerhalb des intendierten Zusammenhanges zurückführen
    lassen, so verlockt mich dazu eine sehr beachtenswerte Bemerkung
    von Meringer. Dieser Autor sagt, es ist merkwürdig, daß
    niemand sich versprochen haben will. Es gibt sehr gescheite und
    ehrliche Menschen, welche beleidigt sind, wenn man ihnen sagt,
    sie hätten sich versprochen. Ich getraue mich nicht, diese Behaup-
    tung so allgemein zu nehmen, wie sie durch das „niemand“ von
    Meringer hingestellt wird. Die Spur Affekt aber, die am Nach-
    weis des Versprechens hängt und offenbar von der Natur des
    Schämens ist, hat ihre Bedeutung. Sie ist gleichzusetzen dem
    Ärger, wenn wir einen vergessenen Namen nicht erinnern, und
    der Verwunderung über die Haltbarkeit einer scheinbar belang-
    losen Erinnerung und weist allemal auf die Beteiligung eines
    Motivs am Zustandekommen der Störung hin.

    Das Verdrehen von Namen entspricht einer Schmähung, wenn
    es absichtlich geschieht, und dürfte in einer ganzen Reihe von
    Fällen, wo es als unabsichtliches Versprechen auftritt, dieselbe
    Bedeutung haben. Jene Person, die nach Mayers Bericht einmal
    Freuder“ sagte anstatt Freud, weil sie kurz darauf den
    Namen „Breuer“ vorbrachte (S. 38), ein andermal von einer
    Freuer-Breudschen Methode (S. 28) sprach, war wohl ein
    Fachgenosse und von dieser Methode nicht sonderlich entzückt.
    Einen gewiß nicht anders aufzuklärenden Fall von Namenent-
    stellung werde ich weiter unten beim Verschreiben mitteilen1.

    1) Man kann auch bemerken, daß gerade Aristokraten besonders häufig die Namen
    von Ärzten, die sie konsultiert haben, entstellen, und darf daraus schließen, daß sie
    dieselben innerlich geringschätzen, trotz der Höflichkeit, mit welcher sie ihnen zu

  • S.

    94

    In diesen Fällen mengt sich als störendes Moment eine Kritik
    ein, welche beiseite gelassen werden soll, weil sie gerade in dem
    Zeitpunkt der Intention des Redners nicht entspricht.

    Umgekehrt muß die Namenersetzung, die Aneignung des fremden
    Namens, die Identifizierung mittels des Namenversprechens, eine
    Anerkennung bedeuten, die im Augenblick aus irgendwelchen
    Gründen im Hintergrunde verbleiben soll. Ein Erlebnis dieser Art
    erzählt S. Ferenczi aus seinen Schuljahren:

    „In der ersten Gymnasialklasse habe ich (zum erstenmal in
    meinem Leben) öffentlich (d. h. vor der ganzen Klasse) ein Gedicht
    rezitieren müssen. Ich war gut vorbereitet und war bestürzt, gleich

    begegnen pflegen. — Ich zitiere hier einige treffende Bemerkungen über das Namen-
    vergessen aus der englischen Bearbeitung unseres Themas durch Dr. E. Jones,
    damals in Toronto (The Psychopathologie of Everyday Life. American Journal of
    Psychology, Oct. 1911):

    „Wenige Leute können sich einer Anwandlung von Ärger erwehren, wenn sie
    finden, daß man ihren Namen vergessen hat, besonders dann, wenn sie von der
    betreffenden Person gehofft oder erwartet hatten, sie würde den Namen behalten
    haben. Sie sagen sich sofort ohne Überlegung, daß die Person den Namen nicht ver-
    gessen hätte, wenn man einen stärkeren Eindruck bei ihr hinterlassen hätte; denn
    der Name ist ein wesentlicher Bestandteil der Persönlichkeit. Anderseits gibt es wenig
    Dinge, die schmeichelhafter empfunden werden, als wenn man von einer hohen Per-
    sönlichkeit, wo man es nicht erwartet hätte, mit seinem Namen angeredet wird.
    Napoleon, ein Meister in der Kunst, Menschen zu behandeln, gab während des
    unglücklichen Feldzuges von 1814 eine erstaunliche Probe seines Gedächtnisses nach
    dieser Richtung. Als er sich in einer Stadt bei Graonne befand, erinnerte er sich,
    daß er deren Bürgermeister De Bussy etwa 20 Jahre vorher in einem bestimmten
    Regiment kennen gelernt hatte; die Folge war, daß der entzückte De Bussy sich
    seinem Dienst mit schrankenloser Hingebung widmete. Dementsprechend gibt es auch
    kein verläßlicheres Mittel, einen Menschen zu beleidigen, als indem man so tut, als
    habe man seinen Namen vergessen; man drückt damit aus, die Person sei einem so
    gleichgültig, daß man sich nicht die Mühe zu nehmen brauche, sich ihren Namen
    zu merken. Dieser Kunstgriff spielt auch in der Literatur eine gewisse Rolle. So
    heißt es in Turgenjews ,Rauch‘ einmal: ‚Sie finden Baden noch immer amüsant,
    Herr — Litvinov?‘ Ratmirov pflegte Litvinovs Namen immer zögernd auszuprechen,
    als ob er sich erst auf ihn besinnen müßte. Dadurch, wie durch die hochmütige Art,
    wie er seinen Hut beim Gruß lüftete, wollte er Litvinov in seinem Stolze kränken.“
    An einer anderen Stelle in ‚Väter und Söhne‘ schreibt der Dichter: ‚Der Gouver-
    neur lud Kirsanov und Bazarov zum Balle ein und wiederholte diese Einladung einige
    Minuten später, wobei er sie als Brüder zu betrachten schien und Kisarov ansprach.“
    Hier ergibt das Vergessen der früheren Einladung, die Irrung in den Namen und die
    Unfähigkeit, die beiden jungen Männer auseinander zu halten, geradezu eine Häufung
    von kränkenden Momenten. Namenentstellung hat dieselbe Bedeutung wie Namen-
    vergessen, es ist ein erster Schritt gegen das Vergessen hin.“

  • S.

    95

    beim Beginne durch eine Lachsalve gestört zu werden. Der Pro-
    fessor erklärte mir dann diesen sonderbaren Empfang: ich sagte
    nämlich den Titel des Gedichtes ‚Aus der Ferne‘ ganz richtig,
    nannte aber als Autor nicht den wirklichen Dichter, sondern —
    mich selber. Der Name des Dichters ist Alexander (Sándor)
    Petöfi. Die Gleichheit des Vornamens mit meinem eigenen
    begünstigte die Verwechslung; die eigentliche Ursache derselben
    aber war sicherlich die, daß ich mich damals in meinen geheimen
    Wünschen mit dem gefeierten Dichterhelden identifizierte. Ich
    hegte für ihn auch bewußt eine an Anbetung grenzende Liebe
    und Hochachtung. Natürlich steckt auch der ganze leidige Ambi-
    tionskomplex hinter dieser Fehlleistung.“

    Eine ähnliche Identifizierung mittels des vertauschten Namens
    wurde mir von einem jungen Arzt berichtet, der sich zaghaft und
    verehrungsvoll dem berühmten Virchow mit den Worten vor-
    stellte: Dr. Virchow. Der Professor wendete sich erstaunt zu
    ihm und fragte: Ah, heißen Sie auch Virchow? Ich weiß nicht,
    wie der junge Ehrgeizige das Versprechen rechtfertigte, ob er die
    anmutende Ausrede fand, er sei sich so klein neben dem großen
    Namen vorgekommen, daß ihm sein eigener entschwinden mußte,
    oder ob er den Mut hatte zu gestehen, er hoffe auch noch einmal
    ein so großer Mann wie Virchow zu werden, der Herr Geheim-
    rat möge ihn darum nicht so geringschätzig behandeln. Einer
    dieser beiden Gedanken — oder vielleicht gleichzeitig beide —
    mag den jungen Mann bei seiner Vorstellung in Verwirrung
    gebracht haben.

