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    PROF. DR. FREUD            
    WIEN XI., BERGGASSE 19

    13.1.1924.

    Geehrter Herr Doktor

    Ich bestätige den Empfang Ihres Schreibens
    vom 31/XII 1923 und danke Ihnen für
    den Ausdruck Ihrer guten Wünsche aus
    Anlaß der Besserung in meinem Befinden.
    Ich kann es aber nicht unter­lassen, Ihnen in
    einigen wichtigen Punkten zu widersprechen.

    Sie irren, wenn Sie glauben, daß ich
    Sie hasse oder gehaßt habe. Der Sachverhalt ist,
    daß ich nach anfänglicher Sympathie – Sie erin-
    nern vielleicht noch, wie unsere Bezieh-
    ungen begonnen haben – mich durch viele
    Jahre über Sie ärgern mußte, während
    ich Sie gegen die Abneigung aller mich
    Umgebenden zu verteidigen hatte, und
    daß ich mit Ihnen brach, nachdem Sie mich
    bei einem bestimmten Anlaß in garstig-
    er Weise hinter­gangen hatten. (Sie er-
    wähnen diesen Anlaß – Zentralblatt – 
    niemals in Ihren Briefen.) Damals habe
    ich das Vertrauen zu Ihnen verloren
    und seither nichts an Ihnen erlebt, was es hätte
    wiederbringen können.

    Ich widerspreche auch Ihrer so oft wiederkehr-
    enden Behauptung, Sie seien von mir
    wegen wissenschaftlicher Differenzen ver-
    stoßen worden. Das macht sich vor der
    Öffentlichkeit recht gut, entspricht aber
    nicht der Wahrheit. Einzig und allein
    Ihre persönlichen Eigenschaften – was man
    als Charakter und Benehmen beschreibt – 
    haben uns, meinen Freunden und mir,
    das Zusammenarbeiten mit Ihnen
    unmöglich gemacht. Da Sie sich gewiß nicht

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    ändern werden – Sie haben es nicht nötig, denn
    die Natur hat Sie mit einem ungewöhnlichen
    Maß von Selbstzu­friedenheit begabt –,
    kann auch unser Verhältnis nicht viel anders
    werden, als es in den letzten zwölf Jahren
    war. Ich werde mich nicht ärgern, wenn ich
    höre, daß Ihre ärztliche und literarische
    Tätigkeit Ihnen Erfolge bringen, ich
    anerkenne, daß Sie der Analyse treu
    geblieben sind, daß Sie ihr viel genützt
    haben; Sie haben ihr auch viel geschadet.

    Meine Freunde und Schüler werden es leichter
    haben, Ihre Publikationen objektiv zu
    würdigen, wenn Sie erst selbst Ihre Kritik
    und Polemik auf einen höflicheren Ton
    gestimmt haben.

    Mit guten Wünschen
    hochachtungsvoll 
    Freud