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PROF. DR. FREUD WIEN IX., BERGGASSE 19
8.2.25
Geehrter Herr Doktor
Ich danke Ihnen sehr für die Über-
sendung Ihrer Schrift „Die Vernichtung
der Not“ im Sinne von Popper‑
Lynkeus, den ich nicht weniger als Sie
verehre. Dieses Ihr Büchlein hat mir
wolgetan denn es hat meine Achtung
für Ihre Person wiederhergestellt,
die ich ungerne mit einer ethisch so de-
fekten wie Stekel in Beziehung
bringe.Es ist interessant, dass Popper’s Kritik auf die
Anerkennung des menschlichen Narziß-
mus fundirt ist. Der unvergleichliche Wert
des Einzellebens, von dem er ausgeht, hat
in der Natur keine Geltung und
die kulturelle Gesellschaft kann ihn
auch nicht brauchen. Machte man den Eros
zur Grundlage des sozialen Beisam̄en-
seins, so führte auch er zu einem
anderen Resultat, denn er ver-
langte den Narzißmus der geliebten
Person oder Sache zu opfern. Nichts-
destoweniger – oder gerade darum – scheint
mir das in anderer Weise unbegründete
Postulat Popper’s ein sehr zweckmäß-
iges Ziel der sozialen Reformtätigkeit.Nur müßen Sie mich nicht mit ihm,
dem 83jährigen Schwärmer, vergleichen.
Meinem Mitleid fehlt das Pathos, mir
selbst der Optimismus des Reformers.
Ich bin nichts als ein Forscher, dem
durch ein merkwürdiges Zusam̄en-
treffen eine besonders wichtige
Feststellung geglückt ist. Mein Ver-
dienst an diesem Erfolg wird sich auf -
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die Entfaltung einiger – allerdings nicht häufig
gepflegter – Charaktereigenschaften wie
Unabhängigkeit und Wahrheitsliebe
einschränken. Wenn ich heute mit 69 Jahren
nicht streitlustig bin, so war ich es auch mit
35 nicht mehr.Ich will Ihnen mein Bedauern darüber nicht
vorenthalten, dass Ihre Entwicklung
Sie so weit weg von meinen Anhängern
geführt hat. Sie hätten das Feuer und
die Begabung, aber ich fürchte, die Fähig-
keit zur Selbstbeherrschung geht Ihnen
ebenso ab wie die zur Lenkbarkeit
und Einordnung.Mit herzlichem Gruß
Ihr ergebener
Freud
Berggasse 19
Wien 1090
Oostenryk
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C43F37