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Separat-AMruc/c „„
„Nelu'ulogiwhew Üoßmralblun“.
UahrmicAl der Leütmiyn‘n auf «in: Debian der Anatomie. Phylialn/zie. Pallwlu_qia und
’Ilm-apie der Emailqu ainmlnlianlich der Geirbal>rankhuiien. mes. No. 15 u. 15.
» Rsrt..- Profi Dr. E. Mmtlsl. _ Leipzig, nnd, 0aw«Ueber familiäre Formen von ccrebrelen Diplegien.
Von Dr, Sign. Freud, Privmtdecent in Wien.
Den Anlaß zu dieser M.ibtlieilung gab mir die folgende, im Vorjnhr gemachte
Beubnehtung zweier Kinder, die ein ganz ungewöhnliches Krankheitsbild derhotfll.„Es handelt sich um zwei Kinder eines Amtes, der seine Nichte (Schwester-
toehter) zur Frau genommen hat, der er etwa um 18 Jahre im Alter voraus
ist. Von den sechs Kindern dieses blutsverwnnflten Pes.res leiden zwei an einer
Afi'ecfion, die ich unbedenklich zu den eerebrnlen Diplegien rechnen würde. Die
Femiliengesohiehte lässt indess erkennen, dass ein drittes Kind an einer ihn-
lichen Afi‘ention gelitten hat, und zeugt überdies für eine Neigung zur Leicht-
B'fißlblißhkeit in dieser Generefionsreihe.Hereditä.re Belastung wird bei den älteren Mitgliedern der Familie in Ab-
rede gestellt. Ich kenne selbst mehrere Personen daraus, z. B. die Geschwister
am! die Eltern der Mutter, und kann hmhitigsn, dies dieselben weder an körper-
liübanMiesbildungen noeh an Nervenkrnnkheitanleiden. Die männlichen Familien—S.
2 ,
mitglieder lassen eine weitgehende ihnnliiue Ashnliohkcit erkennen; die durch-
schnittliche Begabung der männlichen und weiblichen mir bekannten Personen
dieser Sippe ist sicherlich über dem Mittehnnass.Die Mutter der kranken Kinder soll kurze Zeit vor der Hochzeit eine Ver-
stimmung und eine Tussis narvosn bekommen haben, so dass sie hir phthisiseh
gehalten wurde, Ich habe guten Grund zu vermuthen, dass dieser Zustand,
den die Dame selbst als eine „Hysteric“ bezeichnet, nieht; mit einer hereditä.ren
Disposition zu thun hatte, sondern in durchsichtiger Beziehung zu der bitltl
nachher criolgenden Heirath stand. Die Frau init seither u>'t alljährlich ein
Kind geboren und ist körperlich und seelisch gesund geblieben. Das erste Kind
uns der Ehe mit ihrem Mutterbmdar war eine Frühgehnrt von 7 Monaten,
schwächlich, und lebte nur 8 Monate. Das zweite Kind ist unser Patient Nr. 1,
das dritte unser Patient Nr. 2, der in weit geringerem Grade erkrankt ist; das
vierte Kind, gegenwärtig 3 Jahre alt, ist völlig normal; ich habe es untersucht
und mit den Geschwistern verglichen. Ein i'ünftcs Kind starb mit 10 Monaten,
angeblich an Rhachitisi?); es mit von Anfang an gelhhrnt, theilnahrnslos, wie
es scheint, idiotisch. Ein sechsten war 3 Wochen zu früh geboren und lebte
nur Wenige Stunden. Die drei lebenden Kinder sind Knaben, das Geschlecht
der anderen vergess ich zu erfragen. Convulsionen irgend welcher Art sind bei
keinem der Kinder beobachtet werden, sie wären den intelligenten Eltern gewiss
nicht entgsngen. Ich beinahe noch, dass der ärztliche Beruf des Vaters während
des 8jä.brigen Ehelebens einen meh1fsehen Wechsel des Aufenthaltes mit sich
bmhte, so dass es schwer hält, das Fehlschlngen dieser Generation auf Boden-
einflüsse zurückzuführen.Der ältere der beiden Patienten, Norbert, ist jetzt 6 Jahre und 5 Monate
alt; seine Geburt erfolgte rnsuh und leicht; das Kind war nicht oynnotisch, stark,
wohlgeniihrt, fiel aber sofort durch seine Abnormitait auf. Nie Convulsioncn.
