• S.

    IX
     

    SYMPTOM- UND ZUFALLSHANDLUNGEN
     

    Die bisher beschriebenen Handlungen, in denen wir die Aus-
    führung einer unbewußten Absicht erkannten, traten als Störungen
    anderer beabsichtigter Handlungen auf und deckten sich mit dem
    Vorwand der Ungeschicklichkeit. Die Zufallshandlungen, von denen
    jetzt die Rede sein soll, unterscheiden sich von denen des Ver-
    greifens nur dadurch, daß sie die Anlehnung an eine bewußte
    Intention verschmähen und also des Vorwandes nicht bedürfen.
    Sie treten für sich auf und werden zugelassen, weil man Zweck
    und Absicht bei ihnen nicht vermutet. Man führt sie aus, ohne
    sich etwas bei ihnen zu denken", nur „rein zufällig", "wie um
    die Hände zu beschäftigen", und man rechnet darauf, daß solche
    Auskunft der Nachforschung nach der Bedeutung der Handlung
    ein Ende bereiten wird. Um sich dieser Ausnahmsstellung
    erfreuen zu können, müssen diese Handlungen, die nicht mehr
    die Entschuldigung der Ungeschicklichkeit in Anspruch nehmen,
    bestimmte Bedingungen erfüllen; sie müssen unauffällig und
    ihre Effekte müssen geringfügig sein.
     

    Ich habe eine große Anzahl solcher Zufallshandlungen bei mir
    und anderen gesammelt, und meine nach gründlicher Unter-
    suchung der einzelnen Beispiele, daß sie eher den Namen von
    Symptom handlungen verdienen. Sie bringen etwas zum
    Ausdruck, was der Täter selbst nicht in ihnen vermutet und was
    er in der Regel nicht mitzuteilen, sondern für sich zu behalten
     

  • S.

    IX. Symptom- und Zufallshandlungen
     

    213
     

    beabsichtigt. Sie spielen also ganz so wie alle anderen bisher
    betrachteten Phänomene die Rolle von Symptomen.
     

    Die reichste Ausbeute an solchen Zufalls- oder Symptom-
    handlungen erhält man allerdings
    man allerdings bei der psychoanalytischen
    Behandlung der Neurotiker. Ich kann es mir nicht versagen, an
    zwei Beispielen dieser Herkunft zu zeigen, wie weit und wie fein
    die Determinierung dieser unscheinbaren Vorkommnisse durch
    unbewußte Gedanken getrieben ist. Die Grenze der Symptom-
    handlungen gegen das Vergreifen ist so wenig scharf, daß ich
    diese Beispiele auch im vorigen Abschnitt hätte unterbringen
    können.
     

    1) Eine junge Frau erzählt als Einfall während der Sitzung,
    daß sie sich gestern beim Nägelschneiden „ins Fleisch geschnitten,
    während sie das feine Häutchen im Nagelbett abzutragen bemüht
    war". Das ist so wenig interessant, daß man sich verwundert
    fragt, wozu es überhaupt erinnert und erwähnt wird, und auf
    die Vermutung gerät, man habe es mit einer Symptomhandlung
    zu tun. Es war auch wirklich der Ringfinger, an dem das kleine
    Ungeschick vorfiel, der Finger, an dem man den Ehering trägt.
    Es war überdies ihr Hochzeitstag, was der Verletzung des feinen
    Häutchens einen ganz bestimmten, leicht zu erratenden Sinn
    verleiht. Sie erzählt auch gleichzeitig einen Traum, der auf die
    Ungeschicklichkeit ihres Mannes und auf ihre Anästhesie als Frau
    anspielt. Warum war es aber der Ringfinger der linken Hand,
    an dem sie sich verletzte, da man doch den Ehering an der
    rechten Hand trägt? Ihr Mann ist Jurist,,,Doktor der Rechte",
    und ihre geheime Neigung hatte als Mädchen einem Arzt,
    (scherzhaft: Doktor der Linke") gehört. Eine Ehe zur linken
    Hand hat auch ihre bestimmte Bedeutung.
     

    2) Eine unverheiratete junge Dame erzählt: „Ich habe gestern
    ganz unabsichtlich eine Hundertguldennote in zwei Stücke
    gerissen und die Hälfte davon einer mich besuchenden Dame
    gegeben. Soll das auch eine Symptomhandlung sein?" Die ge-
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    214
     

    nauere Erforschung deckt folgende Einzelheiten auf. Die Hundert-
    guldennote: Sie widmet einen Teil ihrer Zeit und ihres Ver-
    mögens wohltätigen Werken. Gemeinsam mit einer anderen
    Dame sorgt sie für die Erziehung eines verwaisten Kindes. Die
    hundert Gulden sind der ihr zugeschickte Beitrag jener Dame, den
    sie in ein Kuvert einschloß und vorläufig auf ihren Schreibtisch
    niederlegte.
     

    Die Besucherin war eine angesehene Dame, der sie bei einer
    anderen Wohltätigkeitsaktion beisteht. Diese Dame wollte eine
    Reihe Namen von Personen notieren, an die man sich um Unter-
    stützung wenden könnte. Es fehlte an Papier, da griff meine
    Patientin nach dem Kuvert auf ihrem Schreibtisch und riẞ es,
    ohne sich an seinen Inhalt zu besinnen, in zwei Stücke, von
    denen sie eines selbst behielt, um ein Duplikat der Namenliste
    zu haben, das andere ihrer Besucherin übergab. Man bemerke die
    Harmlosigkeit dieses unzweckmäßigen Vorgehens. Eine Hundert-
    guldennote erleidet bekanntlich keine Einbuße an ihrem Werte,
    wenn sie zerrissen wird, falls sie sich aus den Rißstücken voll-
    ständig zusammensetzen läßt. Daß die Dame das Stück Papier
    nicht wegwerfen würde, war durch die Wichtigkeit der darauf
    stehenden Namen verbürgt, und ebenso litt es keinen Zweifel,
    daß sie den wertvollen Inhalt zurückstellen würde, sobald sie ihn
    bemerkt hätte.
     

    Welchem unbewußten Gedanken sollte aber diese Zufalls-
    handlung, die sich durch ein Vergessen ermöglichte, Ausdruck
    geben? Die besuchende Dame hatte eine ganz bestimmte Be-
    ziehung zu unserer Kur. Es war dieselbe, die mich seinerzeit dem
    leidenden Mädchen als Arzt empfohlen, und wenn ich nicht irre,
    hält sich meine Patientin zum Danke für diesen Rat verpflichtet.
    Soll die halbierte Hundertguldennote etwa ein Honorar für diese
    Vermittlung darstellen? Das bliebe noch recht befremdlich.
     

    Es kommt aber anderes Material hinzu. Eines Tages vorher
    hatte eine Vermittlerin ganz anderer Art bei einer Verwandten
     

  • S.

    IX. Symptom- und Zufallshandlungen
     

    215
     

    angefragt, ob das gnädige Fräulein wohl die Bekanntschaft eines
    gewissen Herrn machen wolle, und am Morgen, einige Stunden
    vor dem Besuche der Dame, war der Werbebrief des Freiers
    eingetroffen, der viel Anlaß zur Heiterkeit gegeben hatte. Als
    nun die Dame das Gespräch mit einer Erkundigung nach dem
    Befinden meiner Patientin eröffnete, konnte diese wohl gedacht
    haben: „Den richtigen Arzt hast du mir zwar empfohlen, wenn
    du mir aber zum richtigen Manne (und dahinter: zu einem
    Kinde) verhelfen könntest, wäre ich dir doch dankbarer." Von
    diesem verdrängt gehaltenen Gedanken aus flossen ihr die beiden
    Vermittlerinnen in eins zusammen, und sie überreichte der
    Besucherin das Honorar, das ihre Phantasie der anderen zu geben
    bereit war. Völlig verbindlich wird diese Lösung, wenn ich hinzu-
    füge, daß ich ihr erst am Abend vorher von solchen Zufalls-
    oder Symptomhandlungen erzählt hatte. Sie bediente sich dann
    der nächsten Gelegenheit, um etwas Analoges zu produzieren.
     

