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24.4.10
Prof. Dr. Freud Wien, IX. Berggasse 19.
Lieber Freund
Ein Ton von Resignation und Wehmut in Ihrem Brief gefällt mir nicht ganz. Ich halte ihn für einen Rückstand des Nürnberger Erlebnisses, an dem ich ja mitschuldig bin, und hoffe, daß er sich bald geben wird. Ihr Ansehen bei den +feindlichen Brüdern* wird wieder steigen und die Zukunft Ihnen recht geben müssen.
Vorläufig hat ihnen die Behandlung gut getan; seitdem sie die Arbeit selbst in der Hand haben, sind sie viel freundlicher mit mir und vorläufig noch untereinander einig. Wir tagen jetzt im Doktorenkollegium1 im Hause von Steiner, 2 Rotenturmstr. 19, wohin auch die Bibliothek überführt werden wird. Die Kosten haben wir durch eine Subskription auf lange Zeit hinaus gedeckt. Äußerlich ist die Sache noch nicht sehr vorgerückt, auch Zürich ist noch nicht formell konstitutiert, weil Bleuler noch im Spital ist ‑ oder zur Zeit von Jungs Brief noch war.
Deuticke macht dem neuen Zentralblatt Schwierigkeiten, weil Stekel ihm nicht vertrauenswürdig erscheint. St[ekel] hat vor ihm allerlei überflüssige Reden geführt, aus denen D[euticke] schloß, der rein wissenschaftliche Charakter des Blattes sei nicht gesichert. Ich habe D[euticke] beschwichtigt und meine, er wird es doch tun.2 Viel weiter werde ich mich allerdings nicht einsetzen, sondern sie das Maß ihres Vermögens ausprobieren lassen. Das Zentralblatt ist eine zweischneidige Waffe, allerdings sehr mächtig, wenn sie recht gebraucht wird.
Über das Heft des Am[erican] J[ournal] of Psych[ology]3 werden Sie sich auch sehr gefreut haben. Das ist also die erste Frucht unserer Expedition. Unmittelbar nachher habe ich die Exemplare der deutschen Ausgabe versenden lassen. Jetzt werden wir hören, es steht nichts Neues darin. Unter den letzten Angriffen ist der Brief über die Sitzung in Hamburg bemerkenswert (H[amburger] Ärzte Korrespondenz 4. April 10).4 Dort wird schon das Argument laut, dem ich durch die Verlegung nach Zürich vorbeugen wollte, die Wiener Sinnlichkeit finde sich anderwärts nicht! Zwischen den Zeilen können Sie noch lesen, daß wir Wiener nicht nur Schweine, sondern auch Juden sind. Aber das wird nicht gedruckt.
Von Strohmayer (Moll II.2) habe ich kürzlich einen Aufsatz +Zur Analyse und Prognose psychoneurotischer Symptome*5 erhalten, der ganz gesinnungsecht ist. Ein beigefügter Brief läßt verstehen, warum er sich mit der Traumdeutung und dem therapeutischen Nutzen nicht befreunden kann, und wird mir zu einem scharfen Analyseversuch (im Sinne Ihrer Behandlung) Anlaß geben.
Jung schreibt, daß er tief in der Mythologie steckt, aus der etwas Ordentliches werden soll. Ich korrigiere den Leonardo und mache sonst nichts. Heute haben mir Rank und Hitschmann einige Kapitel der von ihnen verfaßten +Synthetischen Darstellung* meiner Neurosenlehre6 vorgelesen. Es wird recht brauchbar werden, besonders wenn es in späteren Auflagen Umarbeitung erfährt. Sozusagen das erste Lehrbuch der -A, vorläufig noch etwas zu sehr Chronik und Kompilation.
Ich hoffe, Sie machen alle Ihre Rechte als Mitglied der Wiener Öα V[ereinigung]7 geltend; ich werde hier gelegentlich daran mahnen. Auf den ersten Erfolg Ihrer Ankündigung bin ich sehr neugierig. Vielleicht, daß Sie Ihre Gruppe eher aus Laien als aus Ärzten zusammensetzen können.
Meine Tochter8 scheint sich jetzt doch zu erholen, sie ist beweglicher und war in dieser Woche nach Monaten zuerst wieder bei uns. ‑ Ich zähle übrigens einundachtzig Tage bis zum Beginn der Ferien?
Ein kleiner Beitrag zur Psychologie des Liebeslebens fürs nächste Jahrbuch (II.2)9 wird wohl noch vor den Ferien geschrieben werden. Sonst halte ich es für gut zu pausieren. Reisen wir dann zusammen in Sizilien, so wird im Gespräch gewiß manches aus seiner Latenz hervorbrechen. Übrigens, was meinen Sie, wenn wir Brill aufforderten, diese Reise oder einen Teil mit uns zu machen? Er klagte im letzten Brief, daß er erschöpft und neurotisch sei, und fragte im nächsten Satz an, wo ich den Sommer verbringen will. Ich mußte eine Andeutung von Einladung daran knüpfen, deren ernsthafte Wiederholung natürlich von Ihnen abhängt. Es wäre eine Einbuße an Intimität, sonst ein Zuwachs an Bequemlichkeit und etwas Pflichterfüllung. Ich bin natürlich gar nicht überzeugt, daß er mittun will oder kann.
Ich grüße Sie herzlich in Erwartung Ihrer Berichte
Ihr Freud
1 Das Wiener medizinische Doktorenkollegium (in dem Freud 1895 seinen dreiteiligen Vortrag >Über Hysterie< [Freud 1895g] gehalten hatte).
2 Das Zentralblatt erschien schließlich im Verlag Bergmann in Wiesbaden; siehe unten.
3 Jenes bereits mehrmals erwähnte Heft, in dem Freuds Amerika-Vorlesungen und Ferenczis Artikel über den Traum veröffentlicht wurden (vgl. 78 F, Anm. 1 und 3).
4 In der Versammlung der Hamburger Ärztegesellschaft vom 29.3.1910 hatten sich mehrere Nervenärzte für einen Boykott von Anstalten, in denen Psychoanalyse angewendet wurde, ausgesprochen. Ein weiterer Bericht erschien im Neurologischen Centralblatt, 1910, 29, Nr. 12: S. 659-662; siehe auch Jones II, S. 144f.
5 Zeitschrift für Psychotherapie und medizinische Psychologie, hg. von Albert Moll, 1910, 2, Nr. 2.
6 Eduard Hitschmanns Buch Freuds Neurosenlehre; Nach ihrem gegenwärtigen Stande zusammenfassend dargestellt (Wien und Leipzig 1911) war die erste systematische Darstellung der Psychoanalyse. Rank zeichnete nicht als Mitautor. Jung gegenüber charakterisierte Freud am 26.5.1910 das Werk als "eine Art Hilfsbuch für Volksschulen" (Briefwechsel, S. 355).
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