Das Kind soll in den ersten Lehensiuonaten auf Licht überhaupt nicht reagirt,
und die Ripillen sollen sich nicht verkleinert haben, wenn der Vater es mit
dem Angenspiegisl untersucht/& Mit 3 Monaten wurde Nyslagmns bemerkt; das
Kind fing vor 1 Jahre zu sprechen an, aber bereits nur dem Charakter, den
seine Spreche heute zeigt; mit 1‘/‚ Jahren konnte es sitzen und krieohen;
ohne Unterstützung gehen und stehen kann es noch heute nicht. Mit 1‘/‚ Jahren
wurde es rein; es schläft immer ruhig, ist von Kinderkranlihßitßn wie sein
jüngerer Bruder auflällig verschont geblieben.Der Schädel des Knaben soll bei der Geburt mrfl'iillig' spitz gewesen sein;
heute zeigt er nichts Besonderes, keine Asymmetrie, keine Verkümmorung oder
oonrpcnsntoriwhe Ausweitung in einem Durchmesser. Er ist eher gross, vorne
breit, die Hinterhnuptgegend flanher. Das Benehmen des Kindes ist. ruhig, sein
Mienenspiel, wenig beweglich, lässt seine Intelligenz nicht ahnen; dcr Mund
steht etwas Olfen, die Zunge, nicht hypertmphisch, wird gerade vorgestreckn Die
Augen zeigen seitlichen Nystaginus; sie stehen, wenn das Kind nicht fixirt, gleich-
gerichtet in einem Winkel oder besser, sie rol.lfiihren rasche, zuckande Exonrsionen
von der Mittellinie gegen einen Winkel. Wenn das Kind fixirt, tritt sofort263‘Äi‘iv */ S
S.
3
Strabismns oonrcrgens cm und zwar alternircnd, je nach der Hälfte des Ge-
sinhtsléliies, in der sich des fixirte 0hjeut lll-lfilllleL Dr. KÖNIGSTELN constalirt
Atrnplnin nervi optiei auf beiden Augen und theilt mir init, dass eine allm hliche
Besserung des Sehvcrmögens zu erwarten steht. Das Kind erkennt übrigens
grosse Bunhshahsn, wie sie die Titel einer Zeitung bilden, und findet sich in der
Umgehung gut zurecht. Die, Pllpillen sind mitl.elweit‚ rengiren prmupt. 'Die Kopfball-ung ist im “ch; bei Versuchen, den Kopf passiv zu bewegen,
ldllt ein ganz erheblicher Widerstand nach allen Richtungen mit. Leichtere,
aber immer noch unverkennhare Spannung bei passiver Bewegung der Arme.
Im groben Gelimunhe der Arme ist das Kind jetzt nicht eingeschränkt, vielleicht
dass die Grei[bewegungon spurweiee spastisch sind; in der Regel tritt dabei auch
ein Tutentinnstreinur nut, der an den der multiplen Sklerose erinnert, nur dass
er sich rnit der Annäherung am; Ziel nicht steigert. In friiheren Jahren war
das Kind sehr ungesrhielii rnit den Händen, jetzt hat es selbst schreiben gelernt.Die Muskeln des Kindes sind mäßig entwiekelt, an den Beinen entschieden
selileuhter als anderswu Hier besteht aueh ein Grnd von I’aress: die Bewegungen
im Fussgelenk und mit den Zehen kann das Kind nieht willkürlich produmren.
Die Pru’lung auf passive Beweglichkeit weist im den Beinen einen mässigsn
Greif von Starre nach, der übrigens an den Adduetnen nicht so aull'allig ist,
wie man es bei starren Kindern gewöhnlich findet; immerhin ist die Starte der
Beine noch deutlicher als die des Nackens, weit stärker als die der Arme.
Patellnrrcliexe rechts gesteigert, beiderseits Eussphänomen. Das Kind sitzt recht
gut, sieht aber nicht allein; es pflegt alt auf den Hinterkopf zu stürzen, wenn
es sich allein aufgestellt hat, und nach einem solchen Sturm vor mehreren
Monaten waren die Beine angeblich durch Wachen völlig gelä.hmt. Der Gang
(nur mit; Unterstützung möglich) ist spast-iseh, die Füsse sind nahe beisarnrnen,
schleifen bei jedem Schritt lange am Boden; jeder der langsam vrrllzogunen
Schritte wird durch eine (Iireurnduction in der Hüfte eingeleitet; übrigens keine
Spitzi'ussslellnng, keine Ueberkreuzung, kein Suhwanken und keine Richtunge—
indorung bei der Leemnution.Alle vegetativen I‘nnetinncn sind normal.
