S.
VII
VERGESSEN VON EINDRÜCKEN UND VORSÄTZEN
Wenn jemand geneigt sein sollte, den Stand unserer gegen-
wärtigen Kenntnis vom Seelenleben zu überschätzen, so brauchte
man ihn nur an die Gedächtnisfunktion zu mahnen, um ihn zur
Bescheidenheit zu zwingen. Keine psychologische Theorie hat es
noch vermocht, von dem fundamentalen Phänomen des Erinnerns
und Vergessens im Zusammenhange Rechenschaft zu geben; ja,
die vollständige Zergliederung dessen, was man tatsächlich beob-
achten kann, ist noch kaum in Angriff genommen. Vielleicht ist
uns heute das Vergessen rätselhafter geworden als das Erinnern,
seitdem uns das Studium des Traumes und pathologischer
Ereignisse gelehrt hat, daß auch das plötzlich wieder
Bewußtsein auftauchen kann, was wir für längst vergessen
geschätzt haben.
Wir sind allerdings im Besitze einiger weniger Gesichtspunkte,
für welche wir allgemeine Anerkennung erwarten. Wir nehmen
an, daß das Vergessen ein spontaner Vorgang ist, dem man
einen gewissen zeitlichen Ablauf zuschreiben kann. Wir heben
hervor, daß beim Vergessen eine gewisse Auswahl unter den
dargebotenen Eindrücken stattfindet und ebenso unter den
Einzelheiten eines jeden Eindrucks oder Erlebnisses. Wir kennen
einige der Bedingungen für die Haltbarkeit im Gedächtnis und
für die Erweckbarkeit dessen, was sonst vergessen würde.
S.
VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
149
Bei unzähligen Anlässen im täglichen Leben können wir aber
bemerken, wie unvollständig und unbefriedigend unsere Er-
kenntnis ist. Man höre zu, wie zwei Personen, die gemeinsam
äußere Eindrücke empfangen, Z. B. eine Reise miteinander
gemacht haben, eine Zeitlang später ihre Erinnerungen aus-
tauschen. Was dem einen fest im Gedächtnis geblieben ist, das
hat der andere oft vergessen, als ob es nicht geschehen wäre,
und zwar ohne daß man ein Recht zur Behauptung hätte,
der Eindruck sei für den einen psychisch bedeutsamer gewesen
als für den anderen. Eine ganze Anzahl der die Auswahl fürs
Gedächtnis bestimmenden Momente entzieht sich offenbar noch
unserer Kenntnis.
In der Absicht, zur Kenntnis der Bedingungen des Vergessens
einen kleinen Beitrag zu liefern, pflege ich die Fälle, in denen
mir das Vergessen selbst widerfährt, einer psychologischen Analyse
zu unterziehen. Ich beschäftige mich in der Regel nur mit einer
gewissen Gruppe dieser Fälle, mit jenen nämlich, in denen das
Vergessen mich in Erstaunen setzt, weil ich nach meiner
Erwartung das Betreffende wissen sollte. Ich will noch bemerken,
daß ich zur Vergeßlichkeit im allgemeinen (für Erlebtes, nicht
für Gelerntes!) nicht neige, und daß ich durch eine kurze Periode
meiner Jugend auch außergewöhnlicher Gedächtnisleistungen nicht.
unfähig war. In meiner Schulknabenzeit war es mir selbstver-
ständlich, die Seite des Buches, die ich gelesen hatte, auswendig
hersagen zu können, und kurz vor der Universität war ich
imstande, populäre Vorträge wissenschaftlichen Inhalts unmittelbar
nachher fast wortgetreu niederzuschreiben. In der Spannung vor
dem letzten medizinischen Rigorosum muß ich noch Gebrauch
von dem Reste dieser Fähigkeit gemacht haben, denn ich
gab in einigen Gegenständen den Prüfern wie automatisch
Antworten, die sich getreu mit dem Texte des Lehrbuches
deckten, welchen ich doch nur einmal in der größten Hast
durchflogen hatte.
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
150
Die Verfügung über den Gedächtnisschatz ist seither bei mir immer
schlechter geworden, doch habe ich mich bis in die letzte Zeit.
hinein überzeugt, daß ich mit Hilfe eines Kunstgriffes weit mehr
erinnern kann, als ich mir sonst zutraue. Wenn z. B. ein Patient
in der Sprechstunde sich darauf beruft, daß ich ihn schon einmal
gesehen habe, und ich mich weder an die Tatsache noch an den
Zeitpunkt erinnern kann, so helfe ich mir, indem ich rate, das
heißt mir rasch eine Zahl von Jahren, von der Gegenwart an
gerechnet, einfallen lasse. Wo Aufschreibungen oder die sichere
Angabe des Patienten eine Kontrolle meines Einfalls ermöglichen,
da zeigt es sich, daß ich selten um mehr als ein Halbjahr bei
über zehn Jahren geirrt habe'. Ähnlich, wenn ich einen entfernteren
Bekannten treffe, den ich aus Höflichkeit nach seinen kleinen
Kindern frage. Erzählt er von den Fortschritten derselben, so
suche ich mir einfallen zu lassen, wie alt das Kind jetzt ist,
kontrolliere durch die Auskunft des Vaters und gehe höchstens
um einen Monat, bei älteren Kindern um ein Vierteljahr fehl,
obwohl ich nicht angeben kann, welche Anhaltspunkte ich für
diese Schätzung hatte. Ich bin zuletzt so kühn geworden, daß ich
meine Schätzung immer spontan vorbringe, und laufe dabei nicht
Gefahr, den Vater durch die Bloßstellung meiner Unwissenheit
über seinen Spröẞling zu kränken. Ich erweitere so mein bewußtes
Erinnern durch Anrufen meines jedenfalls weit reichhaltigeren
unbewußten Gedächtnisses.
Ich werde also über auffällige Beispiele von Vergessen,
die ich zumeist an mir selbst beobachtet, berichten. Ich unter-
scheide Vergessen von Eindrücken und Erlebnissen, also von
Wissen, und Vergessen von Vorsätzen, also Unterlassungen. Das
einförmige Ergebnis der ganzen Reihe von Beobachtungen kann
ich voranstellen: In allen Fällen erwies sich das Ver-
gessen als begründet durch ein Unlust motiv.
1) Gewöhnlich pflegen dann im Laufe der Besprechung die Einzelheiten des
damaligen ersten Besuches bewußt aufzutauchen.
S.
VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
151
A) VERGESSEN VON EINDRÜCKEN UND KENNTNISSEN
1) In einem Sommer gab mir meine Frau einen an sich
harmlosen Anlaß zu heftigem Ärger. Wir saßen an der Table
d'hôte einem Herrn aus Wien gegenüber, den ich kannte und
der sich wohl auch an mich zu erinnern wußte. Ich hatte aber
meine Gründe, die Bekanntschaft nicht zu erneuern. Meine Frau,
die nur den ansehnlichen Namen ihres Gegenüber gehört hatte,
verriet zu sehr, daß sie seinem Gespräch mit den Nachbarn
zuhörte, denn sie wandte sich von Zeit zu Zeit an mich mit
Fragen, die den dort gesponnenen Faden aufnahmen. Ich wurde
ungeduldig und endlich gereizt. Wenige Wochen später führte
ich bei einer Verwandten Klage über dieses Verhalten meiner
Frau. Ich war aber nicht imstande, auch nur ein Wort von der
Unterhaltung jenes Herrn zu erinnern. Da ich sonst eher nach-
tragend bin und keine Einzelheit eines Vorfalles, der mich
geärgert hat, vergessen kann, ist meine Amnesie in diesem Falle
wohl durch Rücksichten auf die Person der Ehefrau motiviert.
Ähnlich erging es mir erst vor kurzem wieder. Ich wollte mich
gegen einen intim Bekannten über eine Äußerung meiner Fraul
lustig machen, die erst vor wenigen Stunden gefallen war, fand
mich aber in diesem Vorsatz durch den bemerkenswerten
Umstand gehindert, daß ich die betreffende Äußerung spurlos
vergessen hatte.
Ich mußte erst meine Frau bitten, mich an
dieselbe zu erinnern. Es ist leicht zu verstehen, daß dies mein
Vergessen analog zu fassen ist der typischen Urteilsstörung,
welcher wir unterliegen, wenn es sich um unsere nächsten
Angehörigen handelt.
2) Ich hatte es übernommen, einer fremd in Wien ange-
kommenen Dame eine kleine eiserne Handkassette zur Auf-
bewahrung ihrer Dokumente und Gelder zu besorgen. Als ich
mich dazu erbot, schwebte mir mit ungewöhnlicher visueller
Lebhaftigkeit das Bild einer Auslage in der Inneren Stadt vor, in
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
152
welcher ich solche Kassen gesehen haben mußte. Ich konnte mich
zwar an den Namen der Straße nicht erinnern, fühlte mich aber
sicher, daß ich den Laden auf einem Spaziergang durch die
Stadt auffinden werde, denn meine Erinnerung sagte mir, daß
ich unzähligemal an ihm vorübergegangen sei. Zu meinem Ärger
gelang es mir aber nicht, diese Auslage mit den Kassetten auf-
zufinden, obwohl ich die Innere Stadt nach allen Richtungen
durchstreifte. Es blieb mir nichts anderes übrig, meinte ich, als
mir aus einem Adressenkalender die Kassenfabrikanten herauszu-
suchen, um dann auf einem zweiten Rundgange die gesuchte
Auslage zu identifizieren. Es bedurfte aber nicht so viel; unter
den im Kalender angezeigten Adressen befand sich eine, die sich
mir sofort als die vergessene enthüllte. Es war richtig, daß ich
ungezählte Male an dem Auslagefenster vorübergegangen war,
jedesmal nämlich, wenn ich die Familie M. besucht hatte, die
seit langen Jahren in dem nämlichen Hause wohnt. Seitdem
dieser intime Verkehr einer völligen Entfremdung gewichen war,
pflegte ich, ohne mir von den Gründen Rechenschaft zu geben,
auch die Gegend und das Haus zu meiden. Auf jenem Spazier-
gang durch die Stadt hatte ich, als ich die Kassetten in der
Auslage suchte, jede Straße in der Umgebung begangen, dieser
einen aber war ich, als ob ein Verbot darauf läge, ausgewichen.
