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Wien, 14.4.07
Geehrter und lieber Herr College
Sehen Sie, die Welt im Allgemeinen denkt ebenso
wie ich über unser Verhältnis. Das Referat in Amsterdam
war mir kurz vor Ihrer Ankunft hier angetragen
worden, und ich lehnte es eiligst ab in der Angst, ich
würde es mit Ihnen besprechen u mich dann von
Ihnen zur Annahme bestimmen lassen. Dann trat
das Ding gegen Wichtigeres in unseren Gesprächen
zurück. Nun freut es mich sehr, daß man Sie erwählt
hat. Zu meiner Zeit war aber nicht Aschaffenbg der
andere Referent, sondern es waren zwei genannt
Janet und ein Eingeborener. Es war offenbar auf
ein Duell zwischen Janet und mir abgesehen, aber ich
hasse Gladiatorenkämpfe vor dem edeln Pöbel,
kann mich schwer entschließen eine indifferente
Menge über meine Erfahrungen abstim̄en zu
lassen; vor allem aber will ich einige Monate lang von
Wissenschaft nichts wissen und dem arg maltraitirten
Instrument Erholung in allerlei fernab liegenden Ge-
nüßen verschaffen. Nun werden Sie den Waffengang
mit A. zu bestehen haben. Ich plaidire für Schonungslosig-
keit, rechnen Sie auf die harte Haut der gegnerischen
Pachydermen.Noch an anderer Stelle muß ich Sie als Nachfolger grüßen.
Ich wollte Ihnen schon letzthin von dem Fall berichten,
den ich Ostern in Görlitz gesehen habe. Nun wird
mir mitgetheilt, daß er zu Ihnen ins Burghölzli soll
u daß Sie Auskunft über ihn von mir verlangen.
Ich schreibe also dem Vater, daß ich in direktem
Verkehr mit Ihnen stehe u theile Ihnen mit, was
ich gesehen habe. Der Junge wird sehr interessant
sein, er wird wol wenig von uns, wir aber viel
von ihm profitiren, und vor allem ist es das erste -
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Objekt, welches wir beide der Begutachtg unter ziehen konnten.
Ich bin neugierig, ob Sie bestätigen werden, was ich
behaupte, daß es keine Dem. pr. sondern ein mit
Zwang begin̄ender als Hysterie fortgesetzter Fall ist;
diese umgekehrte Entwicklg habe ich bereits früher
einige Male beobachtet; ich bin neugierig, was Ihre
Assoc. experimente zu meiner Diagnose sagen werden.
Es ist ein hochbegabtes Individuum, oedipustypus,
Mutterliebe, Vaterhaß (der antike Oedip. ist ja
selbst ein Fall von Zwangs neurose – Sphinxfrage]
vom 11 J. an nach der Eröffng der sex. Thatsachen
krank; die Rückkehr in’s Infantile greifbar
selbst in der Kleidung, die Sexualablehnung riesengroß,
unübersehbar „comme une maison“, wie Charcot
zu sagen pflegte. Was Schwierigkeiten an ihm macht
u mir den Transport nach Wien verhinderte,
sind seine Schreianfälle, wenn er in Erregg gerät,
die ursprünglich nichts anderes waren als sein infantiles
Pressionsmittel, um Mutter unter seinen Willen
zu zwingen. Jetzt sieht sein Anfall so aus: Er steht
vor einer Thüre, schreit, brüllt, rast und spuckt. Wenn
man sich die Scene ansieht merkt man auf den
ersten Blick – aber ein richtiger Psychiater darf
ja nicht. sehen, was nicht im Kraepelin steht –, daß er
mit zwei Fingern der rechten Hand in einer Rinne
des Thürflügels (so sah ich es) auf und ab fährt
dh er imitirt einen Coitus! Als ich ihm das nach
dem Anfall vorhielt, sagte er Nein: und dann:
die Buben in der Schule haben es ja mit dem Finger
der so macht (in die geschloßene Hand stößt), gemimt.