Die Sprache gewinnt durch einen hohen Grad von Bradylalie ein eigen-
tliiimliehes Geprägs. Die Artienlation des ganzen Wortes ist gedehnt, die Pausen
zwischen den einzelnen Silben und nach jeden] Worte sind verlängert, dio Ba—
i/unung höchst einfürniig, und so bekommt man den Eindruck, als ob eine Spreeb—
maschine in Bewegung gesetzt wire, wozu die laute Stimme und die Promptheit
der Antworten noch weiterhin beiträgt.Man merkt aber, wenn [nun sich mit dern Kinde unterhält und dessan
Sprache verstehen lernt, mit Erstaunen, dass seine Intelligenz, wie die Mutter
mit Rseht riihmt‚ nach keiner Richtung einen Defect oder eine Mindorentwiekelnng
erkennen lässt. Das Nämliehs gilt von dem um 1 Jahr jüngeren Bruder, dessen
Beschreibung weiter unten folgen wird. Als ich die Knaben naeh ihrem Alter
fragte, gab der eine zur Antwort: „6 Jahre und 5 Monate"; der andere: „5 J ahre
und 5 Tage“, wie es riehing war. Nachdem ich sie zu einem Collean geschicktS.
4 ‚
hatte, der mir Auskimft gcbcn sollte, cl) sie etwa adenuide Wucherungen im
Rachen hätten, riefen denn Beide bei ihrem nächsten Besuch: „Wir haben nichts
im Helse“. Die Prüfungen, die ich mit; ihnen nnstcllte, ergeben so viel In—
telligenz und gute Laune, dass ich gerne den Angaben der Mutter Glauben
schenkte, nach deren Bericht die beiden kranken Knaben mit einander über
Geographic disputirten, vorniiglich Rechennufguhen lösten und ihrem Sjährigen,
in jeder Hinsicht normalen Bruder gerne ihre geistige Uehcrlegenheit fühlan
machten. Auch den Charakter der beiden Kranken wusste die snnst sehr be-
kümmerte Mutter nur zu loben.Der jüngere der beiden Patienten, Pepi, 5 Jahre alt, zeigt sc viel Aehn-
lichkeit mit seinem Bruder, dass man den Eltern Recht geben muss, wenn sie
behaupten, „er leide an derselben Krankheit, nur in geringerem Grade“. Um
so intercsanter und bedeutungsvoller fiir die Auffassung einiger Punkte in der
Klinik der cnrchrulen Diplegicu sind die Abweichungen, welche die Kranken-
geschichte des jüngeren Knaben von der des älteren erkennen lässt.Die Geburt dieses Kindes erfolgte gleichfalls leicht und rechtzeitig; wiihrend
aber beim älteren dns Leiden von Geburt an bemerkt wurde, versichert die
Mutter, das dieser; Kind anfänglich normal war und sich normal entwickelte.
Mit 7 Monaten begann es, sich aufzustellen und held darauf Gehversuche zu
machen, welche die Eltern „aber nicht förderten, um nicht dem ehrgeizigen
älteren Knaben zu hinken“. Mit 1 Jahre sprach es fast correct und reich-
lich, entwickelte sich rasch zu ganz besonderer Intelligenz. Erst gegen Ende
des zweiten Lebensjahres trat plötzlich der Nystagmns auf, verschlechterte sich
die Spruche und stellte sich der nigenthiirnlinhe Gang des Kindes her; Alles in
ziemlich rascher Auibincndcrfolge.Der Knabe ist grösser und kräftiger entwickelt als sein älterer Bruder, der
Schädel eher klein, sonst dem des Bruders sehr ähnlich. Die Augen zeigen den-
selben Nysta.grnns, beim Fixi.ren eines seitlich vorgehnltenen Gegenstandes gleieh-
inlls Strabisnnls convergens elternans, der aber minder hochgradig ist. (Atrophin
nervi aptici nach Kömesrnm auch hier). Die Sprache hat denselben Charakter
der Bmdylnlie, die Pausen zwisehen den einzelnen Silben sind kleiner, die Ar-
lioulntn'on im Ganzen besser. Die Arme sind frei von Spannung und Bewegungs-
hemmnng und waren es auch immer, ein Nacken neigt sich eine Spur von Starte.