    Eine Gruppierung der so überaus häufigen Zufalls- und
    Symptomhandlungen könnte man vornehmen, je nachdem sie
    gewohnheitsmäßig, regelmäßig unter gewissen Umständen oder
    vereinzelt erfolgen. Die ersteren (wie das Spielen mit der Uhr-
    kette, das Zwirbeln am Barte usw.), die fast zur Charakteristik
    der betreffenden Personen dienen können, streifen an die mannig-
    faltigen Tickbewegungen und verdienen wohl im Zusammenhange
    mit letzteren behandelt zu werden. Zur zweiten Gruppe rechne
    ich das Spielen, wenn man einen Stock, das Kritzeln, wenn man
    einen Bleistift in der Hand hält, das Klimpern mit Münzen in
    der Tasche, das Kneten von Teig und anderen plastischen Stoffen,
    allerlei Hantierungen an seiner Gewandung u. dgl. mehr. Unter
    diesen spielenden Beschäftigungen verbergen sich während der
    psychischen Behandlung regelmäßig Sinn und Bedeutung, denen
    ein anderer Ausdruck versagt ist. Gewöhnlich weiß die betreffende
    Person nichts davon, daß sie dergleichen tut, oder daß sie gewisse
    Modifikationen an ihrem gewöhnlichen Tändeln vorgenommen
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    216
     

    hat, und sie übersieht und überhört auch die Effekte dieser Hand-
    lungen. Sie hört z. B. das Geräusch nicht, das sie beim Klimpern
    mit Geldstücken hervorbringt, und benimmt sich wie erstaunt
    und ungläubig, wenn man sie darauf aufmerksam macht. Ebenso
    ist alles, was man, oft ohne es zu merken, mit seinen Kleidern
    vornimmt, bedeutungsvoll und der Beachtung des Arztes wert.
    Jede Veränderung des gewohnten Aufzugs, jede kleine Nach-
    lässigkeit, wie etwa ein nicht schließender Knopf, jede Spur von
    Entblößung will etwas besagen, was der Eigentümer der Kleidung
    nicht direkt sagen will, meist gar nicht zu sagen weiß. Die
    Deutungen dieser kleinen Zufallshandlungen sowie die Beweise
    für diese Deutungen ergeben sich jedesmal mit zureichender
    Sicherheit aus den Begleitumständen während der Sitzung, aus
    dem eben behandelten Thema und aus den Einfällen, die sich
    einstellen, wenn man die Aufmerksamkeit auf die anscheinende
    Zufälligkeit lenkt. Wegen dieses Zusammenhanges unterlasse ich
    es, meine Behauptungen durch Mitteilung von Beispielen mit
    Analyse zu unterstützen; ich erwähne diese Dinge aber, weil ich
    glaube, daß sie bei normalen Menschen dieselbe Bedeutung haben
    wie bei meinen Patienten.
     

    Ich kann es mir nicht versagen, an wenigstens einem Beispiel
    zu zeigen, wie innig eine gewohnheitsmäßig ausgeführte Symbol-
    handlung mit dem Intimsten und Wichtigsten im Leben eines
    Gesunden verknüpft sein kann':
     

    Wie Professor Freud uns gelehrt hat, spielt die Symbolik
    im kindlichen Leben des Normalen eine größere Rolle, als man
    nach früheren psychoanalytischen Erfahrungen erwartete: im Hin-
    blick darauf mag die folgende kurze Analyse von einigem Interesse
    sein, insbesondere wegen ihrer medizinischen Ausblicke.
     

    Ein Arzt stieß bei der Wiedereinrichtung seiner Möbel in einem
    neuen Heim auf ein einfaches' hölzernes Stethoskop. Nachdem
    er einen Augenblick nachgedacht hatte, wo er es denn eigentlich
     

    1) Jones, Beitrag zur Symbolik im Alltag. (Zentralblatt für Psychoanalyse, I, 5, 1911).
     

  • S.

    IX. Symptom- und Zufallshandlungen
     

    217
     

    unterbringen solle, fühlte er sich gedrängt, es seitlich auf seinen
    Schreibtisch zu stellen, und zwar so, daß es genau zwischen
    seinem Stuhl und dem, worin seine Patienten zu sitzen pflegten,
    zu stehen kam. Die Handlung als solche war aus zwei Gründen
    ein wenig seltsam. Erstens braucht er überhaupt nicht oft ein
    Stethoskop (er ist nämlich Neurologe), und sobald er eines nötig
    hat, benützt er ein doppeltes für beide Ohren. Zweitens waren
    alle seine medizinischen Apparate und Instrumente in Schubkästen
    untergebracht, mit alleiniger Ausnahme dieses einen. Gleichwohl
    dachte er nicht mehr an die Sache, bis ihn eines Tages eine
    Patientin, die noch nie ein,einfaches Stethoskop gesehen hatte,
    fragte, was das sei. Er sagte es ihr, und sie fragte, warum er
    es gerade hieher gestellt habe, worauf er schlagfertig erwiderte,
    daß dieser Platz ebensogut wäre wie jeder andere. Dies machte
    ihn jedoch stutzig und er begann nachzudenken, ob dieser Handlung
    nicht irgendeine unbewußte Motivierung zugrunde liege und, ver-
    traut mit der psychoanalytischen Methode, beschloß er, die Sache zu
    erforschen.
     

    Als erste Erinnerung fiel ihm die Tatsache ein, daß als Student
    der Medizin die Gewohnheit seines Spitalarztes auf ihn Eindruck
    gemacht hatte, der immerwährend ein einfaches Stethoskop bei
    seinen Besuchen in den Krankensälen in der Hand gehalten hatte,
    obgleich er es niemals benützte. Er hatte diesen Arzt sehr
    bewundert und war ihm außerordentlich zugetan. Später, als er
    selbst die Spitalpraxis ausübte, nahm er die gleiche Gewohnheit
    an und hätte sich unbehaglich gefühlt, wenn er durch ein Ver-
    sehen sein Zimmer verlassen hätte, ohne das Instrument in der
    Hand zu schwingen. Die Nutzlosigkeit dieser Gewohnheit zeigte
    sich jedoch nicht nur in der Tatsache, daß das einzige Stethoskop,
    welches er in Wirklichkeit benutzte, eines für beide Ohren war,
    das er in der Tasche trug, sondern auch darin, daß sie fort-
    gesetzt wurde, als er auf der chirurgischen Abteilung war und
    überhaupt kein Stethoskop mehr brauchte. Die Bedeutung dieser
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    218
     

    Beobachtungen wird sogleich klar, wenn wir auf die phallische
    Natur dieser symbolischen Handlung hinweisen.
     

    Als nächstes erinnerte er die Tatsache, daß ihn als kleinen
    Jungen die Gewohnheit seines Hausarztes frappiert hatte, ein
    einfaches Stethoskop im Innern seines Hutes zu tragen; er fand
    es interessant, daß der Doktor sein Hauptinstrument immer zur
    Hand habe, wenn er Patienten besuchen ging, und daß er nur
    den Hut (d. i. einen Teil seiner Kleidung) abzunehmen und,es
    herauszuziehen hatte. Er war als kleines Kind diesem Arzte
    überaus anhänglich gewesen und konnte kürzlich durch Selbst-
    analyse aufdecken, daß er im Alter von dreieinhalb Jahren eine
    doppelte Phantasie in betreff der Geburt einer jüngeren Schwester
    gehabt hatte: nämlich, daß sie das Kind war erstens
    selbst und seiner Mutter, zweitens vom Doktor und ihm selbst.
    In dieser Phantasie spielte er also sowohl die männliche wie die
    weibliche Rolle. Er erinnerte ferner, im Alter von sechs Jahren
    von demselben Arzt untersucht worden zu sein, und entsinnt
    sich deutlich der wollüstigen Empfindung, als er den Kopf des
    Doktors, der ihm das Stethoskop an die Brust drückte, in seiner
    Nähe fühlte, sowie der rhythmisch hin- und hergehenden Atmungs-
    bewegung. Im Alter von drei Jahren hatte er ein chronisches
    Brustübel gehabt und mußte wiederholt untersucht worden sein,
    wenn er das auch tatsächlich nicht mehr erinnern konnte.
     

    Im Alter von acht Jahren machte die Mitteilung eines älteren
    Knaben Eindruck auf ihn, der ihm sagte, es sei Sitte des Arztes,
    mit seinen Patientinnen zu Bette zu gehen. Es gab sicherlich in
    Wahrheit einen Grund zu diesem Gerüchte und auf alle Fälle
    waren die Frauen der Nachbarschaft, einschließlich seiner eigenen
    Mutter, dem jungen und netten Arzte sehr zugetan. Der Ana-
    lysierte selbst hatte bei verschiedenen Gelegenheiten sexuelle Ver-
    suchungen in bezug auf seine Patientinnen erfahren, hatte sich
    zweimal in solche verliebt und schließlich eine geheiratet. Es ist
    kaum zweifelhaft, daß seine unbewußte Identifizierung mit dem
     

  • S.

    IX. Symptom- und Zufallshandlungen
     

    219
     

    Doktor der hauptsächlichste Grund war, der ihn bewog, den Beruf
    des Mediziners zu ergreifen. Aus anderen Analysen läßt sich
    vermuten, daß dies sicherlich das häufigste Motiv ist (obgleich es
    schwer ist zu bestimmen, wie häufig). Im vorliegenden Falle war es
    zweifach bedingt: erstens durch die bei mehreren Gelegenheiten
    erwiesene Überlegenheit des Arztes dem Vater gegenüber, auf den
    der Sohn sehr eifersüchtig war, und zweitens durch des Doktors
    Kenntnis verbotener Dinge und Gelegenheiten zu sexueller Be-
    friedigung.
     

    Dann kam ein bereits anderwärts veröffentlichter Traum von
    deutlich homosexuell-masochistischer Natur, in welchem ein Mann,
    der eine Ersatzfigur des Arztes ist, den Träumer mit einem
    ,,Schwert" angriff. Das Schwert erinnerte ihn an eine Geschichte
    in der Völsung-Nibelungen-Sage, wo Sigurd ein bloßes Schwert
    zwischen sich und die schlafende Brünhilde legt. Die gleiche
    Geschichte kommt in der Arthus-Sage vor, die unser Mann eben-
    falls genau kennt.
     