Das Unlustmotiv, welches in diesem Falle meine Unorientiertheit
verschuldete, ist greifbar. Der Mechanismus des Vergessens ist
aber nicht mehr so einfach wie im vorigen Beispiel. Meine
Abneigung gilt natürlich nicht dem Kassenfabrikanten, sondern
einem anderen, von dem ich nichts wissen will, und überträgt
sich von diesem anderen auf die Gelegenheit, wo sie das Vergessen
zustande bringt. Ganz ähnlich hatte im Falle Burckhard der
Groll gegen den einen den Schreibfehler im Namen hervor-
gebracht, wo es sich um den anderen handelte. Was hier die
Namensgleichheit leistete, die Verknüpfung zwischen zwei im
Wesen verschiedenen Gedankenkreisen herzustellen, das konnte
S.
VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
153
im Beispiel von dem Auslagefenster die Kontiguität im Raume,
die untrennbare Nachbarschaft, ersetzen. Übrigens war dieser
letztere Fall fester gefügt; es fand sich noch eine zweite inhaltliche
Verknüpfung vor, denn unter den Gründen der Entfremdung
mit der im Hause wohnenden Familie hatte das Geld eine
Rolle gespielt.
3) Ich werde von dem Bureau B. & R. bestellt, einen ihrer
Beamten ärztlich zu besuchen. Auf dem Wege zu dessen Wohnung.
beschäftigt mich die Idee, ich müßte schon wiederholt in dem
Hause gewesen sein, in welchem sich die Firma befindet. Es ist
mir, als ob mir die Tafel derselben in einem niedrigen Stock-
werk aufgefallen wäre, während ich in einem höheren einen
ärztlichen Besuch zu machen hatte. Ich kann mich aber weder
daran erinnern, welches dieses Haus ist, noch wen ich dort
besucht habe. Obwohl die ganze Angelegenheit gleichgültig und
bedeutungslos ist, beschäftige ich mich doch mit ihr und erfahre
endlich auf dem gewöhnlichen Umweg, indem ich meine Ein-
fälle dazu sammle, daß sich einen Stock über den Lokalitäten
der Firma B. & R. die Pension Fischer befindet, in welcher
ich häufig Patienten besucht habe. Ich kenne jetzt auch das
Haus, welches die Bureaus und die Pension beherbergt. Rätselhaft
ist mir noch, welches Motiv bei diesem Vergessen im Spiele
war. Ich finde nichts für die Erinnerung Anstößiges an der
Firma selbst oder an Pension Fischer oder an den Patienten, die
dort wohnten. Ich vermute auch, daß es sich um nichts sehr
Peinliches handeln kann; sonst wäre es mir kaum gelungen, mich
des Vergessenen auf einem Umweg wieder bemächtigen, ohne,
Es
wie im vorigen Beispiel, äußere Hilfsmittel heranzuziehen.
fällt mir endlich ein, daß mich eben vorhin, als ich den Weg.
zu dem neuen Patienten antrat, ein Herr auf der Straße gegrüßt
hat, den ich Mühe hatte zu erkennen. Ich hatte diesen Mann.
vor Monaten in einem anscheinend schweren Zustand gesehen
und die Diagnose der progressiven Paralyse über ihn verhängt,
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
154
dann aber gehört, daß er hergestellt sei, so daß mein Urteil
unrichtig gewesen wäre. Wenn nicht etwa hier eine der Remis-
sionen vorliegt, die sich auch bei Dementia paralytica finden, so
daß meine Diagnose doch noch gerechtfertigt wäre! Von dieser
Begegnung ging der Einfluß aus, der mich an die Nachbarschaft
der Bureaus von B. & R. vergessen ließ, und mein Interesse, die
Lösung des Vergessenen zu finden, war von diesem Fall strittiger
Diagnostik her übertragen. Die assoziative Verknüpfung aber wurde
bei geringem inneren Zusammenhang der wider Erwarten
Genesene war auch Beamter eines großen Bureaus, welches mir
Kranke zuzuweisen pflegte - durch eine Namensgleichheit
besorgt. Der Arzt, mit welchem gemeinsam ich den fraglichen
Paralytiker gesehen hatte, hieß auch Fischer, wie die in dem
Hause befindliche, vom Vergessen betroffene Pension.
4) Ein Ding verlegen heißt ja nichts anderes als vergessen,
wohin man es gelegt hat, und wie die meisten mit Schriften
und Büchern hantierenden Personen bin ich auf meinem Schreib-
tisch wohl orientiert und weiß das Gesuchte mit einem Griffe
hervorzuholen. Was anderen als Unordnung erscheint, ist für
mich historisch gewordene Ordnung. Warum habe ich aber
unlängst einen Bücherkatalog, der mir zugeschickt wurde, so
verlegt, daß er unauffindbar geblieben ist? Ich hatte doch die
Absicht, ein Buch, das ich darin angezeigt fand, „Über die Sprache",
zu bestellen, weil es von einem Autor herrührt, dessen geistreich
belebten Stil ich liebe, dessen Einsicht in der Psychologie und
dessen Kenntnisse in der Kulturhistorie ich zu schätzen weiß. Ich
meine, gerade darum habe ich den Katalog verlegt. Ich pflege
nämlich Bücher dieses Autors zur Aufklärung unter meinen
Bekannten zu verleihen, und vor wenigen Tagen hat mir jemand
bei der Rückstellung gesagt: „Der Stil erinnert mich ganz an
den Ihrigen, und auch die Art zu denken ist dieselbe." Der
Redner wußte nicht, an was er mit dieser Bemerkung rührte.
Vor Jahren, als ich noch jünger und anschlußbedürftiger war,
S.
VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
155
hat mir ungefähr das Nämliche ein älterer Kollege gesagt, dem
ich die Schriften eines bekannten medizinischen Autors ange-
priesen hatte.,,Ganz Ihr Stil und Ihre Art." So beeinflußt hatte
ich diesem Autor einen um näheren Verkehr werbenden Brief
geschrieben, wurde aber durch eine kühle Antwort in meine
Schranken zurückgewiesen. Vielleicht verbergen sich außerdem
noch frühere abschreckende Erfahrungen hinter dieser letzten,
denn ich habe den verlegten Katalog nicht wiedergefunden und
bin durch dieses Vorzeichen wirklich abgehalten worden, das
angezeigte Buch zu bestellen, obwohl ein wirkliches Hindernis
durch das Verschwinden des Katalogs nicht geschaffen worden.
ist. Ich habe ja die Namen des Buches und des Autors im
Gedächtnis behalten'.
5) Ein anderer Fall von Verlegen verdient wegen der
Bedingungen, unter denen das Verlegte wiedergefunden wurde,
unser Interesse. Ein jüngerer Mann erzählt mir: „Es gab vor
einigen Jahren Mißverständnisse in meiner Ehe, ich fand meine
Frau zu kühl, und obwohl ich ihre vortrefflichen Eigenschaften
gern anerkannte, lebten wir ohne Zärtlichkeit nebeneinander.
Eines Tages brachte sie mir von einem Spaziergang ein Buch
mit, das sie gekauft hatte, weil es mich interessieren dürfte. Ich
dankte für dieses Zeichen von Aufmerksamkeit, versprach das
Buch zu lesen, legte es mir zurecht und fand es nicht wieder.
Monate vergingen so, in denen ich mich gelegentlich an dies
verschollene Buch erinnerte und es auch vergeblich aufzufinden
versuchte. Etwa ein halbes Jahr später erkrankte meine, getrennt
von uns wohnende, geliebte Mutter. Meine Frau verließ das
Haus, um ihre Schwiegermutter zu pflegen. Der Zustand der
Kranken wurde ernst und gab meiner Frau Gelegenheit, sich von
ihren besten Seiten zu zeigen. Eines Abends komme ich begeistert
von der Leistung meiner Frau und dankerfüllt gegen sie nach
1) Für vielerlei Zufälligkeiten, die man seit Th. Vischer der "Tücke des
Objekts" zuschreibt, möchte ich ähnliche Erklärungen vorschlagen.
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
156
Hause. Ich trete zu meinem Schreibtisch, öffne ohne bestimmte
Absicht, aber wie mit somnambuler Sicherheit, eine bestimmte Lade
desselben und zu oberst in ihr finde ich das so lange vermiẞte,
das verlegte Buch."
Einen Fall von Verlegen, der in dem letzten Charakter mit
diesem zusammentrifft, in der merkwürdigen Sicherheit des
Wiederfindens, wenn das Motiv des Verlegens erloschen ist,
erzählt J. Stärcke (l. c.).
6) Ein junges Mädchen hatte einen Lappen, aus welchem sie
einen Kragen anfertigen wollte, im Zuschneiden verdorben. Nun
mußte die Näherin kommen und versuchen, es noch zurechtzu-
bringen. Als die Näherin gekommen war und das Mädchen den
zerschnittenen Kragen aus der Schublade, in die sie ihn gelegt
zu haben glaubte, zum Vorschein holen wollte, konnte sie ihn
nicht finden. Sie warf das Unterste zu oberst, aber sie fand ihn
nicht. Als sie nun im Zorne sich setzte und sich abfragte, warum
er plötzlich verschwunden war und ob sie ihn vielleicht nicht
finden wollte, überlegte sie, daß sie sich natürlich vor der
Näherin schämte, weil sie etwas so Einfaches wie einen
Kragen doch noch verdorben hatte. Als sie das bedacht hatte,
stand sie auf, ging auf einen anderen Schrank zu und brachte
daraus beim ersten Griff den zerschnittenen Kragen zum
Vorschein."