    Aus höchst persönlichen Motiven muß ich es in der Schwebe
    lassen, ob eine ähnliche Deutung auch auf den nun anzuführenden
    Fall anwendbar ist. Auf dem internationalen Kongreß in Amsterdam
    1907 war die von mir vertretene Hysterielehre Gegenstand einer
    lebhaften Diskussion. Einer meiner energischesten Gegner soll sich
    in seiner Brandrede gegen mich wiederholt in der Weise ver-
    sprochen haben, daß er sich an meine Stelle setzte und in meinem

  • S.

    96

    Namen sprach. Er sagte z. B.: Breuer und ich haben bekanntlich
    nachgewiesen, während er nur beabsichtigen konnte zu sagen:
    Breuer und Freud. Der Name dieses Gegners zeigt nicht die
    leiseste Klangähnlichkeit mit dem meinigen. Wir werden durch
    dieses Beispiel wie durch viele andere Fälle von Namenvertauschung
    beim Versprechen daran gemahnt, daß das Versprechen jener
    Erleichterung, die ihm der Gleichklang gewährt, völlig entbehren
    und sich nur auf verdeckte inhaltliche Beziehungen gestützt durch-
    setzen kann.

    ln anderen und weit bedeutsameren Fällen ist es Selbstkritik,
    innerer Widerspruch gegen die eigene Äußerung, was zum Ver-
    sprechen, ja zum Ersatz des Intendierten durch seinen Gegensatz
    nötigt. Man merkt dann mit Erstaunen, wie der Wortlaut einer
    Beteuerung die Absicht derselben aufhebt, und wie der Sprech-
    fehler die innere Unaufrichtigkeit bloßgelegt hat1. Das Versprechen
    wird hier zu einem mimischen Ausdrucksmittel, freilich oftmals
    für den Ausdruck dessen, was man nicht sagen wollte, zu einem
    Mittel des Selbstverrats. So z. B. wenn ein Mann, der in seinen
    Beziehungen zum Weibe den sogenannten normalen Verkehr nicht
    bevorzugt, in ein Gespräch über ein für kokett erklärtes Mädchen
    mit den Worten einfällt: Im Umgang mit mir würde sie sich
    das Koëttieren schon abgewöhnen. Kein Zweifel, daß es nur
    das andere Wort koitieren sein kann, dessen Einwirkung auf
    das intendierte kokettieren solche Abänderung zuzuschreiben
    ist. Oder im folgenden Falle: „Wir haben einen Onkel, der schon
    seit Monaten sehr beleidigt ist, weil wir ihn nie besuchen. Den
    Umzug in eine neue Wohnung nehmen wir zum Anlaß, um nach
    langer Zeit einmal bei ihm zu erscheinen. Er freut sich anscheinend
    sehr mit uns und sagt beim Abschied so recht gefühlvoll: ‚Von
    nun an hoffe ich euch noch seltener zu sehen als bisher‘.“

    1) Durch solches Versprechen brandmarkt z. B. Anzengruber im „G’wissens-
    wurm“ den heuchlerischen Erbschleicher.

  • S.

    97

    Die zufällige Gunst des Sprachmaterials läßt oft Beispiele von
    Versprechen entstehen, denen die geradezu niederschmetternde
    Wirkung einer Enthüllung oder der volle komische Effekt eines
    Witzes zukommt.

    So in nachstehendem von Dr. Reitler beobachteten und mit-
    geteilten Falle:

    „Diesen neuen, reizenden Hut haben Sie wohl sich selbst auf-
    gepatzt?‘ sagte eine Dame in bewunderndem Tone zu einer
    anderen. — Die Fortsetzung des beabsichtigten Lobes mußte
    nunmehr unterbleiben; denn die im stillen geübte Kritik, der
    Hutaufputz sei eine ‚Patzerei‘, hatte sich denn doch viel zu
    deutlich in dem unliebsamen Versprechen geäußert, als daß irgend-
    welche Phrasen konventioneller Bewunderung noch glaubwürdig
    erschienen wären.“

    Milder, aber doch auch unzweideutig ist die Kritik in folgendem
    Beispiel:

    „Eine Dame machte bei einer Bekannten einen Besuch und
    wurde durch die wortreichen, weitschweifigen Erörterungen der
    Betreffenden sehr ungeduldig und müde. Endlich gelang es ihr,
    aufzubrechen, sich zu verabschieden, als sie, von der sie ins Vor-
    zimmer begleitenden Bekannten mit einem neuerlichen Wortschwall
    aufgehalten wurde und nun, schon im Weggehen begriffen, vor
    der Tür stehen und neuerdings zuhören mußte. Endlich unterbrach
    sie sie mit der Frage: ‚Sind Sie im Vorzimmer zu Hause?‘
    Erst an der erstaunten Miene bemerkte sie ihr Versprechen. Sie
    wollte, durch das lange Stehen im Vorzimmer ermüdet, das
    Gespräch mit der Frage: ‚Sind Sie Vormittag zu Hause?‘ ab-
    brechen und verriet so ihre Ungeduld über den neuerlichen Auf-
    enthalt.“

    Einer Mahnung zur Selbstbesinnung entspricht das nächste von
    Dr. Max Graf erlebte Beispiel:

    „In der Generalversammlung des Journalistenvereines ,Concordia‘
    hält ein junges, stets geldbedürftiges Mitglied eine heftige Opposi-

  • S.

    98

    tionsrede und sagt in seiner Erregung: ‚Die Herren Vorschuß-
    mitglieder‘ (anstatt Vorstands- oder Ausschußmitglieder). Die-
    selben haben das Recht, Darlehen zu bewilligen, und auch der
    junge Redner hat ein Darlehensgesuch eingebracht.“

    An dem Beispiel „Vorschwein“ haben wir gesehen, daß ein
    Versprechen leicht zustande kommt, wenn man sich bemüht hat,
    Schimpfworte zu unterdrücken. Man macht sich dann eben auf
    diesem Wege Luft:

    Ein Photograph, der sich vorgenommen hat, im Verkehr mit
    seinen ungeschickten Angestellten der Zoologie auszuweichen, sagt
    zu einem Lehrling, der eine große, ganz volle Schale ausgießen
    will und dabei natürlich die Hälfte auf den Boden schüttet: „Aber
    Mensch, schöpsen Sie doch zuerst etwas davon ab!“ Und bald
    darauf zu einer Gehilfin, die durch ihre Unvorsichtigkeit ein
    Dutzend wertvoller Platten gefährdet hat, im Fluß einer längeren
    Brandrede: „Aber sind Sie denn so hornverbrannt . . .“

    Das nachstehende Beispiel zeigt einen ernsthaften Fall von Selbst-
    verrat durch Versprechen. Einige Nebenumstände berechtigen seine
    vollständige Wiedergabe aus der Mitteilung von A. A. Brill im
    „Zentralbl. f. Psychoanalyse“, II. Jahrg.1.