    Der Sinn der Sypmtomhandlung wird nun klar. Der Arzt hatte
    das einfache Stethoskop zwischen sich und seine Patientinnen
    gestellt, genau so wie Sigurd sein Schwert zwischen sich und die
    Frau legte, die er nicht berühren durfte. Die Handlung war eine
    Kompromißbildung; sie diente zweierlei Regungen: in seiner Ein-
    bildung dem unterdrückten Wunsche nachzugeben, mit irgend-
    einer reizenden Patientin in sexuelle Beziehungen zu treten, ihn
    aber zugleich zu erinnern, daß dieser Wunsch nicht verwirklicht
    werden konnte. Es war sozusagen ein Zauber gegen die An-
    fechtungen der Versuchung.
     

    Ich möchte hinzufügen, daß auf den Knaben die Stelle aus
    Lord Lyttons,Richelieu' großen Eindruck machte:
     

    ,Beneath the rule of men entirely great
     

    The pen is mightier than the sword",
     

    1) Freuds Theory of Dreams", American Journ. of Psychol., April 1910, p. 301, Nr. 7.
    2) Vgl. Oldhams „I wear my pen as others do their sword".
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    220
     

    daß er ein fruchtbarer Schriftsteller geworden ist und eine außer-
    gewöhnlich große Füllfeder benützt. Als ich ihn fragte, wozu er
    dies nötig habe, erwiderte er charakteristischerweise: ,Ich habe
    soviel auszudrücken."
     

    Diese Analyse mahnt uns wieder einmal daran, welch weit-
    reichende Einblicke in das Seelenleben uns die,harmlosen und
    ,sinnlosen Handlungen gewähren, und wie frühzeitig im Leben
    die Tendenz zur Symbolisierung entwickelt ist."
     

    Ich kann noch etwa aus meiner psychotherapeutischen
    Erfahrung einen Fall erzählen, in dem die mit einem Klumpen
    Brotkrume spielende Hand eine beredte Aussage ablegte. Mein Patient
    war ein noch nicht 15jähriger, seit fast zwei Jahren schwer hysteri-
    scher Knabe, den ich endlich in psychoanalytische Behandlung
    nahm, nachdem ein längerer Aufenthalt in einer Wasserheilanstalt
    sich erfolglos erwiesen hatte. Er mußte nach meiner Voraus-
    setzung sexuelle Erfahrungen gemacht haben und seiner Alters-
    stufe entsprechend von sexuellen Fragen gequält sein; ich hütete
    mich aber, ihm mit Aufklärungen zu Hilfe zu kommen, weil
    ich wieder einmal eine Probe auf meine Voraussetzungen anstellen
    wollte. Ich durfte also neugierig sein, auf welchem Wege sich
    das Gesuchte bei ihm andeuten würde. Da fiel es mir auf, daß
    er eines Tages irgend etwas zwischen den Fingern der rechten
    Hand rollte, damit in die Tasche fuhr, dort weiter spielte, es
    wieder hervorzog usw. Ich fragte nicht, was er in der Hand habe; er
    zeigte es mir aber, indem er plötzlich die Hand öffnete. Es war
    Brotkrume, die zu einem Klumpen zusammengeknetet war. In
    der nächsten Sitzung brachte er wieder einen solchen Klumpen
    mit, formte aber aus ihm, während wir das Gespräch führten,
    mit unglaublicher Raschheit und bei geschlossenen Augen Figuren,
    die mein Interesse erregten. Es waren unzweifelhaft Männchen
    mit Kopf, zwei Armen, zwei Beinen, wie die rohesten prähisto-
    rischen Idole, und einen Fortsatz zwischen beiden Beinen, den er
    in eine lange Spitze auszog. Kaum daß dieser fertig war, knetete
     

  • S.

    IX. Symptom- und Zufallshandlungen
     

    221
     

    er das Männchen wieder zusammen; später ließ er es bestehen,
    zog aber einen ebensolchen Fortsatz an der Rückenfläche und an
    anderen Stellen aus, um die Bedeutung des ersten zu verhüllen.
    Ich wollte ihm zeigen, wie ich ihn verstanden hatte, ihm aber
    dabei die Ausflucht benehmen, daß er sich bei dieser menschen-
    formenden Tätigkeit nichts gedacht habe. In dieser Absicht fragte
    ich ihn plötzlich, ob er sich an die Geschichte jenes römischen
    Königs erinnere, der dem Abgesandten seines Sohnes eine panto-
    mimische Antwort im Garten gegeben. Der Knabe wollte sich
    nicht an das erinnern, was er doch vor so viel kürzerer Zeit als
    ich gelernt haben mußte. Er fragte, ob das die Geschichte von
    dem Sklaven sei, auf dessen glattrasierten Schädel man die Ant-
    wort geschrieben habe. Nein, das gehört in die griechische
    Geschichte, sagte ich und erzählte: Der König Tarquinius Superbus
    hatte seinen Sohn Sextus veranlaßt, sich in eine feindliche
    latinische Stadt einzuschleichen. Der Sohn, der sich unterdes
    Anhang in dieser Stadt verschafft hatte, schickte einen Boten an den
    König mit der Frage, was nun weiter geschehen solle. Der König
    gab keine Antwort, sondern ging in seinen Garten, ließ sich dort
    die Frage wiederholen und schlug schweigend die größten und
    schönsten Mohnköpfe ab. Dem Boten blieb nichts übrig, als dieses
    dem Sextus zu berichten, der den Vater verstand und es sich
    angelegen sein ließ, die angesehensten Bürger der Stadt durch
    Mord zu beseitigen.
     

    Während ich redete, hielt der Knabe in seinem Kneten inne,
    und als ich mich anschickte zu erzählen, was der König in seinem
    Garten tat, schon bei den Worten schlug schweigend", hatte er
    mit einer blitzschnellen Bewegung seinem Männchen den Kopf
    abgerissen. Er hatte mich also verstanden und gemerkt, daß
    er von mir verstanden worden war. Ich konnte ihn nun
    direkt befragen, gab ihm die Auskünfte, um die es ihm zu
    tun war, und wir hatten binnen kurzem der Neurose ein
    Ende gemacht.
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    222
     

    Die Symptomhandlungen, die man in fast unerschöpflicher
    Reichhaltigkeit bei Gesunden wie bei Kranken beobachten kann,
    verdienen unser Interesse aus mehr als einem Grunde. Dem Arzt
    dienen sie oft als wertvolle Winke zur Orientierung in neuen
    oder ihm wenig bekannten Verhältnissen, dem Menschenbeobachter
    verraten sie oft alles, und mitunter selbst mehr, als er zu wissen
    wünscht. Wer mit ihrer Würdigung vertraut ist, darf sich
    gelegentlich wie der König Salomo vorkommen, der nach der
    orientalischen Sage die Sprache der Tiere verstand. Eines Tages
    sollte ich einen mir fremden jungen Mann im Hause seiner
    Mutter ärztlich untersuchen. Als er mir entgegentrat, fiel mir ein
    großer Eiweißfleck, kenntlich an seinen eigentümlich starren
    Rändern, auf seiner Hose auf. Der junge Mann entschuldigte sich
    nach kurzer Verlegenheit, er habe sich heiser gefühlt und darum
    ein rohes Ei getrunken, von dem wahrscheinlich etwas schlüpf-
    riges Eiweiß auf seine Kleidung herabgeronnen sei, und konnte
    zur Bestätigung auf die Eierschale hinweisen, die noch auf einem
    Tellerchen im Zimmer zu sehen war. Somit war der suspekte
    Fleck in harmloser Weise aufgeklärt; als aber die Mutter uns
    allein gelassen hatte, dankte ich ihm, daß er mir die Diagnose
    so sehr erleichtert habe, und nahm ohne weiteres sein Geständnis,
    daß er unter den Beschwerden der Masturbation leide, zur Grund-
    lage unserer Unterhaltung. Ein anderes Mal machte ich einen
    Besuch bei einer ebenso reichen wie geizigen und närrischen
    Dame, die dem Arzte die Aufgabe zu stellen pflegte, sich durch
    ein Heer von Klagen durchzuarbeiten, ehe man zur simplen
    Begründung ihrer Zustände gelangte. Als ich eintrat, saß sie bei
    einem Tischchen damit beschäftigt, Silbergulden in Häufchen zu
    schichten, und während sie sich erhob, warf sie einige der Geld-
    stücke zu Boden. Ich half ihr beim Aufklauben derselben, unter-
    brach sie bald in der Schilderung ihres Elends und fragte: Hat
    sie also der vornehme Schwiegersohn um so viel Geld gebracht?
    Sie antwortete mit erbitterter Verneinung, um die kürzeste Zeit
     

  • S.

    IX. Symptom- und Zufallshandlungen
     

    223
     

    nachher die klägliche Geschichte von der Aufregung über die Ver-
    schwendung des Schwiegersohnes zu erzählen, hat mich aber
    allerdings seither nicht wieder gerufen. Ich kann nicht behaupten,
    daß man sich immer Freunde unter denen wirbt, denen man die
    Bedeutung ihrer Symptomhandlungen mitteilt.
     

