Meine Berührung mit Josef Popper-Lynkeus 1932-051/1934.2
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    MEINE BERÜHRUNG MIT JOSEF POPPER-LYNKEUS

    Zuerst veröffentlicht in der Festschrift „Allgemeine
    Nährpflicht“, Bd. XV, 1932. (Gedenknummer zum zehn-
    jährigen Todestag von Josef Popper-Lynkeus.)

    Es war im Winter 1899, daß mein Buch „Die Traumdeutung“, ins
    neue Jahrhundert vordatiert, endlich vor mir lag. Dieses Werk war das
    Ergebnis einer vier- bis fünfjährigen Arbeit, auf nicht gewöhnliche Art
    entstanden. Für Nervenkrankheiten an der Universität habilitiert, hatte ich
    versucht, mich selbst und meine rasch angewachsene Familie durch ärztliche
    Hilfeleistung an die sogenannten „Nervösen“ zu erhalten, deren es in unserer
    Gesellschaft nur zu viele gab. Aber die Aufgabe erwies sich als schwerer,
    als ich erwartet hatte. Die gebräuchlichen Behandlungsmethoden nützten
    offenbar nichts oder zu wenig; man mußte neue Wege suchen. Und wie
    sollte man überhaupt den Kranken helfen, wenn man nichts von ihrem
    Leiden verstand, nichts von der Verursachung ihrer Beschwerden, von der
    Bedeutung ihrer Klagen? Ich suchte also eifrig nach Anhalt und Unter-
    weisung bei Meister **Charcot** in Paris, bei **Bernheim** in Nancy; eine
    Beobachtung meines überlegenen Freundes **Josef Breuer** in Wien schien
    endlich neue Aussicht auf Verständnis und therapeutischen Einfluß zu eröffnen.

    Diese neuen Erfahrungen brachten es nämlich zur Gewißheit, daß die
    von uns nervös genannten Kranken in gewissem Sinne an psychischen
    Störungen litten und daher mit psychischen Mitteln zu behandeln waren.
    Unser Interesse mußte sich der Psychologie zuwenden. Was nun die in
    den Philosophenschulen herrschende Seelenwissenschaft geben konnte, war
    freilich geringfügig und für unsere Zwecke unbrauchbar; wir hatten die
    Methoden wie deren theoretische Voraussetzungen neu zu finden. Ich
    arbeitete also in dieser Richtung zuerst in Gemeinschaft mit **Breuer**, dann
    unabhängig von ihm. Am Ende wurde es ein Stück meiner Technik,

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    daß ich die Kranken aufforderte, mir kritiklos mitzuteilen, was immer
    durch ihren Sinn ging, auch solche Einfälle, deren Berechtigung sie nicht
    verstanden, deren Mitteilung ihnen peinlich war.

    Wenn sie meinem Verlangen nachgaben, erzählten sie mir auch ihre
    Träume, als ob diese von derselben Art wären, wie ihre anderen Gedanken.
    Es war ein deutlicher Wink, diese Träume zu werten wie andere ver-
    ständliche Produktionen. Aber sie waren nicht verständlich, sondern fremd-
    artig, verworren, absurd, wie eben Träume sind und weshalb sie von der
    Wissenschaft als sinn- und zwecklose Zuckungen am Seelenorgan verurteilt
    wurden. Wenn meine Patienten recht hatten, die ja nur den Jahrtausende
    alten Glauben der unwissenschaftlichen Menschheit zu wiederholen schienen,
    so stand ich vor der Aufgabe einer „Traumdeutung“, die vor der Kritik
    der Wissenschaft bestehen konnte.