7) Das nachstehende Beispiel von „Verlegen" entspricht einem
Typus, der jedem Psychoanalytiker bekannt geworden ist. Ich
darf angeben, der Patient, der dieses Verlegen produzierte, hat
den Schlüssel dazu selbst gefunden:
,,Ein in psychoanalytischer Behandlung stehender Patient, bei
dem die sommerliche Unterbrechung der Kur in eine Periode
des Widerstandes und schlechten Befindens fällt, legt abends beim
Entkleiden seinen Schlüsselbund, wie er meint, auf den gewohnten
Platz. Dann erinnert er sich, daß er für die Abreise am nächsten
Tag, dem letzten der Kur, an dem auch das Honorar fällig
S.
VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
157
wird, noch einige Gegenstände aus dem Schreibtisch nehmen
will, wo er auch das Geld verwahrt hat. Aber die Schlüssel
sind verschwunden. Er beginnt seine kleine Wohnung syste-
matisch, aber in steigender Erregung abzusuchen
Erfolg. Da er das,Verlegen der Schlüssel als Symptomhandlung,
also als beabsichtigt, erkennt, weckt er seinen Diener, um mit
Hilfe einer,unbefangenen Person weiterzusuchen. Nach einer
weiteren Stunde gibt er das Suchen auf und fürchtet, daß er
die Schlüssel verloren habe. Am nächsten Morgen bestellt er
beim Fabrikanten der Schreibtischkasse neue Schlüssel, die in
aller Eile angefertigt werden. Zwei Bekannte, die ihn im Wagen
nach Hause begleitet haben, wollen sich erinnern, etwas auf den
Boden klirren gehört zu haben, als er aus dem Wagen stieg. Er
ist überzeugt, daß ihm die Schlüssel aus der Tasche gefallen
sind. Abends präsentierte ihm der Diener triumphierend die
Schlüssel. Sie lagen zwischen einem dicken Buche und einer
dünnen Broschüre (einer Arbeit eines meiner Schüler), die er
zur Lektüre für die Ferien mitnehmen wollte, so geschickt hin-
gelegt, daß niemand sie dort vermutet hätte. Es war ihm dann
unmöglich, die Lage der Schlüssel so unsichtbar nachzuahmen.
Die unbewußte Geschicklichkeit, mit der ein Gegenstand infolge
von geheimen, aber starken Motiven verlegt wird, erinnert ganz
an die somnambule Sicherheit". Das Motiv war natürlich
Unmut über die Unterbrechung der Kur und die geheime
Wut, bei so schlechtem Befinden ein hohes Honorar zahlen zu
müssen."
ohne
8) Ein Mann, erzählt A. A. Brill, wurde von seiner Frau
gedrängt, an einer gesellschaftlichen Veranstaltung teilzunehmen,
die ihm im Grunde sehr gleichgültig war. Er gab ihren Bitten
endlich nach und begann seinen Festanzug aus dem Koffer zu
nehmen, unterbrach sich aber darin und beschloß, sich zuerst zu
rasieren. Als er damit fertig geworden war, kehrte.
Koffer zurück, fand ihn aber zugeklappt, und der Schlüssel
er zum
war
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
158
nicht aufzufinden. Ein Schlosser war nicht aufzutreiben, da es
Sonntag abend war, und so mußten die beiden sich in der
Gesellschaft entschuldigen lassen. Als der Koffer am nächsten
Morgen geöffnet wurde, fand sich der Schlüssel drinnen. Der
Mann hatte ihn in der Zerstreutheit in den Koffer fallen lassen.
und diesen ins Schloß geworfen. Er gab mir zwar die Ver-
sicherung, daß er ganz ohne Wissen und Absicht so getan
habe, aber wir wissen, daß er nicht in die Gesellschaft gehen
wollte. Das Verlegen des Schlüssels ermangelte also nicht eines
Motivs.
E. Jones beobachtete an sich selbst, daß er jedesmal die
Pfeife zu verlegen pflegte, nachdem er zuviel geraucht hatte und
sich darum unwohl fühlte. Die Pfeife fand sich dann an allen
möglichen Stellen, wo sie nicht hingehörte und wo sie für
gewöhnlich nicht aufbewahrt wurde.
9) Einen harmlosen Fall mit eingestandener Motivierung
berichtet Dora Müller:
Fräulein Erna A. erzählt zwei Tage vor Weihnachten:
,Denken Sie, gestern abend nahm ich aus meinem Pfeffer-
kuchenpaket und aß; ich denke dabei, daß ich
Gesellschafterin ihrer Mutter), wenn sie mir
komme, davon anbieten müsse; ich hatte keine
nahm mir aber trotzdem vor, es zu tun. Wie sie nachher kam
und ich nach meinem Tischchen hin die Hand ausstreckte, um
das Paket zu nehmen, fand ich es dort nicht. Ich suchte danach
und fand es eingeschlossen in meinem Schranke. Da hatte ich.
das Paket, ohne es zu wissen, hineingestellt." Eine Analyse war
überflüssig, die Erzählerin war sich selbst über den Zusammenhang
klar. Die eben verdrängte Regung, das Gebäck für sich allein.
behalten zu wollen, war gleichwohl in automatischer Handlung
durchgedrungen, um freilich in diesem Falle durch die nach-
folgende bewußte Handlung wieder rückgängig gemacht zu werden.
(Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, III, 1915.)
Fräulein S. (der
Gutenacht sagen
rechte Lust dazu,
S.
VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
159
10) H. Sachs schildert, wie er sich einmal durch ein solches
Verlegen der Verpflichtung zu arbeiten entzogen hat: „Vergangenen
Sonntag nachmittag schwankte ich eine Weile, ob ich arbeiten
oder einen Spaziergang mit daranschließendem Besuche machen
solle, entschloß mich aber nach einigem Kampfe für das erstere.
Nach etwa einer Stunde bemerkte ich, daß ich mit meinem
Papiervorrat zu Ende sei. Ich wußte, daß ich irgendwo in einer
Lade schon seit Jahren ein Bündel Papier aufbewahrt habe,
suchte aber danach vergeblich in meinem Schreibtisch und an
anderen Stellen, wo ich es zu finden vermutete, obgleich ich mir
große Mühe gab und in allen möglichen alten Büchern,
Broschüren, Briefschaften u. dgl. herumwühlte. So sah ich mich
doch genötigt, die Arbeit einzustellen und fortzugehen. Als ich
abends nach Hause kam, setzte ich mich auf das Sofa und sah
in Gedanken, halb abwesend auf den gegenüberstehenden Bücher-
schrank. Da fiel mir eine Lade in die Augen und ich erinnerte,
daß ich ihren Inhalt schon lange nicht durchgemustert habe. Ich
ging also hin und öffnete sie. Zu oberst lag eine Ledermappe
und in dieser unbeschriebenes Papier. Aber erst als ich es heraus-
genommen hatte und im Begriffe stand, es in der Schreibtisch-
lade zu verwahren, fiel mir ein, daß dies ja dasselbe Papier sei,
das ich nachmittags vergeblich gesucht hatte. Ich muß hiezu noch
bemerken, daß ich, obgleich sonst nicht sparsam, mit Papier sehr
vorsichtig umgehe und jedes verwendbare Restchen aufhebe. Diese
von einem Triebe gespeiste Gewohnheit war es offenbar, die mich
zur sofortigen Korrektur des Vergessens veranlaßte, sobald das
aktuelle Motiv dafür verschwunden war."
Wenn man die Fälle von Verlegen übersieht, wird es wirklich
schwer anzunehmen, daß ein Verlegen jemals anders als infolge
einer unbewußten Absicht erfolgt.
11) Im Sommer des Jahres 1901 erklärte ich einmal einem
Freunde, mit dem ich damals in regem Gedankenaustausch über
wissenschaftliche Fragen stand: Diese neurotischen Probleme sind
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
160
nur dann zu lösen, wenn wir uns ganz und voll auf den Boden
der Annahme einer ursprünglichen Bisexualität des Individuums
stellen. Ich erhielt zur Antwort: „Das habe ich dir schon vor
zweieinhalb Jahren in Br. gesagt, als wir jenen Abendspaziergang
machten. Du wolltest damals nichts davon hören." Es ist nun
schmerzlich, so zum Aufgeben seiner Originalität aufgefordert zu
werden. Ich konnte mich an ein solches Gespräch und an diese
Eröffnung meines Freundes nicht erinnern. Einer von uns beiden
mußte sich da täuschen; nach dem Prinzip der Frage cui prodest?
mußte ich das sein. Ich habe im Laufe der nächsten Woche in
der Tat alles so erinnert, wie mein Freund es in mir erwecken
wollte; ich weiß selbst, was ich damals zur Antwort gab: Dabei
halte ich noch nicht, ich will mich darauf nicht einlassen. Aber
ich bin seither um ein Stück toleranter geworden, wenn ich
irgendwo in der medizinischen Literatur auf eine der wenigen
Ideen stoẞe, mit denen man meinen Namen verknüpfen kann, und
wenn ich dabei die Erwähnung meines Namens vermisse.
Ausstellungen an seiner Ehefrau Freundschaft, die ins
Gegenteil umgeschlagen hat Irrtum in ärztlicher Diagnostik
- Zurückweisung durch Gleichstrebende Entlehnung von
Ideen: es ist wohl kaum zufällig, daß eine Anzahl von Beispielen
des Vergessens, die ohne Auswahl gesammelt worden sind, zu
ihrer Auflösung des Eingehens auf so peinliche Themata bedürfen.