Die Beine sind mager, Petellarrsfiexs gesteigert, kein Fussphänornen; die Stme
derselben deutlich. wenngleich geringer als beim älteren Knaben. Alle Be—
wegungen des Fussus und der Zehen können willkürlich vollffihrt werden.Des Kind steht ohne Unterstützung, aber breit, mit vorgebeugtern Ober—
körper, sein Gang macht. einen anderen Eindruck als der des älteren Bruders.
Während dieser nur geführt gehen konnte, die Beine nahe beisnrnmen hielt und
mit den Sohlen am Boden schleifie, geht der jüngere allein, selbst ansdauernd,
wie er auch vorzüglich turnt: und klettert, er schleii't weniger am Boden, geht
aber mit sehr breiter Basis, mit deutlichcrer Circumduction und rnit steifer
gehaltenen Beinen.“S.
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Fiir die Beurtbeibmg der hier mitgetheilten Beobachtungen wird es 21 " hst
vun Wichtigkeit sein, dnes man sich der Meinung (lee Elternpnares 'd.llsc iexsl,
beide Kinder leiden an derselben verschieden lreuhgradig ausgebildeten Afleetiuu.
In der That ist die Uebereinstimmung der beiden kleinen Patienten eine ent-
fällige; hier wie dort dieselben drei Hauptsympteme: 1. Atrophia nerri npl,iei
mit Nystngmus herizuntalis und Stmbismus eontergens beim Fixireu, 2. Brerlylalie
bei eigenthümlich mmrutoner Stimme, und 3. spflstisehe Bewegungsstürung der
Extremitäten. Daneben sind gewisse Unterschiede zu beobaohhzn: Bei dem älteren
Knaben betriil"t die Sierra Arme und Beine, an den Armen ist Ungescbieklieh—
keit und Tremor, an (len Beinen ein Grad von Enrese unverkennher; bei dem
jüngeren ist diese Symptomgruppe redueirt auf eine spastische Sturm der unteren
Extremitäten, die Arme sind frei und eine Bewegungseinsehrtinkung ist auch um
den Beinen nicht nachzuweisen. Eine andere Dinerenz, der men vuni'urhst ge,-
neigt wäre eine grosse Bedeutung beizulegen, betriflt die Entwickelung des Krank-
heitsbildes. Beim älteren Knaben sind die Krankheitssymptnme ven Geburt an
bemerkt werden, beim jüngeren traten sie erst gegen Ende des zweiten Lebens-
jahres nut, nach bis dahin völlig normaler Entwickelnng. Im Zusammenhalt
mit den vorhin angeführten Aebnliebkeiten der beiden Fälle muss man sich ent—
sehliessen zuzugeeteben, dass dieser Versehiedenheit im Auftreten der Krankheit
eine (liflerentisldingnostische Bedeutung nicht zukommt, und darf an die mehr-
fachen Belege dafür erinnern, dass eine oengenitnl bedingte Afl'eetien erst in
einem gewissen Lebensalter mich einem Latenzstadium nermalen Verhaltens ihre
ersten Symptome erzeugt.Versucht man nun, das beschriebene in den beiden Fällen etwas vnriirßnde
Krankheimlrild unter eines der bereits bekannten zu subsurnmiren, se ßllt Wahl
zunächst die Aebnliebkeit auf, welche diese familiäre Atteetion mit der Freien-
nnrca'sehen Kmnkheit und rnit der multiplen Sklerose zeigt. Die Cnruhinntiun
der Symptomgruppe: Nystagmns — Brudylalie — atnktiseber Tremor mit der
Gangstömng hat sie mit erstere: gemein, die tnhisehe Symptomgmppe: Reflex—
au.t'hebung, Atax.ie der Beine — ROMnnrm'scbes Symptom „ wird aber hier
durch die spnstisebe Gruppe: Reflexeteigerung und Shure ersetzt, so dass eine
Verweehslung der beiden Afl'eetionen unmöglich wird. Unsere familiäre Aii'eetien
stellt sich geradezu als spnstiscbes Gegenstück zur Fernnnmcn’schon
Krankheit der.Uebrigens ist auch die Gangnrt eine verschiedene, es fehlt das bei der
annnirrea'sehen Krankheit constnnte cerubellare Sehwnnken, es fehlt die dort
zum Bilde gehörige Abschwäehung der Intelligenz, die Zeit der ersten Symptome
ist eine weit frühere, der Verlauf scheint ein anderer zu sein, bei unserer Adec-
tziun, so weit man es beurtheilen kann, stnüunär‚ bei der annnnmn’anhen Krank—
heit pregressiv. In der Abwesenheit von Sensibilitätsstiirungen, Schmerzen und
Atraphie stimmen beide Atfeetionen wieder überein.Was die Untersebeidung dieser familiären Krankheit von multipler Sklerose
anbelangt, so ist Fulgendee zu bemerken: Kein Zweifel, dass der gerehilderte
Symptomuomplex durch eine multiple Sklerose hervorgebracht werden kimute;S.