    Ein anderes „Eingeständnis durch Fehlhandlung" berichtet
    Dr. J. E. G. van Emden (Haag): „Beim Zahlen in einem
    kleinen Restaurant in Berlin behauptete der Kellner, daß der
    Preis einer bestimmten Speise des Krieges wegen
    10 Pfennig erhöht worden war; meine Bemerkung, warum das
    auf der Preisliste nicht angezeigt worden war, beantwortete er
    mit der Erwiderung, daß dies offenbar eine Unterlassung sein
    müßte, daß es aber gewiß so war! Beim Einstecken des Betrages
    war er ungeschickt und ließ ein Zehnpfennigstück gerade für
    mich auf den Tisch niederfallen!!
     

    - um
     

    ,Jetzt weiß ich aber sicher, daß Sie mir zuviel gerechnet haben,
    wollen Sie, daß ich mich an der Kasse erkundige?"
     

    ,Bitte, gestatten Sie ... einen Moment ... und fort war
    er schon.
     

    Selbstverständlich gönnte ich ihm den Rückzug und, nachdem
    er zwei Minuten später sich entschuldigte, unbegreiflicherweise
    mit einer anderen Speise im Irrtum gewesen zu sein, die zehn
    Pfennige als Belohnung für seinen Beitrag zur Psychopathologie
    des Alltagslebens."
     

    Wer seine Nebenmenschen während des Essens beobachten
    will, wird die schönsten und lehrreichsten Symptomhandlungen
    an ihnen feststellen können.
     

    So erzählt Dr. Hanns Sachs:
     

    „Ich war zufällig zugegen, als ein älteres Ehepaar meiner
    Verwandtschaft das Abendessen einnahm. Die Dame war magen-
    leidend und mußte sehr strenge Diät halten. Dem Manne war
    eben ein Braten vorgesetzt worden, und er bat seine Frau,
    die sich an dieser Speise nicht beteiligen durfte, um den Senf.
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    224
     

    Die Frau öffnete den Schrank, griff hinein und stellte vor ihren
    Mann das Fläschchen mit ihren Magentropfen auf den Tisch.
    Zwischen dem faßförmigen Senfglase und dem kleinen Tropf-
    fläschchen bestand natürlich keine Ähnlichkeit, aus der der Miß-
    griff erklärt werden konnte; trotzdem bemerkte die Frau ihre
    Verwechslung erst, als der Gatte sie lachend darauf aufmerksam
    machte. Der Sinn der Symptomhandlung bedarf keiner Erklärung."
    Ein köstliches Beispiel dieser Art, das vom Beobachter sehr
    geschickt ausgebeutet wurde, verdanke ich Dr. Bernh. Dattner.
    (Wien):
     

    „Ich sitze mit meinem Kollegen von der Philosophie, Dr. H.,
    im Restaurant beim Mittagessen. Er erzählt von den Unbilden
    der Probekandidatur, erwähnt nebenbei, daß er vor der Beendigung
    seiner Studien beim Gesandten, resp. bevollmächtigen außerordent-
    lichen Minister von Chile als Sekretär untergekommen war.
    ,Dann wurde aber der Minister versetzt und dem neu antretenden
    habe ich mich nicht vorgestellt. Und während er diesen letzten
    Satz ausspricht, führt er ein Stück Torte zum Munde, läßt es
    aber, wie aus Ungeschicklichkeit, vom Messer herabfallen. Ich
    erfasse sofort den geheimen Sinn dieser Symptomhandlung und
    werfe dem mit der Psychoanalyse nicht vertrauten Kollegen wie
    von ungefähr ein:,Da haben Sie aber einen fetten Bissen fallen
    lassen. Er aber merkt nicht, daß sich meine Worte ebensogut
    auf seine Symptomhandlung beziehen können, und wiederhole
    mit einer sonderbar anmutenden, überraschenden Lebhaftigkeit,
    so als hätte ich ihm förmlich das Wort aus dem Munde genommen,
    gerade dieselben Worte, die ich ausgesprochen: Ja, das
    wirklich ein fetter Bissen, den ich fallen gelassen habe und
    erleichtert sich dann durch eine erschöpfende Darstellung seiner
    Ungeschicklichkeit, die ihn um diese gut bezahlte Stellung
    gebracht hat.
     

    66
     

    Der Sinn der symbolischen Symptomhandlung erleuchtet sich
    wenn man ins Auge faßt, daß der Kollege Skrupel empfand, mir,
     

  • S.

    IX. Symptom- und Zufallshandlungen
     

    225
     

    der ihm ziemlich ferne steht, von seiner prekären materiellen
    Situation zu erzählen, daß sich dann der vordrängende Gedanke
    in eine Symptomhandlung kleidete, die symbolisch ausdrückt, was
    hätte verborgen werden sollen, und somit dem Sprecher aus dem
    Unbewußten Erleichterung schuf.“
     

    Wie sinnreich sich ein scheinbar nicht beabsichtigtes Weg-
    nehmen oder Mitnehmen herausstellen kann, mögen folgende
    Beispiele zeigen.
     

    Dr. B. Dattner: „Ein Kollege stattet seiner verehrten Jugend-
    freundin das erstemal nach ihrer Eheschließung einen Besuch ab.
    Er erzählt mir von dieser Visite und drückt mir sein Erstaunen
    darüber aus, daß es ihm nicht gelungen sei, nur ganz kurze
    Zeit, wie er es vor hatte, bei ihr zu verweilen. Dann aber
    berichtet er von einer sonderbaren Fehlleistung, die ihm dort
    zugestoßen sei. Der Mann seiner Freundin, der am Gespräche
    teilgenommen habe, hätte eine Zündhölzchenschachtel gesucht, die
    ganz bestimmt bei seiner Ankunft auf der Tischplatte gelegen sei.
    Auch der Kollege habe seine Taschen durchsucht, ob er,sie
    nicht zufällig eingesteckt habe, doch vergebens. Geraume Zeit
    danach habe er sie tatsächlich in seiner Tasche entdeckt, wobei
    ihm aufgefallen sei, daß nur ein einziges Zündhölzchen in der
    Schachtel gelegen war. Ein paar Tage später bestätigt ein
    Traum, der die Schachtelsymbolik aufdringlich zeigt und sich mit
    der Jugendfreundin beschäftigt, meine Erklärung, daß der Kollege
    mit seiner Symptomhandlung Prioritätsrechte reklamieren und die
    Ausschließlichkeit seines Besitzes (nur ein Zündhölzchen drinnen)
     

    darstellen wollte."
     

    Dr. Hanns Sachs: „Unser Mädchen ißt eine bestimmte Torte
    besonders gern. An dieser Tatsache ist kein Zweifel möglich, denn
    es ist die einzige Speise, die sie ausnahmslos gut zubereitet. Eines
    Sonntags brachte sie uns eben diese Torte, stellte sie auf der
    Kredenz ab, nahm die beim vorigen Gang benützten Teller und
    Bestecke und häufte sie auf die Tasse, auf der sie die Torte
     

    Freud, IV.
     

    15
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    226
     

    hereingetragen hatte; auf die Spitze dieses Haufens placierte sie
    dann wieder die Torte, anstatt sie uns vorzusetzen, und verschwand
    damit in die Küche. Wir meinten zuerst, sie habe an der Torte
    irgend etwas zu verbessern gefunden, da sie aber nicht wieder
    erschien, läutete meine Frau und fragte:,Betty, was ist denn mit
    der Torte los Darauf das Mädchen ohne Verständnis: Wieso?"
    Wir mußten sie erst darüber aufklären, daß sie die Torte wieder
    mitgenommen habe; sie hatte sie aufgeladen, hinausgetragen und
    wieder abgestellt, ,ohne es zu bemerken'. Am nächsten Tage,
     

    als wir uns daran machten, den Rest dieser Torte zu verzehren,
    bemerkte meine Frau, daß nicht weniger vorhanden war, als wir
    am Vortag übrig gelassen hatten, daß also das Mädchen das ihr
    gebührende Stück der Lieblingsspeise verschmäht hatte. Auf die
    Frage, warum sie nichts von der Torte gegessen habe, antwortete
    sie leicht verlegen, sie habe keine Lust gehabt. Die infantile
    Einstellung ist beide Male sehr deutlich; erst die kindliche Maß-
    losigkeit, die das Ziel der Wünsche mit niemandem teilen will,
    dann die ebenso kindliche Reaktion mit Trotz: wenn ihr es mir
    nicht gönnt, so behaltet es für euch, ich will jetzt gar nichts
    haben."
     

