PROF. DR. FREUD

WIEN, IX. BERGGASSE 19.

  • S.

    Rom 24 Sept 1910

    Lieber Freund

    Ich schreibe Ihnen heute an einem finsteren, trüb
    regnerischen, kalten Morgen, der an unseren November
    erinnert. Am Abend gedenken wir die ewige
    Stadt zu verlassen, um die Heimat wiederauf-
    zusuchen. Sie sind unterdeß wol Vater geworden, 
    ich hoffe zu Haus die besten Nachrichten von
    Ihnen vorzufinden.

    Die Reise war sehr inhaltsreich u hat mehrere für
    die innere Ökonomie längst notwendige
    Wunscherfüllungen gebracht. Sizilien ist das schönste
    Stück von Italien u hat ganz einzige Stücke des
    untergegangenen Griechentums erhalten, infantile
    Reminiszenzen, die Schlüße auf den Kernkomplex
    gestatten. Die erste Woche auf der Insel war
    ein hoher Genuß, die zweite in folge anhaltenden
    Scirocco eine schwere Prüfung für den armen
    Konrad. Endlich fühlt man, daß alles überstanden
    ist, Scirocco, Cholera‑ und Malariagefahr. Sept.
    ist nicht die richtige Zeit, um diese Schönheiten
    genießen zu können. Mein Reisebegleiter
    ist ein sehr lieber Mensch aber etwas
    ungeschickt verträumt, u infantil gegen mich
    eingestellt. Er bewundert mich unausgesetzt,
    was ich nicht mag, u kritisirt mich wahrscheinlich
    scharf im Ubw, wenn ich mich gehen lasse. Er
    hat sich zu sehr passiv u rezeptiv verhalten, alles
    für sich thun lassen wie eine Frau, u meine
    Homosexualität reicht doch nicht soweit, ihn
    dafür anzunehmen. Die Sehnsucht nach einer 

  • S.

    wirklichen Frau steigt sehr auf solchen Reisen.

    Verschiedene wissenschaftl Ansätze, die ich mit-
    brachte, haben sich zu einer Arbeit über Paranoia
    zusam̄engethan, die aber noch des Abschlußes
    entbehrt, indem in der Aufklärg des Mechan-
    ismus und der Neurosenwal ein ganzes Stück
    weiter führt. Ich weiß nicht, ob der Oktober
    das Fehlende bereit wird ergänzen können. 

    Montag 26 Sept 10.

    Jetzt bin ich zu Hause u etwas müde von der Fahrt
    u dem Wechsel der Szenerie. Ich will gerade
    nur Ihren Brief beantworte, den Glückwunsch
    zur Geburt Ihrer dritten Tochter u den herzlichen
    Gruß an Ihre Frau nicht aufschieben.

    Mit Bleuler schlage ich Ihnen vor, Geduld zu üben.
    Sie wissen, wie sehr ein solches Verhalten gegen
    mein Temperament geht, aber …sein Name auf
    dem Jahrbuch u seine  historische Rolle nötigen
    zur Selbstverleugnung.Wir müßen sozusagen
    die Kosten für Ihre Entwicklungsgeschichte
    bezahlen. Ich denke, er wird langsam ausscheiden,
    bin auch auf die Apologie sehr neugierig,
    über die wir dann verhandeln wollen. Wir
    ziehen natürlich die Konsequenzen u laden ihn
    nicht zum Kongress ein. Unterdeß arbeiten
    wir weiter. 

    Der Brief Binswangers liegt bei. Frl M[oltzer] ist zusehr
    in Überkompensation. ich habe selbst die Be-
    hauptung gewagt, daß die Briefe der anderen
    jungen Dame etwas verworren erschienen.

  • S.

    Wenn ich erst durch das Dickicht durch
    bin, schreibe ich Ihnen wieder, auch
    von wissenschaf Vorsätzen. Unter
    dem Vorgefundenen ist mir
    eine charakterist. Kritik des
    flüchtig hingemachten Professors
    u Hofrats Schottländer in der
    Zeitsch. f. Psychol u Phys d Sinnesorg
    aufgefallen; irgend ein. anderes
    Sudelschwein hat dem Leonardo 
    m Berliner „Sturm“ einen
    zärtlichen Aufsatz gewidmet über-
    schrieben: Das  bespuckte Genie.
    Sonst gute u ernsthafte Sachen,
    die zeigen, daß man sich in der
    Welt mit uns abgiebt, ein Auf-
    satz v Putnam, den Sie gewiß
    auch haben, eine Nr des Lancet,
    in der zur Abwechslung Ihre
    „Komplexe auf meine Rechnung
    geschrieben sind, etc

    Pfister ist fertig u wird alsbald
    ausgegeben werden, ebenso
    Hitschmann. 

  • S.

    Das Buch von Haeberlin liegt vor mir,
    ein neuer Band Anthropophyteia,
    an der wir jetzt aktiveren
    Anteil nehmen, eine neue
    Auflage von Havelock Ellis
    (Modesty ‑ Autoerotism), wie jedes-
    mal, sehr liebenswürdig gewidmet.
    Wann soll ich das alles lesen 
    beantworten? Ich gönne mir
    noch Ferien bis zum 1 Okt. dann
    fange ich an. 

    Ich grüße Sie herzlich u gebe
    der Sicherheit Ausdruck,
    daß unserer Sache nichts ge-
    schehen kann, solange unser
    beider Einverständnis unge-
    trübt bleibt.

    Ihr getreuer
    Freud