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3. Ueber ein Symptom, das häufig die Enuresis nocturna
der Kinder begleitet.Von Dr. Sigm. Freud, Privatdocent in Wien.
Seit Jahren beobachten wir im I. öffentlichen Kinderkrankeninstitut in Wien
(Prof. Kassowitz) an den mit Enuresis nocturna behafteten Kindern ein in-
teressantes Phänomen, welches als Begleiterscheinung dieses Leidens nirgends
erwähnt findet, und dessen Verständniss uns Schwierigkeiten bereitet hat. Etwa
die Hälfte dieser Kinder zeigt nämlich eine Hypertonie der unteren Extremitäten
ohne sonstige Funktionsstörung derselben, die oft einen sehr hohen Grad erreicht.
Man überzeugt sich von dem Vorhandensein dieser Abnormität in folgender Weise:
Wenn das Kind ausgekleidet mit aufliegenden unteren Extremitäten auf
einem Tische sitzt, fasst man dessen Beine bei den Füssen und versucht sie
möglichst weit zu spreizen. Man stösst dann auf einen Widerstand, der anfangs
stark, nach kurzer Zeit sehr nachlässt und jeden, der mit Kindern zu thun hat,
an die Starre bei der fälschlich sog. spastischen Spinalparalyse (meinem Typus
der paraplegischen Starre unter den cerebralen Diplegien), an die „lead-
pipe“-Contractur englischer Autoren erinnert. Der Widerstand, der anfangs kaum
überwindbar erscheint, rührt von den Adductoren her, die dabei als harte Stränge
vorspringen, so dass eine tiefe Grube zwischen ihrer Sehne und der übrigen Ober-
schenkelmuskulatur entsteht. Lässt man die nun gespreizten Beine aus, so
schnellen sie häufig wie in Folge eines elastischen Zuges wieder zusammen; dabeiS.
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schlagen selbst mitunter die Fersen mit einem lauten Geräusch an einander.
Ausser an den Adductoren lässt sich diese Hypertonie noch mit Leichtigkeit am
Quadriceps cruris erweisen. Fasst man bei ausgestreckter Lage der Beine den
Unterschenkel und versucht ihn rasch gegen den Oberschenkel zu beugen,
so begegnet man demselben Widerstand, der anfangs sehr intensiv, sehr bald nach-
lässt und bei einer raschen Wiederholung der Beugung nur sehr verringert auf-
tritt. Die Sehnenreflexe sind dabei eher gesteigert, die Muskelmassen erscheinen
häufig besonders gut ausgebildet, fühlen sich derb an. Neben dem beschriebenen
hohen Grad von Spannung findet man bei den Kindern mit Enuresis nocturna
vielfach geringere Grade und in etwa der Hälfte der Fälle ist, wie gesagt, das
Phänomen unmerklich.
Es wurden verschiedene Erklärungen dieses Symptoms, das ich im Kinder-
krankeninstitut vielfach meinen Mitarbeitern und Gästen demonstrirren konnte,
versucht:
1. Die Spannung wurde für eine willkürliche angesehen, in Folge der Angst
oder Schamhaftigkeit der Kinder. Dagegen spricht, dass sie bei Knaben und
Mädchen in gleicher Weise vorkommt, und dass sie bei normalen Kindern, die
wir auf diese Weise untersucht, nicht oder nur sehr selten gefunden wird. Der
Einfluss der Willkür des Kindes auf die Spannung ist folgender: Wird das Kind
aufgefordert, die Beine locker zu lassen, so lässt die Spannung nach, stellt sich
aber beim nächsten Versuch oder nach einer Pause gerade so wieder ein. Ver-
sucht man die Beugung des Knies, während das Kind nach Aufforderung die
Adductoren erschlafft, so findet man den Widerstand des Quadriceps unverändert
und umgekehrt. In den höchsten Graden vermag das Kind die Spannung will-
kürlich nicht völlig aufzuheben. — Eine ähnliche Bemerkung, dass die Am-
putirten mit der Furcht vor dem Verlieren der Schenkel aneinander-
zupressen, erledigt sich durch den Hinweis auf das nächtliche Auftreten der
Störung.