    Die Zufalls- oder Symptomhandlungen, die sich in Ehesachen
    ereignen, haben oft die ernsteste Bedeutung und könnten den,
    der sich um die Psychologie des Unbewußten nicht bekümmern.
    will, zum Glauben an Vorzeichen nötigen. Es ist kein guter
    Anfang, wenn eine junge Frau auf der Hochzeitsreise ihren Ehe-
    ring verliert, doch war er meist nur verlegt und wird bald
    wiedergefunden. Ich kenne eine jetzt von ihrem Manne
     

    geschiedene Dame, die bei der Verwaltung ihres Vermögens
    Dokumente häufig mit ihrem Mädchennamen unterzeichnet hat,
    viele Jahre vorher, ehe sie diesen wirklich wieder annahm.
    Einst war ich als Gast bei einem jung verheirateten Paare und
    hörte die junge Frau lachend ihr letztes Erlebnis erzählen, wie
    sie am Tage nach der Rückkehr von der Reise wieder ihre ledige
     

  • S.

    IX. Symptom- und Zufallshandlungen
     

    227
     

    Schwester aufgesucht hätte, um mit ihr, wie in früheren Zeiten,
    Einkäufe zu machen, während der Ehemann seinen Geschäften
    nachging. Plötzlich sei ihr ein Herr auf der anderen Seite der
    Straße aufgefallen, und sie habe ihre Schwester anstoßend gerufen:
    Schau, dort geht ja der Herr L. Sie hatte vergessen, daß dieser
    Herr seit einigen Wochen ihr Ehegemahl war. Mich überlief es
    kalt bei dieser Erzählung, aber ich getraute mich der Folgerung
    nicht. Die kleine Geschichte fiel mir erst Jahre später wieder ein,
    nachdem diese Ehe den unglücklichsten Ausgang genommen hatte.
     

    Den beachtenswerten, in französischer Sprache veröffentlichten
    Arbeiten von A. Maeder¹ in Zürich entnehme ich folgende
    Beobachtung, die ebensowohl einen Platz beim "Vergessen"
     

    verdient hätte:
     

    Une dame nous racontait récemment qu'elle avait oublie
    d'essayer sa robe de noce et s'en souvint la veille du mariage à
    huit heures du soir, la couturière désespérait de voir sa cliente.
    Ce détail suffit à montrer que la fiancée ne se sentait pas très
    heureuse de porter une robe d'épouse, elle cherchait à oublier
    cette représentation pénible. Elle est aujourd'hui... divorcée."
     

    "
     

    Von der großen Schauspielerin Eleonora Duse erzählte mir
    ein Freund, der auf Zeichen achten gelernt hat, sie bringe in
    einer ihrer Rollen eine Symptomhandlung an, die so recht zeige,
    aus welcher Tiefe sie ihr Spiel heraufhole. Es ist ein Ehe-
    bruchsdrama; sie hat eben eine Auseinandersetzung mit ihrem
    Manne gehabt und steht nun in Gedanken abseits, ehe sich
    ihr der Versucher nähert. In diesem kurzen Intervall spielt sie
    mit dem Ehering an ihrem Finger, zieht ihn ab, um ihn wieder
    anzustecken, und zieht ihn wieder ab. Sie ist nun reif für den
    anderen.
     

    Hier schließt an, was Th. Reik von anderen Symptomhand-
    lungen mit Ringen erzählt.
     

    1) Alph. Maeder, Contributions à la psychopathologie de la vie quotidienne,
    Archives des Psychologie, T. VI, 1906.
     

    15*
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    228
     

    ,Wir kennen die Symptomhandlungen, welche Eheleute aus-
    führen, indem sie den Trauring abziehen und wieder anstecken.
    Eine Reihe ähnlicher Symptomhandlungen produzierte mein
    Kollege M. Er hatte von einem von ihm geliebten Mädchen
    einen Ring zum Geschenk erhalten, mit dem Bemerken, er dürfe
    ihn nicht verlieren, sonst wisse sie, daß er sie nicht mehr lieb
    habe. Er entfaltete in der Folgezeit eine erhöhte Besorgnis, er
    könnte den Ring verlieren. Hatte er ihn zeitweilig, z. B. beim
    Waschen abgelegt, so war er regelmäßig verlegt, so daß es oft
    langen Suchens bedurfte, um ihn wieder zu erlangen. Wenn er
    einen Brief in den Postkasten warf, konnte er die leise Angst
    nicht unterdrücken, der Ring könnte
    könnte von den Rändern des
    Briefkastens abgezogen werden. Einmal hantierte er wirklich so
    ungeschickt, daß der Ring in den Kasten fiel. Der Brief, den er
    bei dieser Gelegenheit absandte, war ein Abschiedsschreiben an
    eine frühere Geliebte von ihm gewesen, und er fühlte sich ihr
    gegenüber schuldig. Gleichzeitig erwachte in ihm Sehnsucht nach
    dieser Frau, welche mit seiner Neigung zu seinem jetzigen Liebes-
    objekt in Konflikt kam." (Internat. Zeitschrift f. Psychoanalyse,
    III, 1915.)
     

    "
     

    An dem Thema des „Ringes" kann man sich wieder einmal
    den Eindruck holen, wie schwer es für den Psychoanalytiker ist,
    etwas Neues zu finden, was nicht ein Dichter vor ihm gewußt
    hätte. In Fontanes Roman ,Vor dem Sturm" sagt Justizrat
    Turgany während eines Pfänderspieles: „Wollen Sie es glauben,
    meine Damen, daß sich die tiefsten Geheimnisse der Natur in
    der Abgabe der Pfänder offenbaren." Unter den Beispielen, mit
    denen er seine Behauptung erhärtet, verdient eines unser
    besonderes Interesse: „Ich entsinne mich einer im Embonpointalter
    stehenden Professorenfrau, die mal auf mal ihren Trauring als
    Pfand vom Finger zog. Erlassen Sie mir, Ihnen das eheliche
    Glück des Hauses zu schildern." Er setzt dann fort: „In derselben
    Gesellschaft befand sich ein Herr, der nicht müde wurde, sein
     

  • S.

    IX. Symptom- und Zufallshandlungen
     

    229
     

    englisches Taschenmesser, zehn Klingen mit Korkzieher und
    Feuerstahl, in den Schoß der Dame zu deponieren, bis das
    Klingenmonstrum, nach Zerreißung mehrerer Seidenkleider, endlich
    vor dem allgemeinen Entrüstungsschrei verschwand."
     

    Es wird uns nicht wundernehmen, daß ein Objekt von so
    reicher symbolischer Bedeutung wie ein Ring auch dann zu
    sinnreichen Fehlhandlungen verwendet wird, wenn es nicht als
    Ehe- oder Verlobungsring die erotische Bindung bezeichnet.
    Dr. M. Kardos hat mir nachstehendes Beispiel eines derartigen
    Vorkommnisses zur Verfügung gestellt:
     

    Vor mehreren Jahren hat sich mir ein um vieles jüngerer
    Mann angeschlossen, der meine geistigen Bestrebungen teilt und zu
    mir etwa im Verhältnis eines Schülers zu seinem Lehrer steht.
    Ich habe ihm zu einer bestimmten Gelegenheit einen Ring
    geschenkt, und dieser hat ihm schon mehreremal Gelegenheit zu
    Symptom-, resp. Fehlhandlungen gegeben, sobald in
    Beziehungen irgend etwas seine Mißbilligung gefunden hatte. Vor
    kurzem wußte er mir folgenden, besonders hübschen und durch-
    sichtigen Fall zu berichten: Er war von einer einmal wöchentlich
    stattfindenden Zusammenkunft, bei der er mich regelmäßig zu sehen
    und zu sprechen pflegte, unter irgendeinem Vorwand ausgeblieben,
    da ihm eine Verabredung mit einer jungen Dame wünschens-
    werter erschienen war. Am darauffolgenden Vormittag bemerkte
    er, aber erst, als er schon längst das Haus verlassen hatte, daß
    er den Ring nicht am Finger trage. Er beunruhigte sich darüber
    nicht weiter, da er annahm, er habe ihn daheim auf dem Nacht-
    kästchen, wo er ihn jeden Abend hinlegte, vergessen und werde
    ihn beim Nachhausekommen dort finden. Er sah auch gleich
    nach der Heimkehr nach ihm, aber vergeblich, und begann nun,
    ebenso erfolglos, das Zimmer zu durchsuchen. Endlich fiel ihm
    ein, daß der Ring wie übrigens schon seit mehr als einem
    Jahre auf dem Nachtkästchen neben einem kleinen Messerchen
    gelegen sei, das er in der Westentasche zu tragen gewohnt war;
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    230
     

    so verfiel er auf die Vermutung, er könnte,aus Zerstreutheit'
    den Ring mit dem Messer eingesteckt haben. Er griff also in
    die Tasche und fand dort wirklich den gesuchten Ring.
    Ehering in der Westentasche' ist die sprichwörtliche Aufbewahrungs-
    art für den Ring, wenn der Mann die Frau, von der er ihn
    empfangen hat, zu betrügen beabsichtigt. Sein Schuldgefühl hat
    ihn also zunächst zur Selbstbestrafung (Du verdienst es nicht
    mehr, diesen Ring zu tragen), in zweiter Linie zu dem Ein-
    geständnis seiner Untreue veranlaßt, allerdings bloß in der Form
    einer Fehlhandlung, die keinen Zeugen hatte. Erst auf dem
    Umweg über den Bericht davon der allerdings voraussehbar
    kam es zum Eingeständnis der begangenen kleinen
     

    ,Der
     

    war
     

    ,Untreue'."
     