    Zunächst verstand ich natürlich von den Träumen meiner Patienten
    nicht mehr als die Träumer selbst. Indem ich aber auf diese Träume
    und besonders auf meine eigenen das Verfahren anwendete, dessen ich
    mich schon beim Studium anderer abnormer psychischer Bildungen bedient
    hatte, gelang es mir, die meisten der Fragen zu beantworten, die eine **Traum-
    deutung** aufwerfen konnte. Es gab da viel zu fragen: wovon träumt man?
    warum träumt man überhaupt? woher rühren all die merkwürdigen Eigen-
    heiten, die den Traum vom wachen Denken unterscheiden? und dergleichen
    mehr. Einige der Antworten waren leicht zu geben, erwiesen sich auch
    als Bestätigung von früher geäußerten Ansichten. Andere erforderten durch-
    aus neue Annahmen über den Aufbau und die Arbeitsweise unseres seeli-
    schen Apparats. Man träumte von dem, was die Seele während des wachen
    Tages bewegt hatte; man träumte, um die Regungen, die den Schlaf
    stören wollten, zu besänftigen und den Schlaf fortsetzen zu können. Aber
    warum konnte der Traum so fremdartig erscheinen, so verworren un-
    sinnig, so offenbar gegensätzlich gegen den Inhalt des wachen Denkens,
    wenn er sich doch mit dem nämlichen Stoff beschäftigte? Sicherlich war
    der Traum nur der Ersatz einer vernünftigen Gedankentätigkeit und ließ
    sich deuten, d. h. in eine solche übersetzen, aber was nach Erklärung
    verlangte, war die Tatsache der Entstellung, die die Traumarbeit an
    dem vernünftigen und verständlichen Material vorgenommen hatte.

    Die Traumentstellung war das tiefste und schwierigste Problem des
    Traumlebens. Und zu ihrer Aufklärung ergab sich folgendes, was den
    Traum in eine Reihe stellte mit anderen psychopathologischen Bildungen,
    ihn gleichsam als die normale Psychose des Menschen entlarvte. Unsere

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    Seele, jenes kostbare Instrument, mittels dessen wir uns im Leben be-
    haupten, ist nämlich in sich friedlich geschlossene Einheit, sondern
    eher einem modernen Staat vergleichbar, in dem eine genuß- und zer-
    störungssüchtige Masse durch die Gewalt einer besonnenen Oberschicht
    niedergehalten werden muß. Alles, was sich in unserem Seelenleben tummelt
    und was sich in unseren Gedanken Ausdruck schafft, ist Abkömmling
    und Vertretung der mannigfachen Triebe, die uns in unserer leiblichen
    Konstitution gegeben sind, aber nicht alle diese Triebe sind gleich lenk-
    bar und erziehbar, sich den Anforderungen der Außenwelt und der
    menschlichen Gemeinschaft zu fügen. Manche von ihnen haben ihren
    ursprünglich unbändigen Charakter bewahrt; wenn wir sie gewähren
    ließen, würden sie uns unfehlbar ins Verderben stürzen. Wir haben darum,
    durch Schaden klug gemacht, in unserer Seele Organisationen entwickelt,
    die sich der direkten Triebäußerung als Hemmungen entgegenstellen.
    Was als Wunschregung aus den Quellen der Triebkräfte auftaucht, muß
    sich die Prüfung durch unsere obersten seelischen Instanzen gefallen lassen
    und wird, wenn es nicht besteht, verworfen und vom Einfluß auf unsere
    Motilität, also von der Ausführung abgehalten. Ja, oft genug wird diesen
    Wünschen selbst der Zutritt zum Bewußtsein verweigert, dem regelmäßig
    selbst die Existenz der gefährlichen Triebquelle fremd ist. Wir sagen
    dann, diese Regungen seien für das Bewußtsein verdrängt und nur im
    Unbewußten vorhanden. Gelingt es dem Verdrängten, irgendwo durchzu-
    dringen, zum Bewußtsein oder zur Motilität oder zu beiden, dann sind
    wir eben nicht mehr normal. Dann entwickeln wir die ganze Reihe neu-
    rotischer und psychotischer Symptome. Das Aufrechthalten der notwendig
    gewordenen Hemmungen und Verdrängungen kostet unser Seelenleben
    einen großen Kraftaufwand, von dem es sich gerne ausruht. Der nächtliche
    Schlafzustand scheint dafür eine gute Gelegenheit zu sein, weil er ja die
    Einstellung unserer motorischen Leistungen mit sich bringt. Die Situation
    erscheint ungefährlich, also ermäßigen wir die Strenge unserer inneren
    Polizeigewalten. Wir ziehen sie nicht ganz ein, denn man kann es nicht
    wissen, das Unbewußte schläft vielleicht niemals. Und nun tut der Nach-
    laß der auf ihm lastenden Wünsche seine Wirkung. Aus dem verdrängten
    Unbewußten erheben sich Wünsche, die im Schlaf wenigstens den Zu-
    gang zum Bewußtsein frei finden würden. Wenn wir sie erfahren könnten,
    würden wir entsetzt sein über ihren Inhalt, ihre Maßlosigkeit, ja ihre
    bloße Möglichkeit. Doch das geschieht nur selten, worauf wir dann
    eiligst unter Angst erwachen. In der Regel erfährt unser Bewußtsein den
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    Traum nicht so, wie er wirklich gelautet hat. Die hemmenden Mächte,
    die Trauenzensur, wie wir sie nennen wollen,
    werden zwar nicht voll
    wach, aber sie haben auch nicht ganz geschlafen. Sie haben den Traum
    beeinflußt, während er um seinen Ausdruck in Worten und Bildern rang,
    haben das Anstößigste beseitigt, anderes bis zur Unkenntlichkeit abgeändert,
    echte Zusammenhänge aufgelöst, falsche Verknüpfungen eingeführt,
    bis aus der ehrlichen, aber brutalen Wunschphantasie des Traumes der mani-
    feste, von uns erinnerte Traum geworden ist, mehr oder weniger verwor-
    ren, fast immer fremdartig und unverständlich. Der Traum, die Traum-
    entstellung, ist also der Ausdruck eines Kompromisses, das Zeugnis des
    Konflikts zwischen den miteinander unverträglichen Regungen und Be-
    strebungen unseres Seelenlebens. Und vergessen wir es nicht, derselbe
    Vorgang, das nämliche Kräftespiel, das uns den Traum des normalen
    Schläfers erklärt, gibt uns den Schlüssel zum Verständnis aller neurotischen
    und psychotischen Phänomene.
     