    Eines Abends gingen Dr. Frink und ich spazieren und
    besprachen einige Angelegenheiten der New Yorker Psychoanaly-
    tischen Gesellschaft. Wir begegneten einem Kollegen, Herrn Dr. R.,
    den ich seit Jahren nicht gesehen hatte, und von dessen Privat-
    leben ich nichts wußte. — Wir freuten uns sehr, uns wieder zu
    treffen, und gingen auf meine Aufforderung in ein Kaffeehaus,
    wo wir uns zwei Stunden lang angeregt unterhielten. Er schien
    von mir Näheres zu wissen, denn nach der gewöhnlichen Begrüßung
    erkundigte er sich nach meinem kleinen Kinde und erklärte mir,
    daß er von Zeit zu Zeit über mich von einem gemeinsamen
    Freunde höre und sich für meine Tätigkeit interessiere, nachdem

    1) Im „Zentralbl. f. Psychoanalyse“ irrtümlicherweise E. Jones zugeschrieben.

  • S.

    99

    er darüber in den medizinischen Zeitschriften gelesen hatte. —
    Auf meine Frage, ob er verheiratet sei, gab er eine verneinende
    Auskunft und fügte hinzu: ‚Wozu soll ein Mensch wie ich
    heiraten ?‘“

    „Beim Verlassen des Kaffeehauses wandte er sich plötzlich an
    mich: ‚Ich möchte wissen, was Sie in folgendem Falle tun würden:
    Ich kenne eine Krankenpflegerin, die als Mitschuldige in einen
    Ehescheidungsprozeß verwickelt war. Die Ehefrau klagte ihren
    Mann auf Scheidung und bezeichnete die Pflegerin als Mitschul-
    dige und er bekam die Scheidung1.‘ — Ich unterbrach ihn, ‚Sie
    wollen sagen, sie bekam die Scheidung.‘ — Er verbesserte sofort:
    ‚Natürlich, sie bekam die Scheidung,‘ und erzählte weiter, daß die
    Pflegerin sich derart über den Prozeß und Skandal aufgeregt habe,
    daß sie zu trinken begann, schwer nervös wurde usw., und fragte
    mich um meinen Rat, wie er sie behandeln solle.“

    „Sobald ich den Fehler korrigiert hatte, bat ich ihn, ihn zu
    erklären, aber ich bekam die gewöhnlichen erstaunten Antworten:
    ob es nicht eines jeden Menschen gutes Recht sei, sich zu ver-
    sprechen, daß das nur ein Zufall sei, nichts dahinter zu suchen
    sei usw. Ich erwiderte, daß jedes Fehlsprechen begründet sein
    müsse, und daß ich versucht wäre zu glauben, daß er selbst der
    Held der Geschichte sei, wenn er mir nicht früher mitgeteilt
    hätte, daß er unvermählt sei, denn dann wäre das Versprechen
    durch den Wunsch erklärt, seine Frau und nicht er hätte den
    Prozeß verlieren sollen, damit er nicht (nach unserem Eherecht)
    Alimente zu zahlen brauche und in der Stadt New York wieder
    heiraten könne. Er lehnte meine Vermutung hartnäckig ab,
    bestärkte sie aber gleichzeitig durch eine übertriebene Affekt-
    reaktion, deutliche Zeichen von Erregung und danach Gelächter.
    Auf meinen Appell, die Wahrheit im Interesse der wissenschaft-

    1) „Nach unseren (amerikanischen) Gesetzen wird die Ehescheidung nur aus-
    gesprochen, wenn bewiesen wird, daß der eine Teil die Ehe gebrochen hat, und
    zwar wird die Scheidung nur dem betrogenen Teile bewilligt.“

  • S.

    100

    lichen Klarstellung zu sagen, bekam ich die Antwort: ‚Wenn Sie
    nicht eine Lüge hören wollen, müssen Sie an mein Junggesellen-
    tum glauben, und daher ist Ihre psychoanalytische Erklärung durch-
    aus falsch.‘ — Er fügte noch hinzu, daß solch ein Mensch, der
    jede Kleinigkeit beachte, direkt gefährlich sei. Plötzlich fiel ihm
    ein anderes Rendezvous ein, und er verabschiedete sich.

    Wir beide, Dr. Frink und ich, waren dennoch von meiner
    Auflösung seines Versprechens überzeugt, und ich beschloß, durch
    Erkundigung den Beweis oder Gegenbeweis zu erhalten. — Einige
    Tage später besuchte ich einen Nachbar, einen alten Freund des
    Dr. R., der mir vollinhaltlich meine Erklärung bestätigen konnte.
    Der Prozeß hatte vor wenigen Wochen stattgefunden und die
    Pflegerin war als Mitschuldige vorgeladen werden. — Dr. R. ist
    jetzt von der Richtigkeit der Freudschen Mechanismen fest
    überzeugt.

    Der Selbstverrat ist ebenso unzweifelhaft in folgendem von
    O. Rank mitgeteilten Falle:

    „Ein Vater, der keinerlei patriotisches Gefühl besitzt und seine
    Kinder auch von diesem ihm überflüssig erscheinenden Empfinden
    frei erziehen will, tadelt seine Söhne wegen ihrer Teilnahme an
    einer patriotischen Kundgebung und weist ihre Berufung auf das
    gleiche Verhalten des Onkels mit den Worten zurück: ‚Gerade
    dem sollt ihr nicht nacheifern; der ist ja ein Idiot.‘ Das über
    diesen ungewohnten Ton des Vaters erstaunte Gesicht der Kinder
    macht ihn aufmerksam, daß er sich versprochen habe, und ent-
    schuldigend bemerkt er: Ich wollte natürlich sagen: Patriot.“

    Als Selbstverrat wird auch von der Partnerin des Gesprächs ein
    Versprechen gedeutet, das J. Stärcke (l. c.) berichtet, und zu dem
    er eine treffende, wenn auch die Aufgabe der Deutung über-
    schreitende Bemerkung hinzufügt.

    „Eine Zahnärztin hatte mit ihrer Schwester verabredet, daß sie
    bei ihr einmal nachsehen würde, ob sie zwischen zwei Backen-
    zähnen wohl Kontakt hätte (d. h. ob die Backenzähne mit

  • S.

    101

    ihren Seitenflächen einander berühren, so daß keine Nahrungs-
    reste dazwischen bleiben können). Ihre Schwester beklagte sich
    jetzt darüber, daß sie auf diese Untersuchung so lange warten
    mußte, und sagte im Scherze: ‚Jetzt behandelt sie wohl eine
    Kollegin, aber ihre Schwester muß noch immer warten.‘ — Die
    Zahnärztin untersucht sie jetzt, findet wirklich ein kleines Loch
    in dem einen Backenzahn und sagt: ‚Ich dachte nicht, daß es so
    schlimm war; ich dachte, daß du nur kein Kontant
    hättest
    ... kein Kontakt hättest.‘ — ,Siehst du wohl,‘
    rief ihre Schwester lachend, ‚daß es nur wegen deiner Habsucht
    ist, daß du mich soviel länger warten läßt als deine zahlenden
    Patienten?!‘ “ —

    („Ich darf selbstverständlich meine eigenen Einfälle nicht den
    ihrigen hinzufügen oder daraus Schlüsse ziehen, aber beim
    Vernehmen dieser Versprechung ging mein Gedankengang sofort
    dahin, daß diese zwei lieben und geistreichen jungen Frauen
    unverheiratet sind und auch sehr wenig mit jungen Männern
    umgehen, und ich fragte mich selbst, ob sie mehr Kontakt mit
    jungen Leuten haben würden, wenn sie mehr Kontant hätten.“)

    Den Wert eines Selbstverrates hat auch nachstehendes, von
    Th. Reik (l. c.) mitgeteiltes Versprechen:

    „Ein junges Mädchen sollte einem ihr unsympathischen jungen
    Manne verlobt werden. Um die beiden jungen Leute einander
    näherzubringen, verabredeten deren Eltern eine Zusammenkunft,
    der auch Braut und Bräutigam in spe beiwohnten. Das junge
    Mädchen besaß Selbstüberwindung genug, ihren Freier, der sich
    sehr galant gegen sie benahm, ihre Abneigung nicht merken zu
    lassen. Doch auf die Frage ihrer Mutter, wie ihr der junge Mann
    gefiele, antwortete sie höflich: ‚Gut. Er ist sehr liebenswidrigl‘“

    Nicht minder aber ein anderes, das O. Rank als „witziges
    Versprechen“ beschreibt.