Ich vermute vielmehr, daß jeder andere, der sein eigenes Ver-
gessen einer Prüfung nach den Motiven unterziehen will, eine
ähnliche Musterkarte von Widerwärtigkeiten aufzeichnen können
wird. Die Neigung zum Vergessen des Unangenehmen scheint
mir ganz allgemein zu sein; die Fähigkeit dazu ist wohl bei den
verschiedenen Personen verschieden gut ausgebildet. Manches
Ableugnen, das uns in der ärztlichen Tätigkeit begegnet, ist.
wahrscheinlich auf Vergessen zurückzuführen. Unsere Auf-
1) Wenn man sich bei einem Menschen erkundigt, ob er vor zehn oder fünfzehn
Jahren eine luetische Infektion durchgemacht hat, vergißt man zu leicht daran, daß
S.
VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
161
fassung eines solchen Vergessens beschränkt den Unterschied
zwischen dem und jenem Benehmen allerdings auf rein psycho-
logische Verhältnisse und gestattet uns, in beiden Reaktionsweisen
den Ausdruck desselben Motivs zu sehen. Von all den zahlreichen
Beispielen der Verleugnung unangenehmer Erinnerungen, die
ich bei Angehörigen von Kranken gesehen habe, ist mir eines
als besonders seltsam im Gedächtnis geblieben. Eine Mutter
informierte mich über die Kinderjahre ihres nervösen, in der
Pubertät befindlichen Sohnes und erzählte dabei, daß er wie seine
Geschwister bis in späte Jahre an Bettnässen gelitten habe, was ja
für eine neurotische Krankengeschichte nicht bedeutungslos ist.
Einige Wochen später, als sie sich Auskunft über den Stand der
Behandlung holen wollte, hatte ich Anlaß, sie auf die Zeichen
der Befragte diesen Krankheitszufall psychisch ganz anders behandelt hat als etwa
einen akuten Rheumatismus. In den Anamnesen, welche Eltern über ihre neurotisch
erkrankten Töchter geben, ist der Anteil des Vergessens von dem des Verbergens
kaum je mit Sicherheit zu sondern, weil alles, was der späteren Verheiratung des
Mädchens im Wege steht, von den Eltern systematisch beseitigt, d. h. verdrängt
wird. Ein Mann, der vor kurzem seine geliebte Frau an einer Lungenaffektion
verloren, teilt mir nachstehenden Fall von Irreführung der ärztlichen Erkundigung
mit, der nur auf solches Vergessen zurückführbar ist: "Als die Pleuritis meiner armen
Frau nach vielen Wochen noch nicht weichen wollte, wurde Dr. P. als Konsiliarius
berufen. Bei der Aufnahme der Anamnese stellte er die üblichen Fragen, u. a. auch,
ob in der Familie meiner Frau etwa Lungenkrankheiten vorgekommen seien. Meine
Frau verneinte und auch ich erinnerte mich nicht. Bei der Verabschiedung des Dr. P.
kommt das Gespräch wie zufällig auf Ausflüge, und meine Frau sagt: Ja, auch bis
Langersdorf, wo mein armer Bruder begraben liegt, ist eine weite Reise.
Dieser Bruder war vor etwa fünfzehn Jahren nach mehrjährigem tuberkulösem Leiden
gestorben. Meine Frau hatte ihn sehr geliebt und mir oft von ihm gesprochen. Ja, est
fiel mir ein, daß sie seinerzeit, als die Pleuritis festgestellt wurde, sehr besorgt war
und trübsinnig meinte: Auch mein Bruder ist an der Lunge gestorben.
Nun aber war die Erinnerung daran so sehr verdrängt, daß sie auch nach dem vorhin
angeführten Ausspruch über den Ausflug nach L. keine Veranlassung fand, ihre Aus-
kunft über Erkrankungen in ihrer Familie zu korrigieren. Mir selbst fiel das Ver-
gessen in demselben Moment wieder ein, wo sie von Langersdorf sprach." Ein
völlig analoges Erlebnis erzählt E. Jones in der hier bereits mehrmals erwähnten
Arbeit. Ein Arzt, dessen Frau an einer diagnostisch unklaren Unterleibserkrankung
litt, bemerkte zu ihr wie tröstend: „Es ist doch gut, daß in deiner Familie kein
Fall von Tuberkulose vorgekommen ist." Die Frau antwortete aufs äußerste über-
rascht: Hast du denn vergessen, daß meine Mutter an Tuberkulose gestorben ist
und daß meine Schwester von ihrer Tuberkulose nicht eher hergestellt wurde, als
bis die Ärzte sie aufgegeben hatten?"
Freud, IV.
11
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
162
konstitutioneller Krankheitsveranlagung bei dem jungen Manne
aufmerksam zu machen, und berief mich hiebei auf das ana-
mnestisch erhobene Bettnässen. Zu meinem Erstaunen bestritt sie
die Tatsache sowohl für dies als auch für die anderen Kinder,
fragte mich, woher ich das wissen könne, und hörte endlich von
mir, daß sie selbst es mir vor kurzer Zeit erzählt habe, was also
von ihr vergessen worden war'.
Man findet also auch bei gesunden, nicht neurotischen
Menschen reichlich Anzeichen dafür, daß sich der Erinnerung
an peinliche Eindrücke, der Vorstellung peinlicher Gedanken, ein
Widerstand entgegensetzt. Die volle Bedeutung dieser Tatsache
1) In den Tagen, während ich mit der Niederschrift dieser Seiten beschäftigt
war, ist mir folgender, fast unglaublicher Fall von Vergessen widerfahren: Ich
revidiere am 1. Jänner mein ärztliches Buch, um meine Honorarrechnungen aus-
senden zu können, stoße dabei im Juni auf den Namen M...1 und kann mich an
eine zu ihm gehörige Person nicht erinnern. Mein Befremden wächst, indem ich
beim Weiterblättern bemerke, daß ich den Fall in einem Sanatorium behandelt, und
daß ich ihn durch Wochen täglich besucht habe. Einen Kranken, mit dem man sich
unter solchen Bedingungen beschäftigt, vergißt man als Arzt nicht nach kaum sechs
Monaten. Sollte es ein Mann, ein Paralytiker, ein Fall ohne Interesse gewesen sein,
frage ich mich? Endlich bei dem Vermerk über das empfangene Honorar kommt
mir all die Kenntnis wieder, die sich der Erinnerung entziehen wollte. M... war
ein vierzehnjähriges Mädchen gewesen, der merkwürdigste Fall meiner letzten Jahre,
welcher mir eine Lehre hinterlassen, die ich kaum je vergessen werde, und dessen
Ausgang mir die peinlichsten Stunden bereitet hat. Das Kind erkrankte an unzwei-
deutiger Hysterie, die sich auch unter meinen Händen rasch und gründlich besserte.
Nach dieser Besserung wurde mir das Kind von den Eltern entzogen; es klagte
noch über abdominale Schmerzen, denen die Hauptrolle im Symptombild der Hysterie
zugefallen war. Zwei Monate später war es an Sarkom der Unterleibsdrüsen
gestorben. Die Hysterie, zu der das Kind nebstbei prädisponiert war, hatte die
Tumorbildung zur provozierenden Ursache genommen und ich hatte, von den
lärmenden, aber harmlosen Erscheinungen der Hysterie gefesselt, vielleicht die ersten
Anzeichen der schleichenden und unheilvollen Erkrankung übersehen.
2) A. Pick hat kürzlich (Zur Psychologie des Vergessens bei Geistes- und
Nervenkranken, Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik von H. Groß)
eine Reihe von Autoren zusammengestellt, die den Einfluß affektiver Faktoren auf
das Gedächtnis würdigen und mehr oder minder deutlich den Beitrag aner-
kennen, den das Abwehrbestreben gegen Unlust zum Vergessen leistet. Keiner von
uns allen hat aber das Phänomen und seine psychologische Begründung so
erschöpfend und zugleich so eindrucksvoll darstellen können wie Nietzsche in
einem seiner Aphorismen (Jenseits von Gut und Böse, II. Hauptstück, 68): „Das
habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan
haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt
das Gedächtnis nach."
S.
VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
163
läßt sich aber erst ermessen, wenn man in die Psychologie
neurotischer Personen eingeht. Man ist genötigt, ein solches
elementares Abwehrbestreben gegen Vorstellungen,
welche Unlustempfindungen erwecken können, ein Bestreben, das
sich nur dem Fluchtreflex bei Schmerzreizen an die Seite stellen
läßt, zu einem der Hauptpfeiler des Mechanismus zu machen,
welcher die hysterischen Symptome trägt. Man möge gegen die
Annahme einer solchen Abwehrtendenz nicht einwenden, daß wir
es im Gegenteil häufig genug unmöglich finden, peinliche
Erinnerungen, die uns verfolgen, los zu werden und peinliche
Affektregungen wie Reue, Gewissensvorwürfe zu verscheuchen.
Es wird ja nicht behauptet, daß diese Abwehrtendenz sich überall
durchzusetzen vermag, daß sie nicht im Spiele der psychischen
Kräfte auf Faktoren stoßen kann, welche zu anderen Zwecken
das Entgegengesetzte anstreben und ihr zum Trotze zustande
bringen. Als das architektonische Prinzip des
seelischen Apparates läßt sich die Schichtung, der
Aufbau aus einander überlagernden Instanzen
erraten, und es ist sehr wohl möglich, daß dies Abwehr-
bestreben einer niedrigen psychischen Instanz angehört, von
höheren Instanzen aber gehemmt wird. Es spricht jedenfalls für
die Existenz und Mächtigkeit dieser Tendenz zur Abwehr, wenn
wir Vorgänge wie die in unseren Beispielen von Vergessen auf
sie zurückführen können. Wir sehen, daß manches um seiner
selbst willen vergessen wird; wo dies nicht möglich ist,
verschiebt die Abwehrtendenz ihr Ziel und bringt wenigstens
etwas anderes, minder Bedeutsames, zum Vergessen, was
in assoziative Verknüpfung mit dem eigentlich Anstößigen
geraten ist.
