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S.
PROF. DR. FREUD WIEN IX., BERGGASSE 19.
14. 4. 1929
Lieber Herr Doktor
Ich habe in Berlin alles über Sie
gehört, was zu erzälen war, an
Allem Anteil genommen und hätte
Sie sehr gerne gesehen. Wenn ich nur
halbwegs in der Lage wäre es
Ihnen zu erleichtern. Ich habe meine
Hilflosigkeit nicht gern.Am wenigsten Sorge mache ich mir über
die Qualität Ihrer zukünftigen Leistung.
Ich weiß, dass Sie Vortreffliches zusstande
bringen werden, wünsche nur, daß
Sie den Einfluß überstarker Affekte
und trüber Stimmungen von Ihren
Arbeiten fern halten mögen.Ihr kritisches Referat über meine
Dostoj‑Studie habe ich mit großem
Vergnügen gelesen. Alles, was Sie
einwenden, läßt sich hören und
soll als in einem Sinne zutreffend
anerkannt werden. Zur Vertretung
meiner Sache kann ich einiges
vorbringen. Es wird sich ja nicht darum
handeln, wer Recht oder Unrecht
behalten soll.Ich glaube, dass Sie einen zu hohen
Maßstab an diese Kleinigkeit an-
legen. Sie ist jemandem zu Gefallen
geschrieben und ungern geschrieben.
Ich schreibe jetzt überhaupt ungern.
Sie haben diesen Charakter gewiß
gemerkt. Das soll natürlich flüchtige
oder schiefe Urteile nicht recht-
fertigen, blos die nachlässige Archi-
tektur des Ganzen. Der unharm-
monische Eindruck, den die Anfügung -
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der Zweig'schen Analyse macht, ist nicht zu bestreiten.
Bei tieferem Eingehen findet sich wol
eine Rechtfertigung. Von den Rücksichten
auf den Ort des Erscheinens frei, hätte
ich gewiß geschrieben: Wir dürfen er-
warten, daß in der Geschichte einer
Neurose mit so schwerem Schuldgefül
der Onaniekompl eine besondere Rolle
spielt. Diese Erwartung wird durch die
pathologische Spielsucht Dostoj‘s voll erfüllt,
denn wie eine Novelle Zweig’s er-
kennen lässt usw. Der Raum, der
dieser Novelle eingeräumt ist, ent-
spricht also nicht der Relation Zweig –
Dostoj, sondern der anderen, Onanie –
Neurose, doch ist es ungeschickt her-
ausgekom̄en.An einer wisentlich objektiven sozialen Einschätzung
der Ethik halte ich fest und möchte
darum auch dem braven Philister
das Zeugnis des guten ethischen Verhaltens
nicht bestreiten, selbst wenn es ihn
wenig Selbstüberwindung gekostet hat.
Daneben lasse ich ja die subjektive
psychologische Betrachtung der Ethik, die
Sie vertreten, gelten. Mit Ihrem
Urteil über Welt und heutige Mensch-
heit einverstanden, kann ich wie
Sie wissen, Ihre pessimistische Abweisung einer
besseren Zukunft nicht für gerechtfertigt
halten.Den Psychologen Dost. habe ich allerdings
dem Dichter subsummirt [sic]. Ich hätte ihm
auch vorzuwerfen, daß sich seine Ein-
sicht so sehr auf das abnorme
Seelenleben einschränkt. Denken
Sie an seine erstaunliche Hilflosig-
keit gegen die Phänomene der
Liebe, eigentlich kennt er nur das -
S.
rohe, triebhafte Begehren,
die masochistische Unterwerf-
ung und die Liebe aus
Mitleid. Sie haben auch
Recht mit der Vermut-
ung, daß ich Dost. bei aller
Bewunderung seiner
Intensität und Überlegen-
heit eigentlich nicht
mag. Das kom̄t daher,
daß sich meine Geduld
mit pathologischen Naturen
in der Analyse erschöpft.
In Kunst u Leben bin
ich gegen sie intolerant,
das sind persönliche Charakter-
züge, unverbindlich für andere.Wo wollen Sie Ihren Aufsatz
erscheinen lassen? Ich an-
erkenne ihn doch sehr. Vor-
aussetzungslos muß einzig
die wissenschaftliche Forsch-
ung sein, bei allen
anderen Betrachtungen
kann man die Wal
eines Standpunktes nicht
vermeiden und solcher
giebt es natürlich
mehrere. -
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