    Einer verheirateten Frau, die gern Anekdoten hört und von
    der man behauptet, daß sie auch außerehelichen Werbungen

  • S.

    102

    nicht abhold sei, wenn sie durch entsprechende Geschenke unter-
    stützt werden, erzählt ein junger Mann, der sich auch um ihre
    Gunst bewirbt, nicht ohne Absicht die folgende altbekannte
    Geschichte. Von zwei Geschäftsfreunden bemüht sich der eine
    um die Gunst der etwas spröden Frau seines Kompagnons;
    schließlich will sie ihm diese gegen ein Geschenk von tausend
    Gulden gewähren. Als nun ihr Mann verreisen will, borgt sich
    sein Kampagnen von ihm tausend Gulden aus und verspricht sie
    noch am nächsten Tage seiner Frau zurückzustellen. Natürlich
    gibt er dann diesen Betrag als vermeintlichen Liebeslohn der
    Frau, die sich schließlich noch entdeckt glaubt, als ihr zurück-
    gekehrter Mann die tausend Gulden verlangt und zum Schaden
    noch den Schimpf hat. — Als der junge Mann in der Erzählung
    dieser Geschichte bei der Stelle angelangt war, wo der Verführer
    zum Kompagnon sagt: ‚Ich werde das Geld morgen deiner Frau
    zurückgeben‘, unterbrach ihn seine Zuhörerin mit den viel-
    sagenden Worten: ‚Sagen Sie, haben Sie mir das nicht schon —
    zurückgegeben? Ah, pardon, ich wollte sagen — erzählt?‘
    — Sie könnte ihre Bereitwilligkeit, sich unter denselben Bedingungen
    hinzugeben, kaum deutlicher kundgeben, ohne sie direkt
    auszusprechen.
    “ (Internat‚ Zeitschr. f. Psychoanalyse, l, 1914.)

    Einen schönen Fall von solchem Selbstverrat mit harmlosem
    Ausgang berichtet V. Tausk unter dem Titel „Der Glauben der
    Väter“: „Da meine Braut Christin war“, erzählte Herr A., „und
    nicht zum Judentum übertreten wollte, mußte ich selbst vom
    Judentum zum Christentum übertreten, um heiraten zu können.
    Ich wechselte die Konfession nicht ohne inneren Widerstand, aber
    das Ziel schien mir den Konfessionswechsel zu rechtfertigen, und
    dies um so eher, als ich nur eine äußere Zugehörigkeit zum
    Judentum, keine religiöse Überzeugung, da ich eine solche nicht
    besaß, abzulegen hatte. Ich habe mich trotzdem später immer
    zum Judentum bekannt und wenige meiner Bekannten wissen,
    daß ich getauft bin. Aus dieser Ehe entstammen zwei Söhne, die

  • S.

    103

    christlich getauft wurden. Als die Knaben entsprechend heran-
    gewachsen waren, erfuhren sie von ihrer jüdischen Abstammung,
    damit sie sich nicht, durch antisemitische Einflüsse der Schule
    bestimmt, aus diesem überflüssigen Grunde gegen den Vater
    kehrten. — Vor einigen Jahren wohnte ich mit den Kindern,
    die damals die Volksschule besuchten, zur Sommerfrische in D.
    bei einer Lehrerfamilie. Als wir eines Tages mit unseren, übrigens
    freundlichen Wirtsleuten bei der Jause saßen, machte die Frau
    des Hauses, da sie von der jüdischen Herkunft ihrer Sommer-
    partei nichts ahnte, einige recht scharfe Ausfälle gegen die Juden.
    Ich hätte nun tapfer die Situation deklarieren sollen, um meinen
    Söhnen das Beispiel vom ‚Mut der Überzeugung‘ zu geben,
    fürchtete aber die unerquicklichen Auseinandersetzungen, die einem
    solchen Bekenntnis zu folgen pflegen. Außerdem bangte mir
    davor, die gute Unterkunft, die wir gefunden hatten, eventuell
    verlassen zu müssen und mir und meinen Kindern so die ohne-
    hin kurz bemessene Erholungszeit zu verderben, falls unsere
    Wirtsleute ihr Benehmen gegen uns, weil wir Juden waren, in
    unfreundlicher Weise verändern sollten. Da ich jedoch erwarten
    durfte, daß meine Knaben in freimütiger Weise und unbefangen
    die folgenschwere Wahrheit verraten würden, wenn sie noch
    länger dem Gespräche beiwohnten, wollte ich sie aus der Gesell-
    schaft entfernen, indem ich sie in den Garten schickte. ‚Geht in
    den Garten, Juden —,‘ sagte ich und korrigierte schnell:
    Jungen‘. Womit ich also durch eine Fehlleistung meinem ‚Mut
    der Überzeugung‘ zum Ausdruck verhalf. Die anderen hatten
    zwar aus diesem Versprechen keine Konsequenzen gezogen, weil
    sie ihm keine Bedeutung zumaßen, ich aber mußte die Lehre
    ziehen, daß der ‚Glauben der Väter‘ sich nicht ungestraft verleugnen
    läßt, wenn man ein Sohn ist und Söhne hat.
    “ (Internat. Zeitschr.
    f. Psychoanalyse, IV. 1916.

    Keineswegs harmlos wirkt folgender Fall von Versprechen, den
    ich nicht mitteilen würde, wenn ihn nicht der Gerichtsbeamte

  • S.

    104

    selbst während des Verhörs für diese Sammlung aufgezeichnet
    hätte:

    Ein des Einbruchs beschuldigter Volkswehrmann sagt aus: „Ich
    wurde seither aus dieser militärischen Diebsstellung noch nicht
    entlassen, gehöre also derzeit noch der Volkswehr an.“

    Erheiternd wirkt das Versprechen, wenn es als Mittel benützt
    wird, um während eines Widerspruches zu bestätigen, was dem
    Arzte in der psychoanalytischen Arbeit sehr willkommen sein
    mag. Bei einem meiner Patienten hatte ich einst einen Traum
    zu deuten, in welchem der Name Jauner vorkam. Der Träumer
    kannte eine Person dieses Namens, es ließ sich aber nicht finden,
    weshalb diese Person in den Zusammenhang des Traumes
    aufgenommen war, und darum wagte ich die Vermutung, es
    könne bloß wegen des Namens, der an den Schimpf Gauner
    anklinge, geschehen sein. Der Patient widersprach rasch und
    energisch, versprach sich aber dabei und bestätigte meine
    Vermutung, indem er sich der Ersetzung ein zweitesmal bediente.
    Seine Antwort lautete: „Das erscheint mir doch zu jewagt.“
    Als ich ihn auf das Versprechen aufmerksam machte, gab er
    meiner Deutung nach.

    Wenn im ernsthaften Wortstreit ein solches Versprechen,
    welches die Redeabsicht in ihr Gegenteil verkehrt, sich dem
    einen der beiden Streiter ereignet, so setzt es ihn sofort in Nach-
    teil gegen den anderen, der es selten versäumt, sich seiner
    verbesserten Position zu bedienen.