    Ich weiß auch von einem älteren Herrn, der ein sehr junges
    Mädchen zur Frau nahm und die Hochzeitsnacht anstatt abzureisen
    in einem Hotel der Großstadt zuzubringen gedachte. Kaum im
    Hotel angelangt, merkte er mit Schrecken, daß er seine Brief-
    tasche, in der sich die ganze für die Hochzeitsreise bestimmte
    Geldsumme befand, vermisse, also verlegt oder verloren habe. Es
    gelang noch, den Diener telephonisch zu erreichen, der das
    Vermiẞte in dem abgelegten Rock des Hochzeiters auffand und
    dem Harrenden, der so ohne Vermögen in die Ehe gegangen
    war, ins Hotel brachte. Er konnte also am nächsten Morgen die
    Reise mit seiner jungen Frau antreten; in der Nacht selbst war
    er, wie seine Befürchtung vorausgesehen hatte, „unvermögend"
    geblieben.
     

    Es ist tröstlich zu denken, daß das ,,Verlieren" der Menschen
    in ungeahnter Ausdehnung Symptomhandlung und somit wenigstens
    einer geheimen Absicht des Verlustträgers willkommen ist. Es
    ist oft nur ein Ausdruck der geringen Schätzung des verlorenen
    Gegenstandes oder einer geheimen Abneigung gegen denselben
    oder gegen die Person, von der er herstammt, oder die Verlust-
    neigung hat sich auf diesen Gegenstand durch symbolische Gedanken-
     

  • S.

    IX. Symptom- und Zufallshandlungen
     

    231
     

    verbindung von anderen und bedeutsameren Objekten her über-
    tragen. Das Verlieren wertvoller Dinge dient mannigfachen
    Regungen zum Ausdruck, es soll entweder einen verdrängten
    Gedanken symbolisch darstellen, also eine Mahnung wiederholen,
    die man gern überhören möchte, oder es soll und dies vor
    allem anderen den dunklen Schicksalsmächten Opfer bringen,
    deren Dienst auch unter uns noch nicht erloschen ist.
     

    Zur Erläuterung dieser Sätze über das Verlieren nur einige
    Beispiele:
     

    Dr. B. Dattner: „Ein Kollege berichtet mir, daß er seinen
    Penkalastift, den er bereits über zwei Jahre besessen habe und
    der ihm seiner Vorzüge wegen sehr wertvoll geworden sei,
    unvermutet verloren habe. Die Analyse ergab folgenden Tatbestand:
    Am Tage vorher hatte der Kollege von seinem Schwager einen
    empfindlich unangenehmen
    unangenehmen Brief erhalten, dessen Schlußsatz
    folgendermaßen lautete: ,Ich habe vorläufig weder Lust noch Zeit,
    Deinen Leichtsinn und Deine Faulheit zu unterstützen.' Der Affekt,
    der sich an diesen Brief knüpfte, war so mächtig, daß der Kollege
    prompt am nächsten Tage den Penkala, ein Geschenk diesest
    Schwagers, opferte, um durch dessen Gnade nicht allzusehr
    beschwert zu sein."
     

    Eine mir bekannte Dame hat sich, wie begreiflich, während
    der Trauer um ihre alte Mutter des Theaterbesuches enthalten.
    Es fehlen jetzt nur noch wenige Tage bis zum Ablauf des Trauer-
    jahres, und sie läßt sich durch das Zureden ihrer Bekannten be-
    wegen, eine Theaterkarte für eine besonders interessante Vorstellung
    zu nehmen. Vor dem Theater angelangt, macht sie die Entdeckung,
    daß sie die Karte verloren hat. Sie meint später, daß sie die-
    selbe mit der Tramwaykarte weggeworfen hatte, als sie aus dem
    Wagen ausstieg. Dieselbe Dame rühmt sich, nie etwas aus
    Unachtsamkeit zu verlieren.
     

    Man darf also annehmen, daß auch ein anderer Fall von Ver-
    lieren, den sie erlebte, nicht ohne gute Motivierung war.
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    232
     

    In einem Kurorte angekommen, entschließt sie sich, eine Pension
    zu besuchen, in der sie ein früheres Mal gewohnt hatte. Sie wird
    dort als alte Bekannte aufgenommen, bewirtet und erfährt, als sie
    bezahlen will, daß sie sich als Gast zu betrachten habe, was ihr
    nicht ganz recht ist. Es wird ihr zugestanden, daß sie etwas für
    das servierende Mädchen zurücklassen darf, und sie öffnet ihre
    Börse, um einen Markschein auf den Tisch zu legen. Am Abend
    bringt ihr der Diener der Pension einen Fünfmarkschein, der sich
    unter dem Tisch gefunden und nach der Meinung der Pensions-
    inhaberin dem Fräulein gehören dürfte. Den hatte sie also aus
    der Börse fallen lassen, als sie ihr das Trinkgeld für das Mädchen
    entnahm. Wahrscheinlich wollte sie doch ihre Zeche bezahlen.
     

    Otto Rank hat in einer längeren Mitteilung' die diesem
    Akte zugrunde
    zugrunde liegende Opferstimmung und dessen tiefer
    reichende Motivierungen mit Hilfe von Traumanalysen durchsichtig
    gemacht. Interessant ist es dann, wenn er hinzufügt, daß manch-
    mal nicht nur das Verlieren, sondern auch das Finden von
    Gegenständen determiniert erscheint. In welchem Sinne dies zu
    verstehen ist, mag aus seiner Beobachtung, die ich hieher setze,
    hervorgehen. Es ist klar, daß beim Verlieren das Objekt bereits
    gegeben ist, das beim Finden erst gesucht werden muß.
     

    „Ein materiell von seinen Eltern abhängiges junges Mädchen
    will sich ein billiges Schmuckstück kaufen. Sie fragt im Laden
    nach dem Preise des ihr zusagenden Objekts, erfährt aber zu
    ihrem Betrüben, daß es mehr kostet, als ihre Ersparnisse betragen.
    Und doch sind es nur zwei Kronen, deren Fehlen ihr diese kleine
    Freude verwehrt. In gedrückter Stimmung schlendert sie durch
    die abendlich belebten Straßen der Stadt nach Hause. Auf
    einem der stärkst frequentierten Plätze wird sie plötzlich obwohl
    sie ihrer Angabe nach tief in Gedanken versunken war auf
     

    1) Das Verlieren als Symptomhandlung, Zentralbl. für Psychoanalyse I, 10/11.
    2) Andere Mitteilungen desselben Inhalts im Zentralblatt für Psychoanalyse, II,
    und Internat. Zeitschrift für Psychoanalyse, I, 1915.
     

  • S.

    IX. Symptom- und Zufallshandlungen
     

    233
     

    ein am Boden liegendes kleines Blättchen aufmerksam, das sie
    eben achtlos passiert hatte. Sie wendet sich um, hebt es auf und
    bemerkt zu ihrem Erstaunen, daß es ein zusammengefalteter
    Zweikronenschein ist. Sie denkt sich das hat mir das Schicksal
    zugeschickt, damit ich mir den Schmuck kaufen kann, und macht
    erfreut Kehrt, um diesem Winke zu folgen. Im selben Moment
    aber sagt sie sich, sie dürfe das doch nicht tun, weil das
    gefundene Geld ein Glücksgeld ist, das man nicht ausgeben darf.
     

    Das Stückchen Analyse, das zum Verständnis dieser Zufalls-
    handlung gehört, darf man wohl auch ohne persönliche Auskunft
    der Betroffenen aus der gegebenen Situation erschließen. Unter
    den Gedanken, die das Mädchen beim Nachhausegehen beschäftigten,
    wird sich wohl der ihrer Armut und materiellen Einschränkung
    im Vordergrunde befunden haben, und zwar, wie wir vermuten
    dürfen, im Sinne der
    Sinne der wunscherfüllenden Aufhebung ihrer
    drückenden Verhältnisse. Die Idee, wie man auf leichteste Weise
    zu diesem fehlenden Geldbetrag kommen könnte, wird ihrem auf
    Befriedigung ihres bescheidenen Wunsches gerichteten Interesse
    kaum ferngeblieben sein und ihr die einfachste Lösung des
    Findens nahegebracht haben. Solcherart war ihr Unbewußtes
    (oder Vorbewußtes) auf,Finden eingestellt, selbst
    Gedanke daran ihr wegen anderweitiger Inanspruchnahme ihrer
    Aufmerksamkeit (,in Gedanken versunken') nicht voll bewußt.
    geworden sein sollte. Ja wir dürfen auf Grund ähnlicher analy-
    sierter Fälle geradezu behaupten, daß die unbewußte Such-
    Bereitschaft viel eher zum Erfolg zu
    zu führen vermag als die
    bewußt gelenkte Aufmerksamkeit. Sonst wäre es auch kaum
    erklärlich, wieso gerade diese eine Person von den vielen Hunderten
    Vorübergehenden, noch dazu unter den erschwerenden Umständen
    der ungünstigen Abendbeleuchtung und der dichtgedrängten Menge,
    den für sie selbst überraschenden Fund machen konnte. In welch
    starkem Ausmaß diese un- oder vorbewußte Bereitschaft tatsächlich
    bestand, zeigt die sonderbare Tatsache, daß das Mädchen noch
     

    der
     

    --
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    234
     

    nach diesem Funde, also nachdem die Einstellung bereits über-
    flüssig geworden und gewiß schon der bewußten Aufmerksamkeit
    entzogen war, auf ihrem weiteren Heimweg an einer dunklen
    und einsamen Stelle einer Vorstadtstraße ein Taschentuch fand."
    Man muß sagen, daß gerade solche Symptomhandlungen oft
    den besten Zugang zur Erkenntnis des intimen Seelenlebens der
    Menschen gestatten.
     