„„
allein es ist bisher nicht bekannt, dass multiple Sklerose nls wngenitnle Er,
krainliung vorkommt, und ieh würde mich nicht gotrnnen, eine sulebe Bereicherung
unserer Kenntnisse über dieses Leiden anders als auf anatomische Gründe hm
unzuurkennen. Ferner unterliegt die Diagnose der multiplen Sklerose im Kindes»
alter grossen Schwierigkeiten, sie ist belmnntlich hier durch keine einzige Section
sichergestellt, und eine gute Anzahl der unter diesem Namen beschriebenen Fälle
(Vgl. Unann, Ueber multiple inselfe'rrnige Sklerose des [lentrulnerveusystems im
Kindesalter. Wien 1887.) lässt andere Deutungen zu. Die multiple Sklerose
ist überhaupt aueh bei Erwachsenen Weniger durch ihren Symptomeeniplex rhe-
nikierisirt, vun dem jedes einzelne Stück mehrdeui-ig ist, sundern durch ihren
Verlauf, ihre Progression in Schuhen, die nicht selten mit upopleetilerznen Au-
fillen einsetzen, und zwischen denen sich Zeiten von Besserung und Krankheits-
psusen geltend machen. Ein solcher Verluuf fehlt in unseren Füllen ginzlieh;
übrigens ist auch das Symptombild der multiplen Sklerose in unseren Fällen
durchaus nicht sehr ähnlich wiedergegeben.Ich muss sagen, ich kenne überhaupt kein Krankheitsbild, dem unsere
beiden F\ille mit ihrem eigenthürnliehen Zusammentreffen völlig intueier lu—
telligenz und so vieli'ultiger motorischen Störungen befriedigend entsprechen. Ieb
halte es aber für gerechtfertigt, diese familiäre Ail'eetion den „eerebrnlen
Diplegien“ des Kindesalters anzusehliessen. Unter diesem Namen habe ich
in einer grösseren nn Druuk befindlichen Arbeit‘ eine Anzahl von Formen mit
bilateraler Motilitätsstörrmg einerseits, Schwachsinn andererseits zusennnsngsi'ssst,
die sich in allen Stücken an die hemiplegiselie Cerebmllähmung der Kinder an-
schliessen, und deren Kern die Fälle von sog. L1nmnn’sehsr Krankheit bilden.
Ich \mtersebeide dort vier klinische Typen vun cerebralen Diplegu'en: 1. die
allgemeine Stans (sonst: nngebnrene spast-isnhs Cembrnllähmiing), 2. die
psraplegische Stnrre (sonst: spastische Spinnlpm'alyse der Kinder), 5. die
bilaterale Hemiplegie, und 4. die angeborene Oberen und bilaterale
Athetusu. Ieh bemühe rnieh in dieser Arbeit zu zeigen, das es nicht angeht,
die sog. Limnn’sehe Krankheit, d h. die Fälle von allgemeiner, paruplegiseher
Sturm u. dgl., die von Abriorniitiiten des Geburtsactss liei'rühren, von den klinisch
ganz ähnlichen Fällen zu trennen, die einer solehen Aeidologie untbehren. Die
Umgrenzung dieser eershrnlen Diplegien ist darum doeh keine besonders sehuirl'e,
aueh ihre puthulagiseh-anatomische Charakteristik gelingt nicht vollkommen, doeh
kann man festhalten, dass ihnen, wie den hemiplcgisehun Cerebrallähmuugen,
msnnigfsehe, hauptsächlieh vaseuläre Läsionen zu Grunde liegen, die vorwiegend
die Hirnrinfle betred'sn. Die eerebra‚len Diplsgisn sind also Grossbirnerhnnknngen;
ihre positive Charakteristik wird wesentlich durch die Summe ihrer Merkmale
gegeben.Indem ieh im Uebrigen in Betrsfl' der eerebmlen Diplegien auf die er-
wähnte Arbeit verweise, hehe ich nur noch hervor, dass keines der Symptome,
welehe wir bei unserer familiären Afl'eetu'on fanden, den csrebrelen Diplegien‘ In: Beiträge zur Kinderheilkunde, herausgegeben rm. M. Kussnwitz. N. E [H. Franz
Dentiuke. Wien 1893.S.