    Es wird dabei klar, daß die Menschen ganz allgemein dem
    Versprechen wie anderen Fehlleistungen dieselbe Deutung geben,
    wie ich sie in diesem Buche vertrete, auch wenn sie sich in der
    Theorie nicht für diese Auffassung einsetzen, und wenn sie für
    ihre eigene Person nicht geneigt sind, auf die mit der Duldung
    der Fehlleistungen verbundene Bequemlichkeit zu verzichten. Die
    Heiterkeit und der Hohn, die solches Fehlgehen der Rede im
    entscheidenden Moment mit Gewißheit hervorrufen, zeugen gegen

  • S.

    105

    die angeblich allgemein zugelassene Konvention, ein Versprechen
    sei ein Lapsus linguae und psychologisch bedeutungslos. Es war
    kein geringerer als der deutsche Reichskanzler Fürst Bülow,
    der durch solchen Einspruch die Situation zu retten versuchte,
    als ihm der Wortlaut seiner Verteidigungsrede für seinen
    Kaiser (November 1907) durch ein Versprechen ins Gegenteil
    umschlug.

    „Was nun die Gegenwart, die neue Zeit Kaiser Wilhelms II.,
    angeht, so kann ich nur wiederholen, was ich vor einem Jahre
    gesagt habe, daß es unbillig und ungerecht wäre, von
    einem Ring verantwortlicher Ratgeber um unseren
    Kaiser zu sprechen
    . . . (Lebhafte Zurufe: Unverantwortlicher),
    unverantwortlicher Ratgeber zu sprechen. Verzeihen Sie
    den Lapsus linguae.“ (Heiterkeit.)

    Indes, der Satz des Fürsten Bülow war durch die Häufung
    der Negationen einigermaßen undurchsichtig ausgefallen; die
    Sympathie für den Redner und die Rücksicht auf seine schwierige
    Stellung wirkten dahin, daß dies Versprechen nicht weiter gegen
    ihn ausgenützt wurde. Schlimmer erging es ein Jahr später an
    demselben Orte einem anderen, der zu einer rückhaltlosen
    Kundgebung an den Kaiser auffordern wollte und dabei durch
    ein böses Versprechen an andere in seiner loyalen Brust wohnende
    Gefühle gemahnt wurde:

    Lattmann (Deutschnational): Wir stellen uns bei der
    Frage der Adresse auf den Boden der Geschäftsordnung
    des Reichstages. Danach hat der Reichstag das Recht, eine solche
    Adresse an den Kaiser einzureichen. Wir glauben, daß der einheit-
    liche Gedanke und der Wunsch des deutschen Volkes dahin geht,
    eine einheitliche Kundgebung auch in dieser Angelegen-
    heit zu erreichen, und wenn wir das in einer Form tun können,
    die den monarchischen Gefühlen durchaus Rechnung trägt, so
    sollen wir das auch rückgratlos tun. (Stürmische Heiterkeit,
    die minutenlang anhält.) Meine Herren, es hieß nicht rückgrat-

  • S.

    106

    los, sondern rückhaltlos (Heiterkeit), und solche rückhaltlose
    Äußerung des Volkes, das wollen wir hoffen, nimmt auch unser
    Kaiser in dieser schweren Zeit entgegen.“

    Der „Vorwärts“ vom 12. November 1908 versäumte es nicht,
    die psychologische Bedeutung dieses Versprechens aufzuzeigen: „Nie
    ist wohl je in einem Parlament von einem Abgeordneten in unfrei-
    williger Selbstbezichtigung seine und der Parlamentsmehrheit
    Haltung gegenüber dem Monarchen so treffend gekennzeichnet
    worden, wie das dem Antisemiten Lattmann gelang, als er am
    zweiten Tage der Interpellation mit feierlichem Pathos in das
    Bekenntnis entgleiste, er und seine Freunde wollten dem Kaiser
    rückgratlos ihre Meinung sagen. — Stürmische Heiterkeit auf
    allen Seiten erstickte die weiteren Worte des Unglücklichen, der
    es noch für notwendig hielt, ausdrücklich entschuldigend zu
    stammeln, er meine eigentlich ,rückhaltlos‘.“

    Ich füge noch ein Beispiel an, in dem das Versprechen den
    gerade unheimlichen Charakter einer Prophezeiung bekam: Im
    Frühjahr 1923 erregte es in der internationalen Finanzwelt großes
    Aufsehen, daß der ganz junge Bankier X., von den „neuen
    Reichen“ in W. wohl einer der Neuesten, jedenfalls der Reichste
    und der an Jahren Jüngste, nach kurzem Majoritätskampfe in den
    Besitz der Aktienmajorität der ***Bank gelangte, was auch zur
    Folge hatte, daß in einer bemerkenswerten Generalversammlung
    die alten Leiter dieses Instituts, Finanzleute alten Schlages, nicht
    wiedergewählt wurden und der junge X. Präsident der Bank
    wurde. In der Abschiedsrede, die dann das Verwaltungsratmitglied
    Dr. Y. für den nicht wiedergewählten alten Präsidenten hielt, fiel
    manchem Zuhörer ein wiederholtes peinliches Versprechen des
    Redners auf. Es sprach immerfort vom dahinscheidenden
    (statt: dem ausscheidenden) Präsidenten. — Es ereignete sich dann,
    daß der nicht wiedergewählte alte Präsident einige Tage nach
    dieser Versammlung starb. Er hatte aber das Alter von 80 Jahren
    überschritten! (Storfer.)

  • S.

    107

    Ein schönes Beispiel von Versprechen, welches nicht so sehr
    den Verrat des Redners als die Orientierung des außer der Szene
    stehenden Hörers bezweckt, findet sich im Wallenstein (Piccolo-
    mini, I. Aufzug, 5. Auftritt) und zeigt uns, daß der Dichter,
    der sich hier dieses Mittels bedient, Mechanismus und Sinn des
    Versprechens wohl gekannt hat. Max Piccolomini hat in der vor-
    hergehenden Szene aufs Ieidenschaftlichste für den Herzog Partei
    genommen und dabei von den Segnungen des Friedens geschwärmt,
    die sich ihm auf seiner Reise enthüllt, während er die Tochter
    Wallensteins ins Lager begleitete. Er läßt seinen Vater und den
    Abgesandten des Hofes, Questenberg, in voller Bestürzung zurück.
    Und nun geht der fünfte Auftritt weiter:

    QUESTENBERG: O weh uns! Steht es so?
    Freund, und wir lassen ihn in diesem Wahn
    Dahingehen, rufen ihn nicht gleich
    Zurück, daß wir die Augen auf der Stelle
    Ihm öffnen?
    OCTAVIO (aus einem tiefen Nachdenken zu sich kommend):
    Mir hat er sie jetzt geöffnet,
    Und mehr erblick’ ich, als mich freut.
    QUESTENBERG: Was ist, Freund?
    OCTAVIO: Fluch über diese Reise!
    QUESTENBERG: Wieso? Was ist es?
    OCTAVIO: Kommen Sie! Ich muß
    Sogleich die unglückselige Spur verfolgen,
    Mit meinen Augen sehen — kommen Sie —
    (will ihn fortführen).
    QUESTENBERG: Was denn? Wohin?
    OCTAVIO (pressiert): Zu ihr!
    QUESTENBERG: Zu —
    OCTAVIO (korrigiert sich): Zum Herzog! Gehen wir! usw.

    Dies kleine Versprechen „zu ihr“ anstatt „zu ihm“ soll uns
    verraten, daß der Vater das Motiv der Parteinahme seines Sohnes
    durchschaut hat, während der Höfling klagt: „daß er in lauter
    Rätseln zu ihm rede“.