    Ich bitte um Entschuldigung dafür, daß ich bisher so viel von mir
    und meiner Arbeit an den Traumproblemen gehandelt habe; es war
    notwendige Voraussetzung des folgenden. Meine Erklärung der Traum-
    stellung schien mir neu zu sein, ich hatte nirgends etwas ähnliches gefunden.
    Jahre später (ich kann nicht mehr sagen, wann) gerieten Die Phantasien
    eines Realisten von Josef Popper-Lynkeus in meine Hand. Eine der
    darin enthaltenen Geschichten hieß „Träumen wie Wachen“, sie mußte
    mein stärkstes Interesse erwecken. Ein Mann war in ihr beschrieben, der
    von sich rühmen konnte, daß er nie etwas Unsinniges geträumt hatte.
    Seine Träume mochten phantastisch sein wie die Märchen, aber sie standen
    mit der wachen Welt nicht so in Widerspruch, daß man mit Bestimmtheit
    hätte sagen können, „sie seien unmöglich oder an und für sich absurd“.
    Das hieß in meine Ausdrucksweise übersetzt, bei diesem Manne kam keine
    Traumentstellung zustande, und wenn man den Grund ihres Ausbleibens
    erfuhr, hatte man auch den Grund ihrer Entstehung erkannt. Popper gibt
    seinem Manne volle Einsicht in die Begründung seiner Eigentümlichkeit.
    Er läßt ihn sagen: „In meinem Denken wie in meinen Gefühlen herrscht
    Ordnung und Harmonie, auch kämpfen die beiden mit einander . . .
    Ich bin eins, ungeteilt, die Anderen sind geteilt und ihre zwei Teile:
    Wachen und Träumen führen beinahe immerfort Krieg miteinander“.
    Und weiter über die Deutung der Träume: „Das ist gewiß keine leichte
    Aufgabe aber es müßte bei einiger Aufmerksamkeit dem Träumenden
    selbst wohl immer gelingen. — Warum es meistens nicht gelingt?