Der hier entwickelte Gesichtspunkt, daß peinliche Erinnerungen
mit besonderer Leichtigkeit dem motivierten Vergessen verfallen,
verdiente auf mehrere Gebiete bezogen zu werden, in denen er
heute noch keine oder eine zu geringe Beachtung gefunden hat.
11"
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
164
So erscheint er mir noch immer nicht genügend scharf betont
bei der Würdigung von Zeugenaussagen vor Gericht', wobei
man offenbar der Beeidung des Zeugen einen allzu großen
purifizierenden Einfluß auf dessen psychisches Kräftespiel zutraut.
Daß man bei der Entstehung der Traditionen und der Sagen-
geschichte eines Volkes einem solchen Motiv, das dem National-
gefühl Peinliche aus der Erinnerung auszumerzen, Rechnung
tragen muß, wird allgemein zugestanden. Vielleicht würde sich
bei genauerer Verfolgung eine vollständige Analogie herausstellen
zwischen der Art, wie Völkertraditionen und wie die Kindheits-
erinnerungen des einzelnen Individuums gebildet werden. Der
große Darwin hat aus seiner Einsicht in dies Unlustmotiv
des Vergessens eine „goldene Regel" für den wissenschaftlichen
Arbeiter gezogen².
2
Ganz ähnlich wie beim Namenvergessen kann auch beim Ver-
gessen von Eindrücken Fehlerinnern eintreten, das dort, wo es
Glauben findet, als Erinnerungstäuschung bezeichnet wird. Die
Erinnerungstäuschung in pathologischen Fällen in der Paranoial
spielt sie geradezu die Rolle eines konstituierenden Moments bei
der Wahnbildung hat eine ausgedehnte Literatur wachgerufen,
in welcher ich durchgängig den Hinweis auf eine Motivierung
derselben vermisse. Da auch dieses Thema der Neurosenpsychologie
1) Vgl. Hans Groß, Kriminalpsychologie, 1898.
2) Ernest Jones verweist auf folgende Stelle in der Autobiographie Darwins,
welche seine wissenschaftliche Ehrlichkeit und seinen psychologischen Scharfsinn
überzeugend widerspiegelt:
„I had, during many years, followed a golden rule, namely, that whenever a published
fact, a new observation or thought came across me, which was opposed to my general results,
to make a memorandum of it whithout fail and at once; for I had found by experience
that such facts and thoughts were far more apt to escape from the memory than favourable
ones." Viele Jahre hindurch befolgte ich eine goldene Regel. Fand ich nämlich
eine veröffentlichte Tatsache, eine neue Beobachtung oder einen Gedanken, welcher
einem meiner allgemeinen Ergebnisse widersprach, so notierte ich denselben sofort
möglichst wortgetreu. Denn die Erfahrung hatte mich gelehrt, daß solche Tat-
sachen und Erfahrungen dem Gedächtnisse leichter entschwinden als die uns
genehmen."
S.
VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
165
angehört, entzieht es sich in unserem Zusammenhange der
Behandlung. Ich werde dafür ein sonderbares Beispiel einer
eigenen Erinnerungstäuschung mitteilen, bei dem die
vierung durch unbewußtes verdrängtes Material und die Art
und Weise der Verknüpfung mit demselben deutlich genug
kenntlich werden.
Moti-
Als ich die späteren Abschnitte meines Buches über Traum-
deutung schrieb, befand ich mich in einer Sommerfrische ohne
Zugang zu Bibliotheken und Nachschlagebüchern und war genötigt,
mit Vorbehalt späterer Korrektur, allerlei Beziehungen und Zitate
aus dem Gedächtnis in das Manuskript einzutragen. Beim Abschnitt
über das Tagträumen fiel mir die ausgezeichnete Figur des armen
Buchhalters im „Nabab" von Alph. Daudet ein, mit welcher
der Dichter wahrscheinlich seine eigene Träumerei geschildert
hat. Ich glaubte mich an eine der Phantasien, die dieser Mann
Mr. Jocelyn nannte ich ihn auf seinen Spaziergängen
durch die Straßen von Paris ausbrütet, deutlich zu erinnern und
begann sie aus dem Gedächtnis zu reproduzieren. Wie also Herr
Jocelyn auf der Straße sich kühn einem durchgehenden Pferde
entgegenwirft, es zum Stehen bringt, der Wagenschlag sich
öffnet, eine hohe Persönlichkeit dem Coupé entsteigt, Herrn
Jocelyn die Hand drückt und ihm sagt: „Sie sind mein
Retter, Ihnen verdanke ich mein Leben. Was kann ich für
Sie tun?"
Etwaige Ungenauigkeiten in der Wiedergabe dieser Phantasie,
tröstete ich mich, würden sich leicht zu Hause verbessern lassen,
wenn ich das Buch zur Hand nähme. Als ich dann aber den.
,,Nabab" durchblätterte, um die druckbereite Stelle meines
Manuskripts zu vergleichen, fand ich zu meiner größten Beschämung
und Bestürzung nichts von einer solchen Träumerei des Herrn
Jocelyn darin, ja der arme Buchhalter trug gar nicht diesen
Namen, sondern hieß Mr. Joyeuse. Dieser zweite Irrtum gab
dann bald den Schlüssel zur Klärung des ersten, der Erinnerungs-
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
166
täuschung. Joyeux (wovon der Name die feminine Form dar-
stellt): so und nicht anders müßte ich meinen eigenen Namen:
Freud ins Französische übersetzen. Woher konnte also die
fälschlich erinnerte Phantasie sein, die ich Daudet zugeschrieben
hatte? Sie konnte nur ein eigenes Produkt sein, ein Tagtraum,
den ich selbst gemacht und der mir nicht bewußt geworden,
oder der mir einst bewußt gewesen, und den ich seither
gründlich vergessen habe. Vielleicht daß ich ihn selbst in Paris.
gemacht, wo ich oft genug einsam und voll Sehnsucht durch
die Straßen spaziert bin, eines Helfers und Protektors sehr
bedürftig, bis Meister Charcot mich dann in seinen Verkehr
zog. Den Dichter des „Nabab" habe ich dann wiederholt im
Hause Charcots gesehen'.
Ein anderer Fall von Erinnerungstäuschung, der sich
befriedigend aufklären ließ, mahnt an die später zu besprechende
fausse réconnaissance: Ich hatte einem meiner Patienten, einem
ehrgeizigen und befähigten Manne, erzählt, daß ein junger Student
sich kürzlich durch eine interessante Arbeit „Der Künstler, Ver-
1) Vor einiger Zeit wurde mir aus dem Kreise meiner Leser ein Bändchen der
Jugendbibliothek von Fr. Hoffmann zugeschickt, in dem eine solche Rettungs-
szene, wie ich sie in Paris phantasiert, ausführlich erzählt wird. Die Übereinstimmung
erstreckt sich bis auf einzelne, nicht ganz gewöhnliche Ausdrücke, die hier wie dort
vorkommen. Die Vermutung, daß ich in frühen Knabenjahren diese Jugendschrift
wirklich gelesen habe, läßt sich nicht gut abweisen. Die Schülerbibliothek unseres
Gymnasiums enthielt die Hoffmannsche Sammlung und war immer bereit, sie den
Schülern an Stelle jeder anderen geistigen Nahrung anzubieten. Die Phantasie, die
ich mit 45 Jahren als die Produktion eines anderen zu erinnern glaubte und dann
als eigene Leistung aus dem 29. Lebensjahr erkennen mußte, mag also leicht die
getreue Reproduktion eines im Alter zwischen 11 und 15 aufgenommenen Eindrucks
gewesen sein. Die Rettungsphantasie, die ich dem stellenlosen Buchhalter im,,Nabab"
angedichtet, soll ja nur der Phantasie der eigenen Rettung den Weg bahnen, die
Sehnsucht nach einen Gönner und Beschützer dem Stolz erträglich machen. Es wird
dann keinem Seelenkenner befremdlich sein zu hören, daß ich selbst in meinem
bewußten Leben der Vorstellung, von der Gunst eines Protektors abhängig zu sein,
das größte Widerstreben entgegengebracht und die wenigen realen Situationen, in
denen sich etwas ähnliches ereignete, schlecht vertragen habe. Die tiefere Bedeutung
der Phantasien mit solchem Inhalt und eine nahezu erschöpfende Erklärung ihrer
Eigentümlichkeiten hat Abraham in einer Arbeit, „Vaterrettung und Vatermord
in den neurotischen Phantasiegebilden", 1922 (Internationale Zeitschrift für Psycho-
analyse, VIII) zutage gefördert.
S.
VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
167
such einer Sexualpsychologie" in den Kreis meiner Schüler ein-
geführt habe. Als diese Schrift eineinviertel Jahr später gedruckt
vorlag, behauptete mein Patient, sich mit Sicherheit daran erinnern
zu können, daß er die Ankündigung derselben bereits vor meiner
ersten Mitteilung (einen Monat oder ein halbes Jahr vorher)
irgendwo, etwa in einer Buchhändleranzeige, gelesen habe. Es sei
ihm diese Notiz auch damals gleich in den Sinn gekommen und
er konstatierte überdies, daß der Autor den Titel verändert habe,
da es nicht mehr „Versuch", sondern ,,Ansätze zu einer Sexual-
psychologie" heiße. Sorgfältige Erkundigung beim Autor und
Vergleichung aller Zeitangaben zeigten indes, daß mein Patient
etwas Unmögliches erinnern. wollte. Von jener Schrift war
nirgends eine Anzeige vor dem Drucke erschienen, am wenigsten
aber eineinviertel Jahr vor ihrer Drucklegung. Als ich eine
Deutung dieser Erinnerungstäuschung unterließ, brachte derselbe
Mann eine gleichwertige Erneuerung derselben zustande. Er meinte,
vor kurzem eine Schrift über "Agoraphobie" in dem Auslage-
fenster einer Buchhandlung bemerkt zu haben, und suchte derselben
nun durch Nachforschung in allen Verlagskatalogen habhaft zu
werden. Ich konnte ihn dann aufklären, warum diese Bemühung
erfolglos bleiben mußte. Die Schrift über Agoraphobie bestand
erst in seiner Phantasie als unbewußter Vorsatz und sollte von
ihm selbst abgefaßt werden. Sein Ehrgeiz, es jenem jungen Manne
gleichzutun und durch eine solche wissenschaftliche Arbeit zum
Schüler zu werden, hatte ihn zu jener ersten wie zur wieder-
holten Erinnerungstäuschung geführt. Er besann sich dann auch,
daß die Buchhändleranzeige, welche ihm zu diesem falschen
Erkennen gedient hatte, sich auf ein Werk, betitelt: „Genesis,
das Gesetz der Zeugung“, bezog. Die von ihm erwähnte
Abänderung des Titels kam aber auf meine Rechnung, denn
ich wußte mich selbst zu erinnern, daß ich diese Ungenauigkeit
in der Wiedergabe des Titels, "Versuch" anstatt "Ansätze"
begangen hatte.