  • S.

    108

    Ein anderes Beispiel von poetischer Verwertung des Versprechens
    hat Otto Rank bei Shakespeare entdeckt. Ich zitiere Ranks
    Mitteilung nach dem Zentralblatt für Psychoanalyse, I, 3:

    „Ein dichterisch überaus fein motiviertes und technisch glänzend
    verwertetes Versprechen, welches wie das von Freud im
    „Wallenstein“ aufgezeigte verrät, daß die Dichter Mechanismus
    und Sinn dieser Fehlleistung wohl kennen und deren Verständnis
    auch beim Zuhörer voraussetzen, findet sich in Shakespeares
    Kaufmann von Venedig“ (III. Aufzug, 2. Szene). Die durch
    den Willen ihres Vaters an die Wahl eines Gatten durch das Los
    gefesselte Porzia ist bisher allen ihren unliebsamen Freiern durch das
    Glück des Zufalls entronnen. Da sie endlich in Bassanio den Bewerber
    gefunden hat, dem sie wirklich zugetan ist, muß sie fürchten, daß
    auch er das falsche Los ziehen werde. Sie möchte ihm nun am liebsten
    sagen, daß er auch in diesem Fall ihrer Liebe sicher sein könne, ist
    aber durch ihr Gelübde daran gehindert. In diesem inneren Zwiespalt
    läßt sie der Dichter zu dem willkommenen Freier sagen:

    Ich bitt’ Euch, wartet; ein, zwei Tage noch,
    Bevor Ihr wagt: denn wählt Ihr falsch, so büße
    Ich Euern Umgang ein; darum verzieht.
    Ein Etwas sagt mir (doch es ist nicht Liebe),
    Ich möcht’ Euch nicht verlieren; — — —
    — — — Ich könnt’ Euch leiten
    Zur rechten Wahl, dann bräch’ ich meinen Eid;
    Das will ich nicht; so könnt Ihr mich verfehlen.
    Doch wenn Ihr’s tut, macht Ihr mich sündlich wünschen,
    Ich hätt’ ihn nur gebrochen. O, der Augen,
    Die mich so übersehn und mich geteilt!
    Halb bin ich Euer, die andre Hälfte Euer
    Mein wollt ich sagen; doch wenn mein, dann Euer,
    Und so ganz Euer.
    (Nach der Übersetzung von Schlegel und Tieck.)

    Gerade das, was sie ihm also bloß leise andeuten möchte, weil
    sie es eigentlich ihm überhaupt verschweigen sollte, daß sie nämlich
    schon vor der Wahl ganz die Seine sei und ihn liebe, das läßt

  • S.

    109

    der Dichter mit bewundernswertem psychologischen Feingefühl in
    dem Versprechen sich offen durchdrängen und weiß durch diesen
    Kunstgriff die unerträgliche Ungewißheit des Liebenden sowie die
    gleichgestimmte Spannung des Zuhörers über den Ausgang der
    Wahl zu beruhigen.“

    Bei dem Interesse, welche solche Parteinahme der großen Dichter
    für unsere Auffassung des Versprechens verdient, halte ich es für
    gerechtfertigt, ein drittes solches Beispiel anzuführen, welches
    von E. Jones mitgeteilt worden ist1:

    „Otto Rank macht in einem unlängst publizierten Aufsatz
    auf ein schönes Beispiel aufmerksam, in welchem Shakespeare eine
    seiner Gestalten, die Porzia, ein ,Versprechen‘ begehen läßt, durch
    welches ihre geheimen Gedanken einem aufmerksamen Hörer
    offenbar werden. Ich habe die Absicht, ein ähnliches Beispiel aus
    ‚The Egoist‘, dem Meisterwerke des größten englischen Roman-
    schriftstellers, George Meredith, zu erzählen. Die Handlung des
    Romans ist kurz folgende: Sir Willoughby Patterne, ein von seinem
    Kreise sehr bewunderter Aristokrat, verlobt sich mit einer Miß
    Konstantia Durham. Sie entdeckt in ihm einen intensiven Egoismus,
    den er jedoch vor der Welt geschickt verbirgt, und geht, um der
    Heirat zu entrinnen, mit einem Kapitän namens Oxford durch.
    Einige Jahre später verlobt er sich mit einer Miß Klara Middleton.
    Der größte Teil des Buches ist nun mit der ausführlichen
    Beschreibung des Konfliktes erfüllt, der in Klara Middletons Seele
    entsteht, als sie in ihrem Verlobten denselben hervorstechenden
    Charakterzug entdeckt. Äußere Umstände und ihr Ehrbegriff fesseln
    sie an ihr gegebenes Wort, während ihr Bräutigam ihr immer
    verächtlicher erscheint. Teilweise macht sie Vernon Whitford,
    dessen Vetter und Sekretär (den sie zuletzt auch heiratet), zum
    Vertrauten. Er jedoch hält sich aus Loyalität Patterne gegenüber
    und aus anderen Motiven zurück.

    1) Ein Beispiel von literarischer Verwertung des Versprechens. Zentralbl. f. Psycho-
    analyse, I, 10.

  • S.

    110

    In einem Monolog über ihren Kummer spricht Klara folgender-
    maßen: ‚Wenn doch ein edler Mann mich sehen könnte, wie ich
    bin, und es nicht zu gering erachtete, mir zu helfen! Oh! befreit
    zu werden aus diesem Kerker von Dornen und Gestrüpp. Ich
    kann mir allein meinen Weg nicht bahnen. Ich bin ein Feigling.
    Ein Fingerzeig1 — ich glaube, er würde mich verändern. Zu einem
    Kameraden könnt’ ich fliehn, blutig zerrissen und umbraust von
    Verachtung und Geschrei . . . Konstantia begegnete einem Soldaten.
    Vielleicht betete sie, und ihr Gebet ward erhört. Sie tat nicht
    recht. Aber, oh, wie lieb’ ich sie darum. Sein Name war Harry
    Oxford . . . Sie schwankte nicht, sie riß die Ketten, sie ging offen
    zu dem andern über. Tapferes Mädchen wie denkst du über mich?
    Ich aber habe keinen Harry Whitford, ich bin allein.‘ — —

    Die plötzliche Erkenntnis, daß sie einen anderen Namen für
    Oxford gebraucht habe, traf sie wie ein Faustschlag und über-
    goß sie mit flammender Röte.

    Die Tatsache, daß die Namen beider Männer mit ‚ford‘ endigen,
    erleichtert das Verwechseln der beiden offensichtlich und würde von
    vielen als ein hinreichender Grund dafür angesehen werden. Der
    wahre tieferliegende Grund jedoch ist von dem Dichter klar aus-
    geführt.

    An einer anderen Stelle kommt dasselbe Versprechen wieder vor.
    Es folgt ihm jene spontane Unschlüssigkeit und jener plötzliche
    Wechsel des Themas, mit denen uns die Psychoanalyse und Jungs
    Werk über die Assoziationen vertraut machen, und die nur ein-
    treten, wenn ein halbbewußter Komplex berührt wird. Patterne
    sagt in patronisierendem Tone von Whitford: ‚Falscher Alarm!
    Der gute alte Vernon ist gar nicht imstande, etwas Ungewöhn-
    liches zu tun.‘ Klara antwortet: ‚Wenn aber nun Oxford
    Whitford . . . da — Ihre Schwäne kommen gerade den See

    1) Anmerkung des Übersetzers: Ich wollte ursprünglich das Orginal beckoning of
    a finger mit „leiser Wink“ übersetzen, bis mir klar wurde, daß ich durch Unter-
    schlagung des Wortes „Finger“ den Satz einer psychologischen Feinheit beraube.