    661
     

    Von den vereinzelten Zufallshandlungen will ich ein Beispiel
    mitteilen, welches auch ohne Analyse eine tiefere Deutung zuließ,
    das die Bedingungen trefflich erläutert, unter denen solche Symptome
    vollkommen unauffällig produziert werden können, und an das
    sich eine praktisch bedeutsame Bemerkung anknüpfen läßt. Auf
    einer Sommerreise traf es sich, das ich einige Tage an einem
    gewissen Orte auf die Ankunft meines Reisegefährten zu warten
    hatte. Ich machte unterdes die Bekanntschaft eines jungen Mannes,
    der sich gleichfalls einsam zu fühlen schien und sich bereitwillig
    mir anschloß. Da wir in demselben Hotel wohnten, fügte es sich
    leicht, daß wir alle Mahlzeiten gemeinsam einnahmen und Spazier-
    gänge miteinander machten. Am Nachmittag des dritten Tages
    teilte er mir plötzlich mit, daß er heute abend seine mit dem
    Eilzuge einlangende Frau erwarte. Mein psychologisches Interesse
    wurde nun rege, denn es war mir an meinem Gesellschafter
    bereits am Vormittag aufgefallen, daß er meinen Vorschlag zu
    einer größeren Partie zurückgewiesen und auf unserem kleinen
    Spaziergang einen gewissen Weg als zu steil und gefährlich nicht
    hatte begehen wollen. Auf dem Nachmittagsspaziergang behauptete
    er plötzlich, ich müßte doch hungrig sein, ich sollte doch ja
    nicht seinetwegen die Abendmahlzeit aufschieben, er werde erst
    nach der Ankunft seiner Frau mit ihr zu Abend essen. Ich
    verstand den Wink und setzte mich an den Tisch, während er
    auf den Bahnhof ging. Am nächsten Morgen trafen wir uns in
    der Vorhalle des Hotels. Er stellte mich seiner Frau vor und
     

    1) Internat. Zeitschrift für Psychoanalyse, III, 1915.
     

  • S.

    IX. Symptom- und Zufallshandlungen
     

    235
     

    fügte hinzu: Sie werden doch mit uns das Frühstück nehmen?
    Ich hatte noch eine kleine Besorgung in der nächsten Straße vor
    und versicherte, ich würde bald nachkommen. Als ich dann in
    den Frühstückssaal trat, sah ich, daß das Paar an einem kleinen
    Fenstertisch Platz genommen hatte, auf dessen einer Seite sie
    beide saßen. Auf der Gegenseite befand sich nur ein Sessel, aber
    über dessen Lehne hing der große und schwere Lodenmantel des
    Mannes herab, den Platz verdeckend. Ich verstand sehr wohl den
    Sinn dieser gewiß nicht absichtlichen, aber darum um so ausdrucks-
    volleren Lagerung. Es hieß: Für dich ist hier kein Platz, du bist
    jetzt überflüssig. Der Mann bemerkte es nicht, daß ich vor dem
    Tische stehen blieb, ohne mich zu setzen, wohl aber die Dame,
    die ihren Mann sofort anstieß und ihm zuflüsterte: Du hast ja
    dem Herrn den Platz verlegt.
     

    Bei diesem wie bei anderen ähnlichen Ergebnissen habe ich
    mir gesagt, daß die unabsichtlich ausgeführten Handlungen unver-
    meidlich zur Quelle von Mißverständnissen im menschlichen
    Verkehr werden müssen. Der Täter, der von einer mit ihnen
    verknüpften Absicht nichts weiß, rechnet sich dieselben nicht an
    und hält sich nicht verantwortlich für sie. Der andere hingegen
    erkennt, indem er regelmäßig auch solche Handlungen seines
    Partners zu Schlüssen über dessen Absichten und Gesinnungen
    verwertet, mehr von den psychischen Vorgängen des Fremden, als
    dieser selbst zuzugeben bereit ist und mitgeteilt zu haben glaubt.
    Letzterer aber entrüstet sich, wenn ihm diese aus seinen Symptom-
    handlungen gezogenen Schlüsse vorgehalten werden, erklärt sie
    für grundlos, da ihm das Bewußtsein für die Absicht bei der
    Ausführung fehlt, und klagt über Mißverständnis von seiten des
    anderen. Genau besehen beruht ein solches Mißverständnis auf
    einem Zufein- und Zuvielverstehen. Je ,,nervöser" zwei Menschen
    sind, desto eher werden sie einander Anlaß zu Entzweiungen
    bieten, deren Begründung jeder für seine eigene Person ebenso
    bestimmt leugnet, wie er sie für die Person des anderen als
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    236
     

    gesichert annimmt. Und dies ist wohl die Strafe für die innere
    Unaufrichtigkeit, daß die Menschen unter den Vorwänden des
    Vergessens, Vergreifens und der Unabsichtlichkeit Regungen den Aus-
    druck gestatten, die sie besser sich und anderen eingestehen würden,
    wenn sie sie schon nicht beherrschen können. Man kann in der Tat
    ganz allgemein behaupten, daß jedermann fortwährend psychische
    Analyse an seinen Nebenmenschen betreibt und diese infolgedessen
    besser kennen lernt als jeder einzelne sich selbst. Der Weg zur
    Befolgung der Mahnung Tv Geautóv führt durch das Studium
    seiner eigenen, scheinbar zufälligen Handlungen und Unterlassungen.
     

    Von all den Dichtern, die sich gelegentlich über die kleinen
    Symptomhandlungen und Fehlleistungen geäußert oder sich ihrer
    bedient haben, hat keiner deren geheime Natur mit solcher
    Klarheit erkannt und dem Sachverhalt eine so unheimliche
    Belebung gegeben wie Strindberg, dessen Genie bei solcher
    Erkenntnis allerdings durch tiefgehende psychische Abnormität
    unterstützt wurde. Dr. Karl Weiß (Wien) hat auf folgende Stelle
    aus einem seiner Werke aufmerksam gemacht (Internat. Zeitschrift
    für Psychoanalyse, I, 1915, S. 268):
     

    Nach einer Weile kam der Graf wirklich und er trat ruhig
    an Esther heran, als habe er sie zu einem Stelldichein bestellt.
    Hast du lange gewartet? fragte er mit seiner gedämpften
     

    "
     

    Stimme.
     

    Sechs Monate, wie du weißt, antwortete Esther; aber du
    hast mich heute gesehen?
     

    Ja, eben im Straßenbahnwagen; und ich sah dir in die
    Augen, daß ich mit dir zu sprechen glaubte.
     

    Es ist viel geschehen seit dem letztenmal.
     

    Ja, und ich glaubte, es sei zwischen uns aus.
    Wieso?
     

    Alle Kleinigkeiten, die ich von dir bekommen habe, gingen
    entzwei, und zwar auf eine okkulte Weise. Aber das ist eine alte
    Wahrnehmung.
     

  • S.

    IX. Symptom- und Zufallshandlungen
     

    237
     

    eine ganze
     

    Was du sagst! Jetzt erinnere ich mich an eine
    Menge Fälle, die ich für Zufälle hielt. Ich bekam einmal ein
    Pincenez von meiner Großmutter, während wir gute Freunde
    waren. Es war aus geschliffenem Bergkristall und ausgezeichnet
    bei den Obduktionen, ein wahres Wunderwerk, das ich sorgfältig
    hütete. Eines Tages brach ich mit der Alten und sie wurde
    auf mich böse.
     

    Da geschah es bei der nächsten Obduktion, daß die Gläser
    ohne Ursache herausfielen. Ich glaubte, es sei ganz einfach
    entzwei; schickte es zur Reparatur. Nein, es fuhr fort, seinen
    Dienst zu verweigern; wurde in eine Schublade gelegt und ist
    fortgekommen.
     

    Was du sagst! Wie eigentümlich, daß das, was die Augen
    betrifft, am empfindlichsten ist. Ich hatte ein Doppelglas von
    einem Freunde bekommen; das paßte für meine Augen so gut,
    daß der Gebrauch ein Genuß für mich war. Der Freund und
    ich wurden Unfreunde. Du weißt, dazu kommt es, ohne sichtbare
    Ursache; es scheint einem, als dürfe man nicht einig sein. Als
    ich das Opernglas das nächste Mal benutzen wollte, konnte ich
    nicht klar sehen. Der Schenkel war zu kurz und ich sah zwei
    Bilder. Ich brauche dir nicht zu sagen, daß sich weder der
    Schenkel verkürzt noch der Abstand der Augen vergrößert hatte!
    Es war ein Wunder, das alle Tage geschieht und das schlechte
    Beobachter nicht merken. Die Erklärung? Die psychische
    Kraft des Hasses ist wohl größer, als wir glauben.
     