‚7_
fremd ist. Nystnginns findet sich vereinzelt, Strebismus ist ein sehr häufiges
Symptom, Uligeschiekliclüeit und ’I‚‘rennn' an den Armen bildet hier den Ersatz
für eine Lähmung oder den Rest derselben, die monotone \'ei'lnngsnlnte Sprache
findet nenn bei Kindern, die, wie LITTLE sich eusdrüekte, den Eindruck eines
„tnrdigrode animal“ machen, Muskelspannungen am ganzen Körper oder nur
an den Beinen, mit mehr oder weniger Lähmung compheilt, machen den Haupt
ehamkter der beiden Typen: pareplegisehe und allgemeine Stelle aus. Dass
alle diese motorischen Symptome znsnnlmentreflen und gar keine Intelligenz—
störung, gar keine Auihnltnng der geistigen Entwickelung mit dabei ist, das
macht freilich die Eigenthdrnliehlreit unserer familiären Afieeiion aus. Allein
die Annäherung wird hier durch zwei Bemerkungen erleichtert, [. dass auch
unter den eercbrelen Diplegien Fälle gefunden werden, die ausschliesslich mu—
(mische Symptome ohne Schwachsinn zeigen, und 2, dass ein Bruder unserer
beiden Fälle thsteäehlioh iniotiseh und ganz gelahnit war. Der Kmnkheitsver»
lauf in unseren beiden Fällen ist durchaus identisch mit dern der meisten eere<
bl'nlen Diplegien; die Symptome werden entweder von Geburt an beobachtet
oder entwickeln sich in frühester Kindheit in einer Zeit der Progression, um
dann meist stationär zu bleiben.-Ieh bin so geneigt, unsere familiäre Alfeotion den eerebralen Diplegien zu-
zurechnen, d. h, für eine Grosshirnelfeetion ähnlicher Natur zu halten.Es giebt nun in der Litterstur eine gewisse Anzahl von ähnlichen l'em' enEr—
kranknngen, die mit grösserer oder geringerer Sicherheit den cerebrelen Diplegien
zuzurechnen sind, von denen aber jede Beobachtung ihre besonderen Charaktere zeigt.1. Die weitgehendste Ucbereinstimmung mit unserer Afieetion findet man in
der Beobachtung von I’nmzlns.1 Der Symptomconiplex umfasst hier wiederum:
Nystdgrnus horiz, bei binssei' Pepille N. opt., Bredylelic, allgemeine Ungesehiek-
lichkeit und Longsemhoit der Arme (kein Tremor) und schwere spnstisehe Parn-
plegie mit Reflexsteigernng. Die Entwiekolung des Leidens ist nngel“ohr die adm—
liohe wie bei unseren Fällen, Auftreten der Symptome entweder gleich nach der
Geburt, oder in leichteren Fällen nach einem Intervall normalen Verhaltens in
einer Zeit von Progressiun. Sogar solche Einzelheiten sind hier wie dort iden-
tisch, dass bei späterer Entwickelung der Krankheit der Nystag'mns den Reigen
der Symptome eröffnet, dass das Sprechen zuerst gut erlernt wird und erst dann
den Charakter der Bindylalie nnnimmt.Die Alfeetion ist in der Beobachtung von PELIZÄUS nicht bloss familiär,
sondern auch hereditiir. Sie konnte durch drei Generationen verfolgt werden,
betraf aber immer nur männliche Mitglieder (auch die drei Kranken meiner
Beobachtung waren Knaben).szÄns konnte Auskünfte über 5 Fälle sammeln. Der schwersterkrenkte
darunter zeigte unverlrennbare Progression der Erscheinungen bis zu seinem
Tode, in den leichteren Fällen blieb der Krankheitsznslznd auf einer gewissen
Höhe stationär.‘ Ueber eine eigenthnmllche Ferm splsüaltiier Lähmung mit Cercbrelerechuinnngen tut
hereditä.rer Grundlage (multiple Sklernse). Archiv f‚ Psychiatrie. xvr 1885.S.
