• S.

    DR. WILHELM STEKEL
    WIEN,…

    22/I 1924

    Sehr geehrter Herr Professor!

    Sie wissen es aus eigener Erfahrung, dass jedes Recht zwei Seiten hat 
    und sich der gleiche Vorgang im Hirne zweier Menschen verschieden spie-
    gelt. Ich hatte die Absicht eine Geschichte der p.a.Bewegung zu schrei-
    ben. Ich habe dieses Vorhaben nicht erfüllt und gewartet, bis ich mehr 
    Distanz zu den Ereignissen gewinnen; uns es zog mich mehr zu den wissen-
    schaftlichen Leistungen.

    Ich mag nicht über die Vergangenheit sprechen. Sie sehen nur das Unrecht, 
    das man Ihnen angetan hat und übersehen, die Fehler, die Sie gemacht ha-
    ben. Hätten Sie rechtzeitig die Quellen der Rivalität unter Ihren Schü-
    lern erkannt, sie hätten sich manche wertvolle Kraft erhalten können. Es 
    war nicht nur ein Kampf der Tronprädenten, sondern ein Ringen um Ihre 
    Liebe. Es war mehr Eifersucht auf Ihr Herz als Anspruch auf Ihren Kopf.
    Ich sehe jetzt ähnliche Strömungen in meinem Kreise und wir versuchen 
    durch analytische Aufrichtigkeit die konfliktschwangere Athmosphäre zu 
    reinigen. bisher mit gutem Erfolg.

    Bitte – missverstehen Sie mich nicht. Ich habe nicht wegen persönlicher 
    Vorteile an Sie geschrieben. Ich bin vollkommen zufrieden mit meinen 
    Erfolgen. Sie sprechen von meiner Selbstzufriedenheit. Gewiss. Ich bin 
    einer der wenigen glücklichen Analytiker, die auch Lebenskünstler sind 
    und wenig nach der Meinung der grossen und der kleinen Welt fragen, wenn Sie 
    selbst zufrieden sind. Und glauben Sie mir: Ich habe ein starkes Mass von 
    Selbstkritik und sehe alle meine Fehler besser als meine Gegner. Aber ich 
    habe den Mut sie einzusehen und ich trachte sie gutzumachen.

    ich habe ihnen geschrieben, um unser Verhältnis, dem ich so viel ver-
    danke, einen versöhnlichen Ausklang zu geben. Wenn Sie glauben, dass ich 
    Ihre Freunde und Schüler schlecht behandle, so will ich künfitg meine 
    Kritiken strengstens überprüfen und unparteiische Gerechtigkeit wlten 
    lassen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Es wird nicht leicht 
    sein, weil viele Arbeiten Ihrer Schüler sich in das Reich der Spekulation

  • S.

    und Phantasie verlieren, während ich nach wie vor auf dem sicheren 
    Boden der Beobachtung und Erfahrung stehe. 

    Es fehlt der Psychoanalyse die Gegenstimme im eigenen Lager.

    Es fehlt die Möglichkeit eigene Wege zu gehen. Darum umfasst meine 
    Organisation der unabhängigen ärztlichen Analytiker schon bei 60 Mit-
    glieder, weil sie die individuelle Forschungsfreiheit nicht antastet. 
    Wir verschiebenen nicht wissenschaftliche Konflikte ins persönliche.
    Wir entschuldigen nicht mit Charakterdifferenzen, was sich als Differenz 
    der Anschauung entschleiert.

    Aber wir stehen für die Analyse ein und wir stehen alle auf dem Boden 
    von Freud. Deshalb wäre ein paralleles Arbeiten und Kämpfen gegen die 
    Gegner und Verwässerer der Analyse möglich. 

    Vielleicht würden Sie mir zum Abschlusse unserer persönlichen Beziehun-
    gen und zur Anbahnung eines besseren wissenschaftlichen Verhältnisses 
    die Möglichkeit geben, Sie einmal an einem Sonntag oder an einem Abende 
    zu sprechen?

    Erste Bedingung: Die Vergangeheit wird nicht berührt. Die erste ist  
    auch die einzige …

    Mit vorzüglicher Hochachtung 
    Ihr ganz ergebener
    Dr. Wilhelm Stekel
     

    P. S. So weit Kritiken im Drucke vorliegen, können Sie nicht mehr 
    geändert werden. Das Jahrbuch wird keine Kritiken enthaltn. Wir wollen 
    durch unsere Arbeit kritisieren. Wie weit uns das gelungen ist, das 
    werden Sie bald beurteilen können.