2. Da diese Hypertonie der unteren Extremitäten, soweit ihre Beschreibung
reicht, mit der Starre bei der sog. spastischen Spinalparalyse völlig überein-
stimmt, haben wir anfangs gemeint, dass wir in den Fällen von Enuresis noc-
turna rudimentäre Fälle von dieser Affection zu sehen haben. Allein die Fälle
von spastischer Spinalparalyse zeigen, wenn man die Kinder auf die Beine stellt, eine
Neigung, die Oberschenkel zu überkreuzen oder wenigstens die Knie aneinander-
zupressen, eine späte Entwicklung und Einschränkung der willkürlichen Be-
weglichkeit. Nichts von alledem konnten wir bei der Enuresis wiederfinden;
die Function der unteren Extremitäten war völlig intact, die Kinder liefen,
sprangen u. dgl. mit normaler Kraft und in normaler Weise. Es gelang uns
auch nicht bei den Kindern mit Enuresis das ätiologische Moment der para-
plegischen Starre [Frühgeburt] oder deren charakteristische Complication mit
Strabismus genügend häufig nachzuweisen. Endlich, wiewohl Enuresis nocturna
bei Kindern mit paraplegischer Starre vorkommt, mussten wir uns doch sagen,
dass sie keineswegs zu den regelmässigen oder nur häufigen Symptomen dieser
und anderer Typen von cerebralen Diplegien gehört. [Vgl. meine Arbeit: ZurS.
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Kenntniss der cerebralen Diplegien des Kindesalters im Anschluss an die
LITTLE’sche Krankheit. Wien 1893. Referirt in diesem Centralbl. 893. Nr. 15.]
3. Dass die Hypertonie sich nicht constant bei der Enuresis findet, sondern
nur in etwa der Hälfte der Fälle, beweist nichts gegen eine innige Verknüpfung
beider Symptome. Die Enuresis nocturna ist bekanntlich ein vieldeutiges Phä-
nomen, das auf verschiedene Leiden und mannigfaltige Aetiologien zurückgeht,
und es könnte sehr wohl sein, dass die Hypertonie nur der einen oder anderen
Form von Enuresis angehört und bei dieser dann eine constante Begleiterscheinung
darstellt. Ob dies wirklich der Fall ist, und für welche Formen der Enuresis dies
gilt, konnten wir an unserem Material nicht mit Sicherheit entscheiden.
4. Wir haben speciell darauf geachtet, ob die Hypertonie regelmässig mit
jenen Charakteren zusammenfällt, welche die Auffassung einer Enuresis nocturna
als Aequivalent eines epileptischen Anfalles nahe legen. (Diese Charaktere sind:
das Kind ist zunächst rein geworden, die Enuresis erst nach einem Intervall
normalen Verhaltens aufgetreten; sie war anfangs seltener, ist dann häufiger
geworden; sie trifft nicht jede Nacht, sondern endlich regelmässig $1-2-3$ Mal
in der Woche auf, dann aber mehrmals in einer Nacht, oder sie setzt wochen-
lang aus, um dann in einigen Nächten hinter einander wiederzukehren; ferner
als entscheidend: die Bromprobe und gewisse Nebenümstände des Falles.) Aber
auch dieser Nachweis ist uns nicht gelungen und nicht einmal wahrscheinlich
geworden.
5. Eine feste Beziehung zwischen der Intensität der Hypertonie und der
Intensität und Hartnäckigkeit der nächtlichen Funktionsstörung besteht nicht.
Wir haben die Hypertonie oft unverringert gefunden, wenn uns die Heilung des
Bettnässens z. B. durch den fortgesetzten Gebrauch von Ext. fluid. Rhus. aromat.
gelungen war.
Nach dem Vorstehenden gelangen wir zu dem Schlusse, dass die Bedeutung
der bei Enuresis nocturna vorkommenden Hypertonie noch aufzuklären ist, dass
dieses Symptom aber geeignet scheint, die Auffassung einiger Formen von nächt-
lichem Bettnässen zu beeinflussen. Es liegt nämlich nahe, dieses Leiden durch
eine ähnliche spinale Ueberinnervation des Detrusor vesicae zu erklären, wie sie
die Untersuchung an den Muskeln der unteren Extremitäten direct nachweist.
Wien, im October 1893.
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