‚g,
Trotz mancher l'nlersuhivde (die e von PEUZÄE‘B zeigten Suhwziohsinn,
rliv „reinigen rolle lntelligerr dort n“ r se nvere splist'isehe Parnplegin. bei mcmen
-l<‘ällen nur mins „e paraplegis in Sierra verhanden) bleibt die Aehnlielikeit beider
familiärer Aflee\rencn so sehr im Vordergrunde, dass ich geneigt wäre, die Krank-
heitsznstänrle hier und dort zu identilieiren.2. PnnrzÄus erwähnt bereits die Beobachtung zweier Brüder von Dreseh«
fehl], in deren Afl"eetiun Tremor, Bulbärsymptnme, elnvenliender Gang eine
hervorragende Rolle spielen, so dass sich des Bild wi lieh mehr der multiplen
Sklerose anniilrert. Beginn bei dem einen Knaben mit 14 Monaten, bei dem
anderen im 4. Lebensjahr. Stetigc Pregressien.3. S.\cns“ hat das familiäre Vorkommen der schwersten Form vun eere-
hruler Diplogre, der: bilateralen Lixhnnurg mit Idiot‘ln in mehreren Familien be-
obachtet. Eine ausführlicher mitgetheilte Bwbnchtnng betriflt zwei Geschwister,
die nach normaler Geburt und anfänglich guter Entwiekelung, das eine mit
“denken, das andere mit 8 Monaten, Nystngmns bekamen, theilnnhuislos wurden
und unter Marrßmun zu Grunde gingen. Bei dem einen Kinde wurde eine
papierweisse Papille nonstatirt; die Lähmung war bei dem einen Kinde eine
seh]alfe‚ beim zweiten eine spastisehe.In einer anderen Familie waren vier Kinder in ähnlicher Weise, naeh nor-
maler Entwickelrmg bis zum 6. Monat, blind, idiotiseh und genetisch geliihmt
werden und zu Grunde gegangen (kein Nystag-rnns).4. Ein ausgezeichnetes Beispiel von familiärenr Vorkommen eines Typus
der ('erebralen Diplegien hat Fit. SCHUUMB° beschrieben. Es handelt sich in
seiner Beobaehtnng um 3 Geschwister, (lie das reine Bild (ler peraplegisehen
Stern» mit der dabei so häufigen Complieatiun des Btrebismue dnrhetmr. Das
Interesse dieser Benbaehtung wird dadurch verringert, dass alle 3 Fälle L!TTLE'-
sehe Aetialogie besessen; die Geburt hatte 3 Tage gedauert, war langsam und
schwer gewesen. Ein ülrestes Kind, das völlig normal war, war auch leicht ge-
boren werden. Es liegt Alsu nicht so sehr eine eengenitnle familiäre Afieetion‚
sondern eine in derselben Familie drei Mal wiederholte Lir’rnn’sehe Starte vor.5. Die Aefiolegie der protrnhirten Geburt und die Cemylieatinn mit Stra-
bismne lassen über die Aufl'nssung der Fälle von Sennurzn keinen Zweifel. Wo
aber diese beiden Momente wegfallen und nur eine pn.rnplegisehe Shine erübrigt,
wird das Urtheil über die Natur der Aß'eetiun natürlich sehwankend werden.
Dies trifft für die 3 Gesehwister mit spastiseher Shure zu, die v. Kmm-Ennm*
kürzlich in Wien vorgestellt hat. v. Knnm-Enme entscheidet sich für die‘ Medical Times und anette. Y). Febrmu' 1578.
* On meslzcd eerebrnl develwment, with special referenw to its cortienl pathology.
Jnumnl of new. and ment. an. nam. » A further eontribntion to the pethnlogy „r arrested
cer-e1ml development. ma. 1592.' Sputisehe3tnrre der Unlkrextrurnitälen bei drei Geschwistern. Durth med. Wochen-
sehl. 1839. Nr. 16.' v. KnAerT-Esma, Familiiiru apnsfisehe Spinnlpninlyse. .Wiener rn», Weehensehrift.
l892. Nr. 97.S.
9 i
Diagnose eines il)iil'nnl_yüillä; (lie Analogie mil. «len Füllen l<‘n‚ chuur .