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
168
B) DAS VERGESSEN VON VORSÄTZEN
Keine andere Gruppe von Phänomenen eignet sich besser zum
Beweis der These, daß die Geringfügigkeit der Aufmerksamkeit
für sich allein nicht hinreiche, die Fehlleistung zu erklären, als
die des Vergessens von Vorsätzen. Ein Vorsatz ist ein Impuls zur
Handlung, der bereits Billigung gefunden hat, dessen Ausführung
aber auf einen geeigneten Zeitpunkt verschoben wurde. Nun kann.
in dem so geschaffenen Intervall allerdings eine derartige Ver-
änderung in den Motiven eintreten, daß der Vorsatz nicht zur
Ausführung gelangt, aber dann wird er nicht vergessen, sondern
revidiert und aufgehoben. Das Vergessen von Vorsätzen, dem wir
alltäglich und in allen möglichen Situationen unterliegen, pflegen
wir uns nicht durch eine Neuerung in der Motivengleichung zu
erklären, sondern lassen es gemeinhin unerklärt, oder wir suchen
eine psychologische Erklärung in der Annahme, gegen die Zeit
der Ausführung hin habe sich die erforderliche Aufmerksamkeit.
für die Handlung nicht mehr bereit gefunden, die doch für das
Zustandekommen des Vorsatzes unerläßliche Bedingung war, damals
also für die nämliche Handlung zur Verfügung stand. Die
Beobachtung unseres normalen Verhaltens gegen Vorsätze läßt.
uns diesen Erklärungsversuch als willkürlich abweisen. Wenn ich
des Morgens einen Vorsatz fasse, der abends ausgeführt werden
soll, so kann ich im Laufe des Tages einigemal an ihn gemahnt
werden. Er braucht aber tagsüber überhaupt nicht mehr bewußt
zu werden. Wenn sich die Zeit der Ausführung nähert, fällt er
mir plötzlich ein und veranlaßt mich, die zur vorgesetzten
Handlung nötigen Vorbereitungen zu treffen. Wenn ich auf einen
Spaziergang einen Brief mitnehme, welcher noch befördert werden
soll, so brauche ich ihn als normales und nicht nervöses Individuum
keineswegs die ganze Strecke über in der Hand zu tragen und
unterdessen nach einem Briefkasten auszuspähen, in den ich ihn
werfe, sondern ich pflege ihn in die Tasche zu stecken, meiner
S.
VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
169
Wege zu gehen, meine Gedanken frei schweifen zu lassen, und
ich rechne darauf, daß einer der nächsten Briefkasten meine
Aufmerksamkeit erregen und mich veranlassen wird, in die
Tasche zu greifen und den Brief hervorzuziehen. Das normale
Verhalten beim gefaßten Vorsatz deckt sich vollkommen mit dem
experimentell zu erzeugenden Benehmen von Personen, denen
man eine sogenannte „posthypnotische Suggestion auf lange Sicht"
in der Hypnose eingegeben hat. Man ist gewöhnt, das Phänomen
in folgender Art zu beschreiben: Der suggerierte Vorsatz schlummert
in den betreffenden Personen, bis die Zeit seiner Ausführung
herannaht. Dann wacht er auf und treibt zur Handlung.
In zweierlei Lebenslagen gibt sich auch der Laie Rechenschaft
davon, daß das Vergessen in bezug auf Vorsätze keineswegs den
Anspruch erheben darf, als ein nicht weiter zurückführbares
Elementarphänomen zu gelten, sondern zum Schluß auf unein-
gestandene Motive berechtigt. Ich meine: im Liebesverhältnis und
in der Militärabhängigkeit. Ein Liebhaber, der das Rendezvous
versäumt hat, wird sich vergeblich bei seiner Dame entschuldigen,
er habe leider ganz vergessen. Sie wird nicht versäumen, ihm
zu antworten:,,Vor einem Jahre hättest du es nicht vergessen.
Es liegt dir eben nichts mehr an mir." Selbst wenn er nach
der oben erwähnten psychologischen Erklärung griffe und sein
Vergessen durch gehäufte Geschäfte entschuldigen wollte, würde
er nur erreichen, daß die Dame so scharfsichtig geworden
wie der Arzt in der Psychoanalyse zur Antwort gäbe: "Wie
merkwürdig, daß sich solche geschäftliche Störungen früher nicht
ereignet haben." Gewiß will auch die Dame die Möglichkeit des
Vergessens nicht in Abrede stellen; sie meint nur, und nicht mit
Unrecht, aus dem unabsichtlichen Vergessen sei ungefähr der
nämliche Schluß auf ein gewisses Nichtwollen zu ziehen wie
aus der bewußten Ausflucht.
1) Vgl. Bernheim, Neue Studien über Hypnotismus, Suggestion und Psycho-
therapie, 1892.
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
170
Ähnlich wird im militärischen Dienstverhältnis der Unterschied
zwischen der Unterlassung durch Vergessen und der infolge von
Absicht prinzipiell, und zwar mit Recht, vernachlässigt. Der
Soldat darf nichts vergessen, was der militärische Dienst von
ihm fordert. Wenn er es doch vergißt, obwohl ihm die Forderung
bekannt ist, so geht dies so zu, daß sich den Motiven, die auf
Erfüllung der militärischen Forderung dringen, andere Gegen-
motive entgegenstellen. Der Einjährige etwa, der sich beim
Rapport entschuldigen wollte, er habe vergessen, seine Knöpfe
blank zu putzen, ist der Strafe sicher. Aber diese Strafe ist
geringfügig zu nennen im Vergleich zu jener, der er sich aus-
setzte, wenn er das Motiv seiner Unterlassung sich und seinen
Vorgesetzten eingestehen würde: „Der elende Gamaschendienst
ist mir ganz zuwider." Wegen dieser Strafersparnis, aus ökonomischen
Gründen gleichsam, bedient er sich des Vergessens als Ausrede,
oder es kommt als Kompromiß zustande.
Frauendienst wie Militärdienst erheben den Anspruch, daß
alles zu ihnen gehörige dem Vergessen entrückt sein müsse, und
erwecken so die Meinung, Vergessen sei zulässig bei unwichtigen
Dingen, während es bei wichtigen Dingen ein Anzeichen davon
sei, daß man sie wie unwichtige behandeln wolle, ihnen also die
Wichtigkeit abspreche'. Der Gesichtspunkt der psychischen Wert-
schätzung ist hier in der Tat nicht abzuweisen. Kein Mensch
vergiẞt Handlungen auszuführen, die ihm selbst wichtig erscheinen,
ohne sich dem Verdachte geistiger Störung auszusetzen. Unsere
Untersuchung kann sich also nur auf das Vergessen von mehr
oder minder nebensächlichen Vorsätzen erstrecken; für ganz und
3) In dem Schauspiel „Cäsar und Kleopatra von B. Shaw quält sich der von
Ägypten scheidende Cäsar eine Weile mit der Idee, er habe noch etwas vorgehabt,
was er jetzt vergessen. Endlich stellt sich heraus, was Cäsar vergessen hatte: von
Kleopatra Abschied zu nehmen! Durch diesen kleinen Zug soll veranschaulicht
werden übrigens im vollen Gegensatz zur historischen Wahrheit wie wenig
sich Cäsar aus der kleinen ägyptischen Prinzessin gemacht hatte. (Nach E. Jones,
1. c., S. 488.)
S.
VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
171
gar gleichgültig werden wir keinen Vorsatz erachten, denn in
diesem Falle wäre er wohl gewiß nicht gefaßt worden.
Ich habe nun wie bei den früheren Funktionsstörungen die
bei mir selbst beobachteten Fälle von Unterlassung durch Ver-
gessen gesammelt und aufzuklären gesucht und hiebei ganz
allgemein gefunden, daß sie auf Einmengung unbekannter und
uneingestandener Motive. oder, wie man sagen kann, auf einen
Gegenwillen zurückzuführen waren. In einer Reihe
dieser Fälle befand ich mich in einer dem Dienstverhältnisse
ähnlichen Lage, unter einem Zwange, gegen welchen ich es
nicht ganz aufgegeben hatte, mich zu sträuben, so daß ich durch
Vergessen gegen ihn demonstrierte. Dazu gehört, daß ich besonders
leicht vergesse, zu Geburtstagen, Jubiläen, Hochzeitsfeiern und
Standeserhöhungen zu gratulieren. Ich nehme es mir immer
wieder vor und überzeuge mich immer mehr, daß es mir nicht
gelingen will. Ich bin jetzt im Begriffe, darauf zu verzichten, und
den Motiven, die sich sträuben, mit Bewußtsein recht zu geben.
