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    PROF. DR. FREUD      WIEN, IX. BERGGASSE 19.

    5 Nov 11

    Verehrter Herr Kollege

    Meinen schönsten Dank für das heute ein-
    getroffene Buch über Ihren Grossvater, 
    das ich mit großem Interesse lesen werde. 
    Es ist gewiß nicht nur eine Pflichterfüllung 
    sondern auch eine hohe Befriedigung, wenn 
    man von den Thaten eines Ahnen be-
    richten und so das Geschwätz der Wissen-
    schaftler über die notwendige Entartung 
    der zivilisirten Menschheit an dem eigenen 
    Stamm widerlegen kann.  In der That 
    bietet gerade Ihre, die englische Rasse, 
    zalreiche Beispiele von der Erhaltung 
    kultureller Leistungsfähigkeit durch 
    mehrere Jahrhunderte und viele Gener-
    ationen.

    Über den Zustand Ihrer Tochter läßt sich, 
    wie ich merke, aus der Ferne ein 
    Urteil absolut nicht gewinnen. Die 
    Diagnose schwankt also noch und daher 
    gewiß die therapeutische Ratlosigkeit. 
    Die Anknüpfung an eine Poliomyelitis 
    von der Sie (ein früheres Mal) geschrieben 
    haben, erschiene mir besonders zweifel-
    haft.

  • S.

    Ihnen keinen übeln Nachgeschmack hinter-
    lassen haben. Die Arbeit an sich selbst ist 
    unbegrenzbare fordernde. Ich 
    merke an mir, wie sehr man sich jedes 
    neue Mal in Erstaunen versetzen 
    kann.

    Die „äußere Politik“ der ΨΑ ruht jetzt einig-
    ermaßen. Es geht nichts Neues vor. Es wird 
    Sie interessiren zu hören, daß Ihr Vortrag 
    in Weimar auf mich bedeutend gewirkt 
    hat. Freilich ist meine Reaktion danach 
    eine ganz eigentümliche. Ich arbeite daran, 
    die Psychogenese der Religion analytisch 
    zu verstehen u das mir persönlich fehlende 
    religiöse Bedürfnis nach unserer Art 
    aufzuklären. Ich studire zu diesem Zweck 
    Frazer, Andrew Lang, Tylor etc. u werde 
    mich auch bald mit Ihrem verstorbenen 
    Freund W. James beschäftigen müßen.

    Wenn ich zu einem Abschluß u zu Ergebnißen 
    komme, werde ich hoffentlich die wirklich 
    From̄en nicht beleidigen müßen. 

    In der Hoffnung, bald und Gutes 
    von ihnen zu hören, 
    Ihr
    herzlich ergebener 
    Freud