«len typischen Formen van sogenannter spn seiner Sninulpm'ulyse [ sen aber
die Aull'ussung einer „unrehrulen Sinn-e." nis ininrii‘slflui nhenso heiruhligt er-
scheinen.Die vom Autor gegen diese Anlku‘snng vurgehmehlnn Gründe halte ich für
unzutrefllind. Lehrmich ist in (lau Fällen v. Knnrrr‘s die verschierlennrtigo
llntwrekelunn des gleichen Leidens bei den drei Geschwistern. Das eine zeigte
(lie sprintis(zlmn Symptnine schon als kleines Kim] und lernte erst sehr spät gehen,
die anderen lernten fn'ihze g“ gehen und bekamen die pnrnplegisnlm Shure, init
3 Jahren ohne bekannte Ursache untl mit 5 Jahren nach einer Inl'eetionslrrunk—
liuit. Ein neuer Beweis, wie leicht man in die Lüge hemmen hmm, eine eigent—
liuh congenitnl bedingte Ali'eerion für eine ntu1ui.ri.rte zu halten.6. Wenn die bisher angeführten Beobachtungen dern familiären Vorkommen
von allgemeiner und pumplegischer Sturm und hilnternler Lähmung Hut—prechen‚
so darf mini erwarten, dass auch der letzte Typus der eerehmlen Diplegien, die
mugenitale Chorea untl hilnternle Athetese, seine familiären Vertreter huheu wird.
Dies ist in der Thut der Fall.MASSALOXGO (bei Armrir‘) lhcilt (lie Beobachtung dreier Geschwister mit,
welche einem gesunden Elterner entspmssun um! selbst unrninl gehure‚n‚ auch
his Zinn 7. Jahr normal entwickelt, von dieser Zeit an das Bild einer schweren
(loppelseiligeu Athetlnu-i zu entwickeln liegnunen, welches '/.lll‘Zeit (ler Heuhnnhl.ung
bei dem jüngsten eben mit Atheiosn der Finger und Zungenunruhe einsetzte,
hei dem ältesten Kinde voll ausgebildet war untl sich als Beispiel der so häufigen
lnrnhinatiun ven Athelnse (les Oberküi'pers mit spuitiselier Sturm der Beine
erwies.7. Muri kann sich ffltuat kaum der Meinung erwehrnu, äuss (lie.5 Gemlurister.
welehe Unvnnmcflfl in seiner Monographie üher Myoclonie den Beispielen dieser
Afi'eetion voranstellt, hierher. ich meine zu den familiären Fahnen ven Chureu
um] Athetnse, gehören. quunumur bezeichnet seine Fülle als Myaeluniu,
weil die nnwilllrfirliehcn Bewegungen jene Charaktere zeigen, die Fnrnnmarcn
zuerst in seinem bekannten Fall von Pnrdmynulhmls rnultiplex lunsehriehen hat.Aber ieh meine, die ßnmmluug Unwnn.w‚ur"s ist ein gutes Argument, um
jeden Forscher, der in das „Chaos motorischer heuroscn“ Ordnung bringen
möchm, davon nhzuschreeken, das er das Hauptgerrieht bei der Unterscheidung
auf den Charakter der Zuchungen, anstatt mit“ 41715 klinische Gnsammtbihl legen.
Die 5 Gesnhwister im Buche Unvrmcnr‘s stimmen in keinem anderen wesent«
lichen Punkt mit den ihnen nachstehenden Beobachtungen überein, weder im
Alter, „uch im Verlauf, in der Bedeutung des ganzen Bildes, der Prognose und in
den symptnmntisohrn Einzelheiten. Diese Fälle zeigen symptomntisnh die grösste
Aehnliehkeit mit der Chorea ehr—union progressive, die aber keine. Erkrankung
des Kindeslilten's ist, untl wären nach meiner Deutung den familiären Formen‘ lla.thétuse double et les chnnies chrouiqnne rle. l'enl'nnce. Lyon 1892.
„ Die Mynclouiu. Wlan 1891.S.
‚m,
der nembm.leu Diplegien anzuschliessen, und zwar dem Typus der aougenitlil bla-l
ding‘mn Chorea, "mal dem die unwillküflieh9n Bewegungen also die Farm list .
Churea, der Athetuse oder der Myocloniß annehmen können, wenn der Nämfi“
„Myoßlouie“ — als Bezeichnung eines Symploms, nicht einer Krankheit— bei-
behalten werden soll.Da eine sehr erhebliche Anzahl der Einzelfälle von mebrälen Diplegien
überhaupt etmgenit‘al bedingt ist; (vgl. meine längangs angekündigte Arbeit), so
darf es nicht Wunder nehmen, dass (liege —— uns übrigens völlig unbekannlien
, congenilralen Bedingungen golpgeutlioh in einer Generationsreihe mehrere
Mitglieder in ähnlicher oder identischer Weise affiei1eu. Man dmf vielmehr ep
warten, dass weimre Beobachtung uns nach eine game Anzahl solcher fami—
liärer Aifee;üoneu vom Typus der cerehmlen Diplegiau bekannt geben wird.Wien, Mitte April 1893.
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