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S.
PROF. DR. FREUD
WIEN, IX. BERGGASSE 19.25.2.08
Lieber Freund
Was Sie über Ihren Chef schreiben, klingt beruhigend.
Ich werde das Phänomen nach seinem Verdienst
bewundern; das ist wirklich seltene Tugend,
die ich mir z. B. nicht zutraue.Ihr Urtheil über die Hysterieformeln, besonders
aber die daran ge knüpften Bemerkungen über
mein Arbeiten hat mir eine selten erlebte
Genugthuung gebracht. Ich weiß, daß Ihr Urtheil im
letzteren Recht hat, daß ich wirklich ehrlich arbeite
weshalb auch mein Wissen so sehr Stückwerk ist
u ich meist unfähig bin, einen längeren Zusam̄en-
hang darzustellen. Ich habe mein bw Spekuliren
möglichst gründlich ausgeschaltet, das „Stopfen der
Lücken im Weltallbau“ ganz von mir gewiesen.
Aber wer glaubt mir das außer Ihnen?In die neue Zeitsch. f. Sexualw ist die Arbeit in Folge
eines kleinen Schwindels der Redaktion geraten.
Sie wurde mir für die Jahrb. f. sex. Zwisch. abver-
langt u erst Monate später bekam ich die Nachricht
daß sie in die neu zu gründende Zeit. f. Sex aufge-
nom̄en werden solle. Ich bat dan̄ um die Garantie,
daß dieses neue Organ nicht eine Chronik des W. H.
Komitees bedeute, in welchem Falle ich sie lieber zurückzöge,
bekam aber keine Antwort, bis plötzlich die
Correctur ankam mit der Bitte, sofort telegraphisch
das Imprimatur zu ertheilen, ohne selbst zu corrigiren.
Das verweigerte ich allerdings; ich hatte aber den
Eindruck, daß bei Hirschfeld in Folge des
Harden-Prozesses alles drunter und drüber gehe.„Stopfen der Lücken im Weltallbau“: Heinrich Heine: Buch der Leider. > Die Heimkehr. 18. Gedicht. Siehe Jones, E., Bd. II:513.
W. H. Komitee: Das Wissenschaftlich-Humanitäre Komitee zur Legalisierung der Homosexualität von M. Hirschfeld gegründet.
Magnus Hirschfeld war Sachverständiger in einem Prozess, den Eulenburg gegen Maximilian Harden angestrengt hatte.
"Die Harden-Eulenburg-Affäre, oder kurz Eulenburg-Affäre, war ein Skandal um eine Reihe von Kriegsgerichts- und fünf reguläre Gerichtsverfahren wegen Homosexualität und die gegen diese Vorwürfe geführten Verleumdungsklagen in den Jahren 1907 bis 1909. Ausgelöst durch erste Texte des konservativen Journalisten Maximilian Harden 1906 fand sie erst 1909 ihr Ende. Betroffen waren prominente Mitglieder des Freundeskreises und der politischen Umgebung von Kaiser Wilhelm II. Die Affäre wurde zum größten Skandal des deutschen Kaiserreiches und erregte weltweit Aufsehen.
Harden inszenierte den Skandal gegen Philipp Fürst zu Eulenburg-Hertefeld bewusst, um den Kaiser außenpolitisch unter Druck zu setzen. Er instrumentalisierte dazu enge Vertraute des Kaisers aus dem homoerotischen Liebenberger Kreis, die er als „homoerotische Tafelrunde politischer Weichlinge“ darstellte, die Wilhelm II. seit zwei Jahrzehnten vom „männlichen“ Kurs Bismarcks abbringen und stattdessen zu einer dauerhaften Friedenspolitik gegenüber Großbritannien und Frankreich bewegen wollten. Dadurch drohe womöglich ein Verzicht auf deutsche Kolonien oder auf das annektierte Reichsland Elsaß-Lothringen.
Der Skandal trug, zugleich mit der Daily-Telegraph-Affäre, zu einer Krise im Regierungslager bei. Sie endete 1909 mit dem Rücktritt des Reichskanzlers Bernhard von Bülow, der ebenfalls in die Affäre hineingezogen worden war." (https://de.wikipedia.org/wiki/Harden-Eulenburg-Affäre [2025-11-05]) -
S.
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Das Unglück ist indeß nicht so groß. Wenn von meiner Neurosen-
lehre eine zweite Auflage erscheint, werden alle diese
neueren Beiträge auf genom̄en werden. Das Wichtigste
daran ist die Bestätigg, daß wir ein Journal zur
Publikation brauchen, mein ceterum censeo!
Ihre Befürchtg der Einseitigkeit habe ich nicht recht
verstanden. Sollte Ihr „Versöhnlichkeitscomplex“ in
der Frage noch die Oberhand haben?Heute erhielt ich Ihre erfreuliche Karte aus Jena. Ich
gönne Ihnen gerne die wenigen Tage Abwechslung.
Es ist doch wol noch nicht Ihre Urlaubsreise.Mit den ‚Studien‘ ist nichts anzufangen. Ich glaube
nicht, daß man Breuers ersten Fall umgehen kann.Ihre Bemerkungen über Paranoia haben bei mir
Resonanz gefunden. Sie sind doch der Einzige, der auch
etwas vom Seinen geben kann; viel leicht noch O. Gross,
der leider nicht gesund genug ist. Ich schreibe Ihnen
nächstens über Paranoia nach meinen Phantasien,
die sich theilweise mit Ihren Gedanken treffen. Ich bin
heute zu müde von der monoton intensiven Arbeit
u brauche einen Sonntag zum Atemholen. Sie haben
Recht, die Sache ist nicht reif, u mit den Schattenbildern
von Erin̄erungen, die mir zu Gebote stehen, kann ich
nicht arbeiten. Ich möchte darum, daß Sie sich
des Problems ganz bemächti gen.Für Ihren englischen S. A. besten Dank, er wird Sonntags
gelesen werden. Lassen Sie mich wissen,wannob
Sie meiner Erkundigungen nach Quartier in Salzbg
bedürfen.Mit herzlichen Grüßen
Ihr getreuer
FreudS. A.: Separatabdruck
SKSN, Band 2, erschienen 1909
Berggasse 19
Wien 1090
Oostenryk
Burghölzli
Zürich 8032
Switserland
C32F14