In einem Übergangsstadium habe ich einen Freund, der mich
bat, auch für ihn ein Glückwunschtelegramm zum bestimmten
Termin zu besorgen, vorher gesagt, ich würde an beide vergessen,
und es war nicht zu verwundern, daß die Prophezeiung wahr
wurde. Es hängt nämlich mit schmerzlichen Lebenserfahrungen
zusammen, daß ich nicht imstande bin, Anteilnahme zu äußern,
wo diese Äußerung notwendigerweise übertrieben ausfallen muß,
da für den geringen Betrag meiner Ergriffenheit der entsprechende
Ausdruck nicht zulässig ist. Seitdem ich erkannt, daß ich oft
vorgebliche Sympathie bei anderen für echte genommen habe,
befinde ich mich in einer Auflehnung gegen diese Konventionen
der Mitgefühlsbezeigung, deren soziale Nützlichkeit ich andererseits
einsehe. Kondolenzen bei Todesfällen sind. von dieser zwie-
spältigen Behandlung ausgenommen; wenn ich mich zu ihnen.
entschlossen habe, versäume ich sie auch nicht. Wo meine
Gefühlsbetätigung mit gesellschaftlicher Pflicht nichts mehr zu
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
172
tun hat, da findet sie ihren Ausdruck auch niemals durch Ver-
gessen gehemmt.
Von einem solchen Vergessen, in dem der zunächst unter-
drückte Vorsatz als „, Gegenwille" durchbrach und eine unerquickliche
Situation zur Folge hatte, berichtet Oberleutnant T. aus der Kriegs-
gefangenschaft: „Der Rangälteste eines Lagers kriegsgefangener
Offiziere wird von einem seiner Kameraden beleidigt. Er will, um
Weiterungen zu entgehen, von dem einzigen ihm zur Verfügung
stehenden Gewaltmittel Gebrauch machen und letzteren entfernen
und in ein anderes Lager versetzen lassen. Erst über Anraten
mehrerer Freunde entschließt er sich, gegen seinen geheimen
Wunsch, hievon Abstand zu nehmen und den Ehrenweg, der
aber vielerlei Unannehmlichkeiten im Gefolge haben mußte, gleich
zu beschreiten. Am nämlichen Vormittag hat dieser Kommandant
die Liste der Offiziere unter Kontrolle eines Wachorganes vorzu-
lesen. Fehler waren ihm, der seine Gefährten schon durch längere
Zeit kannte, darin bisher nicht unterlaufen. Heute überliest er
den Namen seines Beleidigers, so daß dieser, als alle Kameraden
bereits abgetreten waren, allein am Platze zurückbleiben muß,
bis sich der Irrtum geklärt hat. Der übersehene Name stand in
voller Deutlichkeit in der Mitte eines Blattes. Dieser Vorfall
wurde von der einen Seite als beabsichtigte Kränkung ausgelegt;
von der anderen als peinlicher und zur Fehldeutung geeigneter
Zufall angesehen. Doch gewann der Urheber späterhin, nach
Kenntnisnahme von Freuds,Psychopathologie ein richtiges Urteil
des Stattgefundenen."
Ähnlich erklären sich durch den Widerstreit einer konven-
tionellen Pflicht und einer nicht eingestandenen inneren Schätzung
die Fälle, in denen man Handlungen auszuführen vergißt, die
man einem anderen zu seinen Gunsten auszuführen versprochen
hat. Hier trifft es dann regelmäßig zu, daß nur der Gönner an die
entschuldigende Kraft des Vergessens glaubt, während der Bitt-
steller sich ohne Zweifel die richtige Antwort gibt: Er hat kein
S.
VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
173
Interesse daran, sonst hätte er es nicht vergessen. Es gibt Menschen,
die man als allgemein vergeßlich bezeichnet und darum in
ähnlicher Weise als entschuldigt gelten läßt wie etwa den Kurz-
sichtigen, wenn er auf der Straße nicht grüßt. Diese Personen
vergessen alle kleinen Versprechungen, die sie gegeben, lassen alle
Aufträge unausgeführt, die sie empfangen haben, erweisen sich
also in kleinen Dingen als unverläßlich und erheben dabei die
Forderung, daß man ihnen diese kleineren Verstöße nicht übel-
nehmen, d. h. nicht durch ihren Charakter erklären, sondern auf
organische Eigentümlichkeit zurückführen solle. Ich gehöre selbst.
nicht zu diesen Leuten und habe keine Gelegenheit gehabt, die
Handlungen einer solchen Person zu analysieren, um durch die
Auswahl des Vergessens die Motivierung desselben aufzudecken.
Ich kann mich aber der Vermutung per analogiam nicht erwehren,
daß hier ein ungewöhnlich großes Maß von nicht eingestandener
Geringschätzung des anderen das Motiv ist, welches das kon-
stitutionelle Moment für seine Zwecke ausbeutet³.
1) Frauen sind mit ihrem feineren Verständnis für unbewußte seelische Vorgänge
in der Regel eher geneigt, es als Beleidigung anzusehen, wenn man sie auf der
Straße nicht erkennt, also nicht grüßt, als an die nächstliegenden Erklärungen zu
denken, daß der Säumige kurzsichtig sei oder in Gedanken versunken sie nicht
bemerkt habe. Sie schließen, man hätte sie schon bemerkt, wenn man sich etwas
aus ihnen machen würde".
2) S. Ferenczi berichtet von sich, daß er selbst ein „Zerstreuter" gewesen ist
und seinen Bekannten durch die Häufigkeit und Sonderbarkeit seiner Fehlhandlungen
auffällig war. Die Zeichen dieser Zerstreutheit" sind aber fast völlig geschwunden,
seitdem er die psychoanalytische Behandlung von Kranken zu üben begann und sich
genötigt sah, auch der Analyse seines eigenen Ichs Aufmerksamkeit zuzuwenden. Man
verzichtet, meint er, auf die Fehlhandlungen, wenn man seine eigene Verantwort-
lichkeit um so vieles auszudehnen lernt. Er hält daher mit Recht die Zerstreutheit
für einen Zustand, der von unbewußten Komplexen abhängig und durch die Psycho-
analyse heilbar ist. Eines Tages aber stand er unter dem Selbstvorwurfe, bei einem
Patienten einen Kunstfehler in der Psychoanalyse begangen zu haben. An diesem
Tage stellten sich alle seine früheren "Zerstreutheiten" wieder ein. Er stolperte
mehrmals im Gehen auf der Straße (Darstellung jenes faux pas in der Behandlung),
vergaß seine Brieftasche zu Hause, wollte auf der Trambahn einen Kreuzer weniger
zahlen, hatte seine Kleidungsstücke nicht ordentlich zugeknöpft u. dgl.
3) E. Jones bemerkt hiezu: Often the resistance is of a general order. Thus a busy
man forgets to post letters entrusted to him to his slight annoyance by his wife, just
as he may "forget" to carry out her shopping orders.
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
174
Bei anderen Fällen sind die Motive des Vergessens weniger
leicht aufzufinden und erregen, wenn gefunden, ein größeres
Befremden. So merkte ich in früheren Jahren, daß ich bei einer
größeren Anzahl von Krankenbesuchen nie einen anderen Be-
such vergesse als den bei einem Gratispatienten oder bei einem
Kollegen. Aus Beschämung hierüber hatte ich mir angewöhnt,
die Besuche des Tages schon am Morgen als Vorsatz zu notieren.
Ich weiß nicht, ob andere Ärzte auf dem nämlichen Wege zu
der gleichen Übung gekommen sind. Aber man gewinnt so eine
Ahnung davon, was den sogenannten Neurastheniker veranlaßt,
die Mitteilungen, die er dem Arzt machen will, auf dem
berüchtigten „Zettel" zu notieren. Angeblich fehlt es ihm an
Zutrauen zur Reproduktionsleistung seines Gedächtnisses. Das ist
gewiß richtig, aber die Szene geht zumeist so vor sich: Der
Kranke hat seine verschiedenen Beschwerden und Anfragen höchst
langatmig vorgebracht. Nachdem er fertig geworden ist, macht
er einen Moment Pause, darauf zieht er den Zettel hervor und
sagt entschuldigend: Ich habe mir etwas aufgeschrieben, weil ich
mir so gar nichts merke. In der Regel findet er auf dem Zettel
nichts Neues. Er wiederholt jeden Punkt und beantwortet ihn
selbst: Ja, danach habe ich schon gefragt. Er demonstriert mit
dem Zettel wahrscheinlich nur eines seiner Symptome, die
Häufigkeit, mit der seine Vorsätze durch Einmengung dunkler
Motive gestört werden.
Ich rühre ferner an Leiden, an welchen auch der größere Teil
der mir bekannten Gesunden krankt, wenn ich zugestehe, daß
ich besonders in früheren Jahren sehr leicht und für lange
Zeit vergessen habe, entlehnte Bücher zurückzugeben, oder daß
es mir besonders leicht begegnet ist, Zahlungen durch Vergessen
aufzuschieben. Unlängst verließ ich eines Morgens die Tabak-
trafik, in welcher ich meinen täglichen Zigarreneinkauf gemacht
hatte, ohne ihn zu bezahlen. Es war eine höchst harmlose Unter-
lassung, denn ich bin dort bekannt und konnte daher erwarten,
S.
VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
175
am nächsten Tag an die Schuld gemahnt zu werden. Aber die
kleine Versäumnis, der Versuch, Schulden zu machen, steht gewiß
nicht außer Zusammenhang mit den Budgeterwägungen, die mich
den Vortag über beschäftigt hatten. In Bezug auf das Thema von
Geld und Besitz lassen sich die Spuren eines zwiespältigen Ver-
haltens auch bei den meisten sogenannt anständigen Menschen
leicht nachweisen. Die primitive Gier des Säuglings, der sich
aller Objekte zu bemächtigen sucht (um sie zum Munde zu
führen), zeigt sich vielleicht allgemein als nur unvollständig durch
Kultur und Erziehung überwunden'.