    Übrigens der Ring, den ich von dir bekommen habe, hat
    den Stein verloren. und läßt sich nicht reparieren, läßt sich
    nicht. Willst du dich jetzt von mir trennen?... (Die gotischen
    Zimmer, S. 258 f.)"
     

    Auch auf dem Gebiete der Symptomhandlungen muß die
    psychoanalytische Beobachtung den Dichtern die Priorität abtreten.
    Sie kann nur wiederholen, was diese längst gesagt haben. Herr
    Wilh. Stroẞ macht mich auf nachstehende Stelle in dem bekannten
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    258
     

    humoristischen Roman Tristram Shandy von Lawrence
    Sterne aufmerksam (VI. Teil, V. Kapitel):
     

    ,,und es wundert mich keineswegs, daß Gregorius von Nazianzum,
    als er am Julian die schnellen und unsteten Gebärden wahrnahm,
    voraussagte, daß er eines Tages
    er eines Tages abtrünnig werden würde;
    oder daß St. Ambrosius seinen Amanuensem, wegen einer unan-
    ständigen Bewegung mit dem Kopfe, der ihm wie ein Dresch-
    flegel hin und her ging, wegjagte.
    Oder daß Democritus gleich
    merkte, daß Protagoras ein Gelehrter wäre, weil er ihn ein Bündel
    Reisholz binden und die dünnsten Reiser in die Mitte legen sah.
     

    Es gibt tausend unbemerkte Öffnungen, fuhr mein Vater fort,
    durch welche ein scharfes Auge auf einmal die Seele entdecken
    kann; und ich behaupte, fügte er hinzu, daß ein vernünftiger
    Mann nicht seinen Hut niederlegen kann, wenn er in ein Zimmer
    kommt oder aufnehmen, wenn er hinaus geht, oder es entwischt
    ihm etwas, das ihn verrät."
     

    Hier noch eine kleine Sammlung mannigfaltiger Symptom-
    handlungen bei Gesunden und Neurotikern:
     

    Ein älterer Kollege, der nicht gern im Kartenspiel verliert, hat
    eines Abends eine größere Verlustsumme klaglos, aber in eigen-
    tümlich verhaltener Stimmung ausgezahlt. Nach seinem Weggehen
    wird entdeckt, daß er so ziemlich alles, was er bei sich trägt,
    auf seinem Platz zurückgelassen hat: Brille, Zigarrentasche und
    Sacktuch. Das fordert wohl die Übersetzung: Ihr Räuber, ihr
    habt mich da schön ausgeplündert.
     

    Ein Mann, der an gelegentlich auftretender sexueller Impotenz
    leidet, welche in der Innigkeit seiner Kinderbeziehungen zur
    Mutter begründet ist, berichtet, daß er gewohnt ist, Schriften
    und Aufzeichnungen mit einem S, dem Anfangsbuchstaben des
    Namens seiner Mutter, zu verzieren. Er verträgt es nicht, daß
    Briefe vom Hause auf seinem Schreibtisch in Berührung mit
    anderen unheiligen Briefschaften geraten, und ist darum genötigt,
    erstere gesondert aufzubewahren.
     

  • S.

    IX. Symptom- und Zufallshandlungen
     

    239
     

    Eine junge Dame reißt plötzlich die Tür des Behandlungs-
    zimmers auf, in dem sich noch ihre Vorgängerin befindet. Sie
    entschuldigt sich mit „Gedankenlosigkeit"; es ergibt sich bald,
    daß sie die Neugierde demonstriert hat, welche sie seinerzeit ins
    Schlafzimmer der Eltern dringen ließ.
     

    Mädchen, die auf ihre schönen Haare stolz sind, wissen so
    geschickt mit Kamm und Haarnadeln umzugehen, daß sich ihnen
    mitten im Gespräch die Haare lösen.
     

    Manche Männer zerstreuen während der Behandlung (in
    liegender Stellung) Kleingeld aus der Hosentasche und
    honorieren so die Arbeit der Behandlungsstunde je nach ihrer
    Schätzung.
     

    Wer bei einem Arzt einen mitgebrachten Gegenstand, wie
    Zwicker, Handschuhe, Täschchen vergißt, deutet damit an, daß
    er sich nicht losreißen kann und gern bald wiederkommen
    möchte. E. Jones sagt: One can almost measure the success with
    which a physician is practising psychotherapy, for instance by
    the size of the collection of umbrellas, handkerchiefs, purses, and
    so on, that he could make in a month.
     

    Die kleinsten gewohnheitsmäßigen und mit minimaler Auf-
    merksamkeit ausgeführten Verrichtungen, wie das Aufziehen der
    Uhr vor dem Schlafengehen, das Auslöschen des Lichtes vor dem
    Verlassen des Zimmers u. a., sind gelegentlich Störungen unter-
    worfen, welche den Einfluß der unbewußten Komplexe auf die
    angeblich stärksten Gewohnheiten" unverkennbar demonstrieren.
    Maeder erzählt in der Zeitschrift „Coenobium" von einem
    Spitalarzte, der sich eines Abends einer wichtigen Angelegenheit
    wegen entschloß, in die Stadt zu gehen, obwohl er Dienst hatte
    und das Spital nicht hätte verlassen sollen. Als er zurückkam,
    bemerkte er zu seinem Erstaunen Licht in seinem Zimmer. Er
    hatte, was ihm früher nie geschehen war, vergessen, bei seinem
    Weggehen dunkel zu machen. Er besann sich aber bald auf das
    Motiv dieses Vergessens. Der im Hause wohnende Spitaldirektor
     

    "
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    240
     

    mußte ja aus dem Lichte im Zimmer seines Internen den Schluß
    ziehen, daß dieser im Hause sei.
     

    Ein mit Sorgen überbürdeter und gelegentlich Verstimmungen
    unterworfener Mann versicherte mir, daß er regelmäßig am
    Morgen seine Uhr abgelaufen finde, wenn ihm am Abend vorher
    das Leben gar zu hart und unfreundlich erschienen sei. Er drückt
    also durch die Unterlassung, die Uhr aufzuziehen, symbolisch
    aus, daß ihm nichts daran gelegen sei, den nächsten Tag zu
    erleben.
     

    Ein anderer, mir persönlich unbekannt, schreibt: Von einem
    harten Schicksalsschlage betroffen, erschien mir das Leben so hart
    und unfreundlich, daß ich mir einbildete, keine genügende Kraft
    zu finden, um den nächsten Tag durchzuleben, und da bemerkte
    ich, daß ich fast täglich meine Uhr aufzuziehen vergaß, was ich
    früher niemals unterließ und es vor dem Niederlegen regelmäßig
    fast mechanisch unbewußt. tat. Nur selten erinnerte ich mich
    daran, wenn ich am folgenden Tage etwas Wichtiges oder
    mein Interesse besonders Fesselndes vor hatte. Sollte auch dies
    eine Symptomhandlung sein? Ich konnte mir dies gar nicht
    erklären."
     

    Wer sich, wie Jung (Über die Psychologie der Dementia
    praecox, 1907, S. 62) oder Maeder (Une voie nouvelle en
    psychologie Freud et son école, "Coenobium", Lugano 1909).
     

    --
     

    die Mühe nehmen will, auf die Melodien zu achten, welche
    man, ohne es zu beabsichtigen, oft ohne es zu merken, vor sich
    hin trällert, wird die Beziehung des Textes zu einem die Person
    beschäftigenden Thema wohl regelmäßig aufdecken können.
     

    Auch die feinere Determinierung des Gedankenausdruckes in
    Rede oder Schrift verdiente eine sorgfältige Beachtung. Man glaubt
    doch im allgemeinen die Wahl zu haben, in welche Worte man
    seine Gedanken einkleiden oder durch welches Bild man sie
    verkleiden soll. Nähere Beobachtung zeigt, daß andere Rücksichten
    über diese Wahl entscheiden, und daß in der Form des Gedankens
     

  • S.

    IX. Symptom- und Zufallshandlungen
     

    241
     

    ein tieferer, oft nicht beabsichtigter Sinn durchschimmert.
    Bilder und Redensarten, deren sich eine Person vorzugsweise
    bedient, sind für ihre Beurteilung meist nicht gleichgültig, und
    andere erweisen sich oft als Anspielung auf ein Thema, welches
    derzeit im Hintergrunde gehalten wird, aber den Sprecher mächtig
    ergriffen hat. Ich hörte jemand zu einer gewissen Zeit wiederholt
    in theoretischen Gesprächen die Redensart gebrauchen:
    gebrauchen: „Wenn
    einem plötzlich etwas durch den Kopf schießt", aber ich wußte,
    daß er vor kurzem die Nachricht erhalten hatte, seinem Sohn
    sei die Feldkappe, die er auf dem Kopfe trug, von
    hinten durch ein russisches Projektil durchschossen worden.
     

    Die
     

    Freud, IV.
     

    16