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    scheint bei Euch etwas Verstecktes in den Träumen zu liegen, etwas Un-
    keusches eigener Art, eine gewisse Heimlichkeit in Eurem Wesen, die
    schwer auszudrücken ist; und darum scheint Euer Träumen so oft ohne
    Sinn, sogar ein Widersinn zu sein. Es ist aber im tiefsten Grund durch-
    aus nicht so; ja es kann gar nicht so sein, denn es ist immer derselbe
    Mensch, ob er wacht oder träumt“.
     

    Dies war aber unter Verzicht auf psychologische Terminologie dieselbe
    Erklärung der Traumentstellung, die ich aus meinen Arbeiten
    über den Traum entnommen hatte. Die Entstellung war ein Kompromiß,
    was seiner Natur nach Unaufrichtiges, das Ergebnis eines Konflikts
    zwischen Denken und Fühlen, oder, wie ich gesagt hatte, zwischen
    Bewußtem und Verdrängtem. Wo ein solcher Konflikt nicht
    bestand, nicht verdrängt zu werden brauchte, konnten die Träume
    auch nicht fremdartig und unsinnig werden. In dem Mann, der nicht
    anders träumte als er im Wachen dachte, hatte Popper jene innere
    Harmonie walten lassen, die in einem Staatskörper herzustellen sein
    Ziel als Sozialreformer war. Und wenn die Wissenschaft uns sagt, daß
    ein solcher Mensch, ganz ohne Arg und Falsch und ohne alle Ver-
    drängungen nicht vorkommt oder nicht lebensfähig ist, so ließ sich
    doch gut erraten, daß, soweit eine Annäherung an diesen Idealzustand
    möglich ist, sie in Poppers eigener Person ihre Verwirklichung ge-
    funden hatte.
     

    Von dem Zusammentreffen mit seiner Weisheit überwältigt, begann
    ich nun alle seine Schriften zu lesen, die über Voltaire, über Religion,
    Krieg, Allgemeine Nährpflicht u. a., bis sich das Bild des schlichten
    großen Mannes, der ein Denker und Kritiker, zugleich ein gütiger
    Menschenfreund und Reformer war, klar vor meinem Blick aufbaute.
    Ich sann viel über die Rechte des Individuums, für die er eintrat und
    die ich so gerne mit vertreten hätte, störte mich nicht die Erwägung,
    daß weder das Verhalten der Natur noch die Zielsetzungen der menschlichen
    Gesellschaft ihren Anspruch voll rechtfertigen. Eine besondere
    Sympathie zog mich zu ihm hin, da offenbar auch er die Bitterkeit
    des jüdischen Lebens und die Hohlheit der gegenwärtigen Kulturideale
    schmerzlich empfunden. Doch habe ich ihn selbst nie gesehen. Er
    wußte von mir durch gemeinsame Bekannte, und einmal hatte ich
    einen Brief von ihm zu beantworten, der eine Auskunft verlangte.
    Aber ich habe ihn nicht aufgesucht. Meine Neuerungen in der Psycho-
    logie hatten mich den Zeitgenossen, besonders den älteren unter ihnen,
    entfremdet; oft genug, wenn ich mich einem Manne näherte, den ich
    aus der Entfernung geehrt hatte, fand ich mich wie abgewiesen durch
    seine Verständnislosigkeit für das, was mir zum Lebensinhalt geworden
    war.

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    Josef **Popper** kam doch von der Physik, er war ein Freund von **Ernst Mach**
    gewesen; ich wollte mir den erfreulichen Eindruck unserer Übereinstimmung
    über das Problem der Traumentstellung nicht stören lassen. So kam es,
    daß ich den Besuch bei ihm aufschob, bis es zu spät wurde und ich nur
    noch in unserem **Rathauspark** seine Büste begrüßen konnte.