  • S.

    111

    durchsegelnd; wie schön sie aussehen, wenn sie indigniert sind!
    Was ich Sie eben fragen wollte. Männer, die Zeugen einer offen-
    sichtlichen Bewunderung für jemand anderen sind, werden wohl
    natürlicherweise entmutigt?‘ Sir Willoughby traf eine plötzliche
    Erleuchtung, er richtete sich steif auf.

    Noch an einer anderen Stelle verrät Klara durch ein anderes
    Versprechen ihren geheimen Wunsch nach einer innigeren Ver-
    bindung mit Vernon Whitford. Zu einem Burschen sprechend, sagt
    sie: ‚Sage abends dem Mr. Vernon — sage abends dem Mr. Whit-
    ford . . . usw1.‘“

    Die hier vertretene Auffassung des Versprechens hält übrigens
    der Probe an dem Kleinsten stand. Ich habe wiederholt zeigen
    können, daß die geringfügigsten und naheliegendsten Fälle von
    Redeirrung ihren guten Sinn haben und die nämliche Lösung zu-
    lassen wie die auffälligeren Beispiele. Eine Patientin, die ganz gegen
    meinen Willen, aber mit starkem eigenen Vorsatz einen kurzen
    Ausflug nach Budapest unternimmt, rechtfertigt sich vor mir, sie
    gehe ja nur für drei Tage dahin, verspricht sich aber und sagt:
    nur für drei Wochen. Sie verrät, daß sie mir zum Trotze lieber
    drei Wochen als drei Tage in jener Gesellschaft bleiben will, die
    ich als unpassend für sie erachte. — Ich soll mich eines Abends
    entschuldigen, daß ich meine Frau nicht vom Theater abgeholt,
    und sage: Ich war zehn Minuten nach 10 Uhr beim Theater.
    Man korrigiert mich: Du willst sagen: vor 10 Uhr. Natürlich
    wollte ich vor 10 Uhr sagen. Nach 10 Uhr wäre ja keine Ent-
    schuldigung. Man hatte mir gesagt, auf dem Theaterzettel stehe:
    Ende vor 10 Uhr. Als ich beim Theater anlangte, fand ich das
    Vestibül verdunkelt und das Theater entleert. Die Vorstellung war
    eben früher zu Ende gewesen, und meine Frau hatte nicht auf

    1) Andere Beispiele von Versprechen, die nach des Dichters Absicht als sinnvoll,
    meist als Selbstverrat, aufgefaßt werden sollen, finden sich bei Shakespeare in
    Richard II. (II, 2), bei Schiller im Don Carlos (II, 8, Versprechen der Eboli). Es
    wäre gewiß ein leichtes, diese Liste zu vervollständigen.

  • S.

    112

    mich gewartet. Als ich auf die Uhr sah, fehlten noch fünf Minuten
    zu 10 Uhr. Ich nahm mir aber vor, meinen Fall zu Hause günstiger
    darzustellen und zu sagen, es hätten noch zehn Minuten zur zehnten
    Stunde gefehlt. Leider verdarb mir das Versprechen die Absicht
    und stellte meine Unaufrichtigkeit bloß, indem es mich selbst mehr
    bekennen ließ, als ich zu bekennen hatte.

    Man gelangt von hier aus zu jenen Redestörungen, die nicht
    mehr als Versprechen beschrieben werden, weil sie nicht das ein-
    zelne Wort, sondern Rhythmus und Ausführung der ganzen Rede
    beeinträchtigen, wie z. B. das Stammeln und Stottern der Verlegen-
    heit. Aber hier wie dort ist es der innere Konflikt, der uns durch
    die Störung der Rede verraten wird. Ich glaube wirklich nicht,
    daß jemand sich versprechen würde in der Audienz bei Seiner
    Majestät, in einer ernstgemeinten Liebeswerbung, in einer Ver-
    teidigungsrede um Ehre und Namen vor den Geschworenen, kurz
    in all den Fällen, in denen man ganz dabei ist, wie wir so
    bezeichnend sagen. Selbst bis in die Schätzung des Stils, den ein
    Autor schreibt, dürfen wir und sind wir gewöhnt, das Erklärungs-
    prinzip zu tragen, welches wir bei der Ableitung des einzelnen
    Sprechfehlers nicht entbehren können. Eine klare und unzweideutige
    Schreibweise belehrt uns, daß der Autor hier mit sich einig ist,
    und wo wir gezwungenen und gewundenen Ausdruck finden, der,
    wie so richtig gesagt wird, nach mehr als einem Scheine schielt,
    da können wir den Anteil eines nicht genugsam erledigten, kom-
    plizierenden Gedankens erkennen oder die erstickte Stimme der
    Selbstkritik des Autors heraushören1.

    Seit dem ersten Erscheinen dieses Buches haben fremdsprachige
    Freunde und Kollegen begonnen, dem Versprechen, das sie in den
    Ländern ihrer Zunge beobachten konnten, ihre Aufmerksamkeit

    1) Ce qu’on conçoit bien
    S’annonce clairement
    Et Ies mots pour le dire
    Arrivent aisément
    Boileau, Art poétique.

  • S.

    113

    zuzuwenden. Sie haben, wie zu erwarten stand, gefunden, daß die
    Gesetze der Fehlleistung vom Sprachmaterial unabhängig sind, und
    haben dieselben Deutungen vorgenommen, die hier an Beispielen
    von Deutsch redenden Personen erläutert wurden. Ich führe nur
    ein Beispiel anstatt ungezählt vieler an:

    Dr. A. A. Brill (New York) berichtet von sich: A friend descri-
    bed to me a nervous patient and wished to know whether I could
    benefit him. I remarked, I believe that in time I could remove all his
    symptoms by psycho-analysis because it is a durable case wishing
    to say „curable“!
    (A contribution to the Psychopathology of
    Everyday Life. Psychotherapy, Vol. III, Nr. 1, 1909.)

    Schließlich will ich für diejenigen Leser, die eine gewisse
    Anstrengung nicht scheuen und denen die Psychoanalyse nicht
    fremd ist, ein Beispiel anfügen, aus dem zu ersehen ist, in
    welche seelischen Tiefen auch die Verfolgung eines Versprechens
    führen kann.

    Dr. L. Jekels berichtet: „Am 11. Dezember werde ich von
    einer mir befreundeten Dame in polnischer Sprache etwas heraus-
    fordernd und übermütig mit den Worten apostrophiert: ‚Warum
    habe ich heute gesagt, daß ich zwölf Finger habe
    ?‘
    — Sie reproduziert nun über meine Aufforderung die Szene, in
    der die Bemerkung gefallen ist. Sie habe sich angeschickt, mit
    der Tochter auszugehen, um einen Besuch zu machen, habe ihre
    Tochter, eine in Remission befindliche Dementia praecox, auf-
    gefordert, die Bluse zu wechseln, was diese im anstoßenden
    Zimmer auch getan hat. Als die Tochter wieder eintrat, fand sie
    die Mutter mit dem Reinigen der Nägel beschäftigt; und da
    entwickelte sich folgendes Gespräch:

    Tochter: ‚Nun siehst du, ich bin schon fertig und du noch
    nicht!"

    Mutter: ‚Du hast ja aber auch nur eine Bluse und ich
    zwölf Nägel.‘

    Tochter: ,Was?‘

  • S.