Dabei zählt er: zwei, drei, vier nach längeren Pausen,
was doch für den Coitus seinen guten Sinn hat
u mit dem Spucken macht er offenbar die -
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Spermaejakulation nach. Er hört dabei Stim̄en (die auch in seinen
Intervallen eine Rolle spielen, was natürlich diagnostisch
zweifelhaft ist aber doch nicht paranoisch aussieht),
seine Miene ist die der höchsten Erbitterung u Entrüstg,
kurz er ist Zuschauer bei einem Coitus, gegen den
er mit Wut reagirt, u wenn Sie bedenken, daß
er bis zum zehnten Jahr bei den Eltern geschlafen
hat, können Sie erraten, welches Paar er da
belauscht. Er spielt natürlich beide Rollen, den Zu-
schauer mit Ekel u den Mann mit der Ejakulation.
Das Schönste kom̄t erst nach. Er ist infantil leider
auch organisch, auch in der Bildg der Genitalien,
die wie er selbst mit großartiger Kühle erzählt,
seit dem 11 J. sich nicht entwickelt haben, hat aus
Stolz die Verzweiflg darüber, alle daran hängenden
Affekte weggedrängt u die stellen ihm nun den
Anfall her. Er würde doch nie zugeben, daß ihm
an dieser ekelhaften Leistung (für die er zufällig
nicht befähigt ist) etwas liegt!Ich weiß nicht ob es seine einzige Anfallsform ist, auch
nicht, ob er diesen Anfall seit unserem Gespräch
darüber etwa modifizirt hat. Wenn Sie ihn sehen,
behandeln Sie ihn nur, ich möchte sagen, als Collegen;
er ist furchtbar stolz u verletztbar, nach meiner
Schätzung um ein Mehrfaches intelligenter als
z.B. Aschaffenburg.Eine Periode infantiler Sexualbethätigg muß
ich bei ihm voraussetzen; anamnestisch war sie bei
den Eltern nicht zu erheben. Aber was können Eltern
alles glücklich übersehen! Da er eine Phimose
hat (ein Fall für Adler!) ist es kaum möglich, daß
ermasturb. Neigg im frühesten Alter ent-nicht
gangen sein sollte. – -
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Am meisten freut es mich, daß Sie meine Dementia-
bemerkungen nicht zurückweisen. Sie wissen, es ist das-
selbe, wenn ich auch gewohnt bin, von Paranoia
zu sprechen, weil ja das paran. Stück der Demenz
erklärt werden soll. Ich werde also die nächste freie
Stunde, heute Sonntag bin ich noch zu unfähig – benützen
um meine paar Gedanken in verständliche Form zu
bringen. Ich gebe diese Einfälle nicht weg; wenn ich
noch was daraus machen kann, werde ich es thun,
aber ich stehe dem Material ferne; ich hoffe, Sie
kommen früher dazu.Ich antworte darum auch heute nicht auf Ihre Dem fragen,
wüßte wol auch keine Antwort schriftlich u so aus
der Ferne. Ich habe nur die Empfindg, daß Sie mit
Recht als das Wesentlichste hervorheben, daß diese
Kranken ihre Complexe widerstandslos ausliefern
u daß sie der Übertragg nicht zugänglich sind, dh:
keinen Effekt ders. zeigen. Eben das möchte ich in
Theorie übersetzen.Übrigens wäre es sehr wol möglich, daß ein richtiger
Hy‑ oder Zw fall nach einer Weile die Wendung
zur Dementia ie Paranoia nim̄t, ohne daß man
sich in der Diagnose geirrt hätte. Theoretisch
läßt sich die Möglichkeit gut demonstriren –
dergleichen wäre bei dem Görlitzer Knaben im̄erhin möglich.Meiner Frau geht es recht gut, sie dankt für
Ihre u Ihrer Frau Theilnahme! Von mir hören
Sie bald wieder.Mit herzl Gruß Ihr
DrFreud
Berggasse 19
Wien 1090
Oostenryk
Burghölzli
Zürich 8032
Switserland
C32F5
16,5 x 20cm