Ich fürchte, ich bin mit allen bisherigen Beispielen einfach
banal geworden. Es kann mir aber doch nur recht sein, wenn
ich auf Dinge stoße, die jedermann bekannt sind, und die jeder
in der nämlichen Weise versteht, da ich bloß vorhabe, das
Alltägliche zu sammeln und wissenschaftlich zu verwerten. Ich
sehe nicht ein, weshalb der Weisheit, die Niederschlag der
gemeinen Lebenserfahrung ist, die Aufnahme unter die Erwerbungen
1) Der Einheit des Themas zuliebe darf ich hier die gewählte Einteilung durch-
brechen und dem oben Gesagten anschließen, daß in bezug auf Geldsachen das
Gedächtnis der Menschen eine besondere Parteilichkeit zeigt. Erinnerungstäuschungen,
etwas bereits bezahlt zu haben, sind, wie ich von mir selbst weiß, oft sehr hart-
näckig. Wo der gewinnsüchtigen Absicht abseits von den großen Interessen der
Lebensführung und daher eigentlich zum Scherz freier Lauf gelassen wird wie beim
Kartenspiel, neigen die ehrlichsten Männer zu Irrtümern, Erinnerungs- und Rechen-
fehlern und finden sich selbst, ohne recht zu wissen wie, in kleine Betrügereien
verwickelt. Auf solchen Freiheiten beruht zum Teil der psychisch erfrischende
Charakter des Spieles. Das Sprichwort, daß man beim Spiel den Charakter des
Menschen erkennt, ist zuzugeben, wenn man dabei nicht den manifesten Charakter
im Auge hat.
Wenn es unabsichtliche Rechenfehler bei Zahlkellnern noch gibt,
so unterliegen sie offenbar derselben Beurteilung. Im Kaufmannstande kann man
häufig eine gewisse Zögerung in der Verausgabung von Geldsummen, bei der
Bezahlung von Rechnungen u. dgl. beobachten, die dem Eigner keinen Gewinn
bringt, sondern nur psychologisch zu verstehen ist als eine Außerung des Gegen-
willens, Geld von sich zu tun. Brill bemerkt hierüber mit epigrammatischer
Schärfe: We are more apt to mislay letters containing bills than checks. Mit den
intimsten und am wenigsten klar gewordenen Regungen hängt es zusammen, wenn
gerade Frauen eine besondere Unlust zeigen, den Arzt zu honorieren. Sie haben
gewöhnlich ihr Portemonnaie vergessen, können darum in der Ordination nicht
zahlen, vergessen dann regelmäßig, das Honorar vom Hause aus zu schicken, und
setzen es so durch, daß man sie umsonst um ihrer schönen Augen willen" -
behandelt hat. Sie zahlen gleichsam mit ihrem Anblick.
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
176
der Wissenschaft versagt sein sollte. Nicht die Verschiedenheit
der Objekte, sondern die strengere Methode bei der Feststellung
und das Streben nach weitreichendem Zusammenhang machen
den wesentlichen Charakter der wissenschaftlichen Arbeit aus.
Für die Vorsätze von einigem Belang haben wir allgemein
gefunden, daß sie dann vergessen werden, wenn sich dunkle
Motive gegen sie erheben. Bei noch weniger wichtigen Vorsätzen
erkennt man als zweiten Mechanismus des Vergessens, daß ein
Gegenwille sich von wo anders her auf den Vorsatz überträgt,
nachdem zwischen jenem anderen und dem Inhalt des Vorsatzes
eine äußerliche Assoziation hergestellt worden ist. Hiezu gehört
folgendes Beispiel: Ich lege Wert auf schönes Löschpapier und
nehme mir vor, auf meinem heutigen Nachmittagsweg in die
Innere Stadt neues. einzukaufen. Aber an vier aufeinander-
folgenden Tagen vergesse ich es, bis ich mich befrage, welchen.
Grund diese Unterlassung hat. Ich finde ihn dann leicht, nachdem
ich mich besonnen habe, daß ich zwar Löschpapier" zu
schreiben, aber Fließpapier" zu sagen gewohnt bin. „Fließ“ ist
der Name eines Freundes in Berlin, der mir in den nämlichen
Tagen Anlaß zu einem quälenden, besorgten Gedanken gegeben
hatte. Diesen Gedanken kann ich nicht los werden, aber die
Abwehrneigung (vgl. oben S. 163) äußert sich, indem sie sich
mittels der Wortgleichheit auf den indifferenten und darum
wenig resistenten Vorsatz überträgt.
Direkter Gegenwille und entferntere Motivierung treffen in
folgendem Falle von. Aufschub zusammen: In der Sammlung
"Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens" hatte ich eine
kurze Abhandlung über den Traum geschrieben, welche den
Inhalt meiner ,,Traumdeutung" resümiert. Bergmann in
Wiesbaden sendet. eine Korrektur und bittet um umgehende
Erledigung, weil er das Heft noch vor Weihnachten ausgeben
will. Ich mache die Korrektur noch in der Nacht und lege sie
auf meinen Schreibtisch, um sie am nächsten Morgen mitzunehmen.
S.
VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
177
Am Morgen vergesse ich daran, erinnere mich erst nachmittags
beim Anblick des Kreuzbandes auf meinem Schreibtisch. Ebenso
vergesse ich die Korrektur am Nachmittag, am Abend und am
nächsten Morgen, bis ich mich aufraffe und am Nachmittag des zweiten
Tages die Korrektur zu einem Briefkasten trage, verwundert, was
der Grund dieser Verzögerung sein mag. Ich will sie offenbar nicht
absenden, aber ich finde nicht, warum. Auf demselben Spazier-
gang trete ich aber bei meinem Wiener Verleger, der auch das
Traumbuch publiziert hat, ein, mache eine Bestellung und sage
dann, wie von einem plötzlichen Einfall getrieben: „,Sie wissen
doch, daß ich den,Traum' ein zweites Mal geschrieben habe?"
,,Ah, da würde ich doch bitten." „Beruhigen Sie sich,
nur ein kurzer Aufsatz für die Löwenfeld-Kurella sche
Sammlung." Es war ihm aber doch nicht recht; er besorgte, der
Vortrag würde dem Absatz des Buches schaden. Ich widersprach
und fragte endlich: „Wenn ich mich früher an Sie gewendet.
hätte, würden Sie mir die Publikation untersagt haben?" -
,,Nein, das keineswegs." Ich glaube selbst, daß ich in meinem
vollen Recht gehandelt und nichts anderes getan habe, als was
allgemein üblich ist; doch scheint es mir gewiß, daß ein ähnliches
Bedenken, wie es der Verleger äußerte, das Motiv meiner
Zögerung war, die Korrektur abzusenden. Dies Bedenken geht
auf eine frühere Gelegenheit zurück, bei welcher ein anderer
Verleger Schwierigkeiten erhob, als ich, wie unvermeidlich, einige
Blätter Text aus einer früheren, in anderem Verlage erschienenen
Arbeit über zerebrale Kinderlähmung unverändert in die
Bearbeitung desselben Themas im Handbuch von Nothnagel
hinübernahm. Dort findet aber der Vorwurf abermals keine
Anerkennung; ich hatte auch damals meinen ersten Verleger
(identisch mit dem der Traumdeutung") loyal von meiner
Absicht verständigt. Wenn aber diese Erinnerungsreihe noch
weiter zurückgeht, so rückt sie mir einen noch früheren Anlaß
vor, den einer Übersetzung aus dem Französischen, bei welchem
Freud, IV.
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S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
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ich wirklich die bei einer Publikation in Betracht kommenden
Eigentumsrechte verletzt habe. Ich hatte dem übersetzten Text
Anmerkungen beigefügt, ohne für diese Anmerkungen die
Erlaubnis des Autors nachgesucht zu haben, und habe einige
Jahre später Grund zur Annahme bekommen, daß der Autor mit
dieser Eigenmächtigkeit unzufrieden war.
Es gibt ein Sprichwort, welches die populäre Kenntnis verrät, daß
das Vergessen von Vorsätzen nichts Zufälliges ist.,,Was man ein-
mal zu tun vergessen hat, das vergißt man dann noch öfter."
Ja, man kann sich mitunter des Eindrucks nicht erwehren,
daß alles, was man über das Vergessen und die Fehlhandlungen
überhaupt sagen kann, den Menschen ohnedies wie etwas Selbst-
verständliches bekannt ist. Wunderbar genug, daß es doch
notwendig ist, ihnen dies so Wohlbekannte vors Bewußtsein zu
rücken! Wie oft habe ich sagen gehört: Gib mir diesen Auftrag
nicht, ich werde gewiß an ihn vergessen. Das Eintreffen dieser
Vorhersagung hatte dann sicherlich nichts Mystisches an sich.
Der so sprach, verspürte in sich den Vorsatz, den Auftrag nicht
auszuführen, und weigerte sich nur, sich zu ihm zu bekennen.
Das Vergessen von Vorsätzen erfährt übrigens eine gute
Beleuchtung durch etwas, was man als „Fassen von falschen
Vorsätzen" bezeichnen könnte. Ich hatte einmal einem jungen
Autor versprochen, ein Referat über sein. kleines Opus zu
schreiben, schob es aber wegen innerer, mir nicht unbekannter
Widerstände auf, bis ich mich eines Tages durch sein Drängen.
bewegen ließ zu versprechen, daß es noch am selben Abend
geschehen werde. Ich hatte auch die ernste Absicht, so zu tun,
aber ich hatte vergessen, daß die Abfassung eines unaufschieb-
baren Gutachtens für den nämlichen Abend angesetzt war.
Nachdem ich so meinen Vorsatz als falsch erkannt hatte,
gab ich den Kampf gegen meine Widerstände auf und sagte
dem Autor ab.
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