    114

    Mutter (ungeduldig): ‚Nun natürlich, ich habe ja doch
    zwölf Finger
    .‘

    Die Frage eines die Erzählung mitanhörenden Kollegen, was
    ihr zu zwölf einfalle, wird ebenso prompt wie bestimmt
    beantwortet: ‚Zwölf ist für mich kein Datum (von
    Bedeutung
    ).‘

    Zu Finger wird unter einem leichten Zögern die Assoziation
    geliefert: ‚In der Familie meines Mannes kamen sechs Finger an
    den Füßen (im Polnischen gibt es keinen eigenen Ausdruck
    für Zehe) vor. Als unsere Kinder zur Welt kamen, wurden
    sie sofort darauf untersucht, ob sie nicht sechs Finger haben.‘
    Aus äußeren Ursachen wurde an diesem Abend die Analyse
    nicht fortgesetzt.

    Am nächsten Morgen, dem 12. Dezember, besucht mich die
    Dame und erzählt mir sichtlich erregt: ‚Denken Sie, was mir
    passiert ist; seit etwa 20 Jahren gratuliere ich dem alten Onkel
    meines Mannes zu seinem Geburtstag, der heute fällig ist, schreibe
    ihm immer am 11. einen Brief; und diesmal habe ich es ver-
    gessen und mußte soeben telegraphieren.‘

    Ich erinnere mich und die Dame, mit welcher Bestimmtheit sie
    am gestrigen Abend die Frage des Kollegen nach der Zahl Zwölf,
    die doch eigentlich sehr geeignet war, ihr den Geburtstag in
    Erinnerung zu bringen, abgetan hat mit der Bemerkung, der
    Zwölfte sei für sie kein Datum von Bedeutung.

    Nun gesteht sie, dieser Onkel ihres Mannes sei ein Erbonkel,
    auf dessen Erbschaft sie eigentlich immer gerechnet habe, ganz
    besonders in ihrer jetzigen bedrängten finanziellen Lage.

    So sei er, respektive sein Tod, ihr sofort in den Sinn gekommen, als
    ihr vor einigen Tagen eine Bekannte aus Karten prophezeit habe,
    sie werde viel Geld bekommen. Es schoß ihr sofort durch den
    Kopf, der Onkel sei der einzige, von dem sie, respektive ihre
    Kinder, Geld erhalten könnten; auch erinnerte sie sich bei dieser
    Szene augenblicklich, daß schon die Frau dieses Onkels versprochen

  • S.

    115

    habe, die Kinder der Erzählerin testamentarisch zu bedenken; nun
    ist sie aber ohne Testament gestorben; vielleicht hat sie ihrem
    Manne den bezüglichen Auftrag gegeben.

    Der Todeswunsch gegen den Onkel muß offenbar sehr intensiv
    aufgetreten sein, wenn sie der ihr prophezeienden Dame gesagt
    hat: ‚Sie verleiten die Leute dazu, andere umzubringen.‘

    In diesen vier oder fünf Tagen, die zwischen der Prophezeiung
    und dem Geburtstage des Onkels lagen, suchte sie stets in den
    im Wohnorte des Onkels erscheinenden Blättern die auf seinen
    Tod bezügliche Parte.

    Kein Wunder somit, daß bei so intensivem Wunsche nach
    seinem Tode, die Tatsache und das Datum seines demnächst zu
    feiernden Geburtstages so stark unterdrückt wurden, daß es nicht
    bloß zum Vergessen eines sonst seit Jahren ausgeführten Vorsatzes
    gekommen ist, sondern auch, daß sie nicht einmal durch die Frage
    des Kollegen ins Bewußtsein gebracht wurden.

    In dem Lapsus ‚zwölf Finger‘ hat sich nun die unterdrückte
    Zwölf durchgesetzt und hat die Fehlleistung mitbestimmt.

    Ich meine: mitbestimmt, denn die auffällige Assoziation zu
    ,Finger‘ läßt uns noch weitere Motivierungen ahnen; sie erklärt
    uns auch, warum der Zwölfer gerade diese so harmlose Redensart
    von den zehn Fingern verfälscht hat.

    Der Einfall lautete: ‚In der Familie meines Mannes kamen
    sechs Finger an den Füßen vor.‘ 

    Sechs Zehen sind Merkmale einer gewissen Abnormität, somit
    sechs Finger ein abnormes Kind und

    zwölf Finger zwei abnorme Kinder.

    Und tatsächlich traf dies in diesem Falle zu.

    Die in sehr jungem Alter verheiratete Frau hatte als einzige
    Erbschaft nach ihrem Manne, der stets als exzentrischer, abnormer
    Mensch galt und sich nach kurzer Ehe das Leben nahm, zwei
    Kinder, die wiederholt von Ärzten als väterlicherseits schwer
    hereditär belastet und abnorm bezeichnet wurden.

  • S.

    116

    Die ältere Tochter ist nach einem schweren katatonen Anfall
    vor kurzem nach Hause zurückgekehrt; bald nachher erkrankte
    auch die jüngere, in der Pubertät befindliche Tochter an einer
    schweren Neurose.

    Daß die Abnormität der Kinder hier zusammengestellt wird
    mit dem Sterbewunsche gegen den Onkel und sich mit diesem
    ungleich stärker unterdrückten und psychisch valenteren Element
    verdichtet, läßt uns als zweite Determinierung dieses Versprechens
    den Todeswunsch gegen die abnormen Kinder
    annehmen.

    Die prävalierende Bedeutung des Zwölfers als Sterbewunsch
    erhellt aber schon daraus, daß in der Vorstellung der Erzählenden
    der Geburtstag des Onkels sehr innig assoziiert war mit dem
    Todesbegriffe. Denn ihr Mann hat sich am 13. das Leben
    genommen, also einen Tag nach dem Geburtstag ebendesselben
    Onkels, dessen Frau zu der jungen Witwe gesagt hatte: ‚Gestern
    gratulierte er noch so herzlich und lieb, — und heute!‘

    Ferner will ich noch hinzufügen, daß die Dame auch genug
    reale Gründe hatte, den Kindern den Tod zu wünschen, von
    denen sie gar keine Freude erfuhr, sondern nur Kummer
    und arge Einschränkungen ihrer Selbstbestimmung zu leiden
    hatte, und denen zuliebe sie auf jegliches Liebesglück verzichtet
    hatte.

    Auch diesmal war sie außerordentlich bemüht, jeglichen Anlaß
    zur Verstimmung der Tochter, mit der sie zu Besuch ging, zu
    vermeiden; und man kann sich vorstellen, welchen Aufwand an
    Geduld und Selbstverleugnung einer Dementia praecox gegenüber
    dies verlangt, und wie viele Wutregungen dabei unterdrückt
    werden müssen.

    Demzufolge würde der Sinn der Fehlleistung lauten:

    Der Onkel soll sterben, diese abnormen Kinder sollen sterben
    (sozusagen diese ganze abnorme Familie), und ich soll das Geld
    von ihnen haben.

  • S.

    117

    Diese Fehlleistung besitzt nach meiner Ansicht mehrere Merk-
    male einer ungewöhnlichen Struktur, und zwar:

    a) Das Vorhandensein von zwei Determinanten, die in einem
    Element verdichtet sind.

    b) Das Vorhandensein der zwei Determinanten spiegelt sich in
    der Doppelung des Versprechens (zwölf Nägel, zwölf Finger).

    c) Auffällig ist, daß die eine Bedeutung des Zwölfers, nämlich
    die die Abnormität der Kinder ausdrückenden zwölf Finger, eine
    indirekte Darstellung repräsentiert; die psychische Abnormität
    wird hier durch die physische, das Oberste durch das Unterste
    dargestellt“1.

    1) Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, I, 1913.