Anmerkung über Ewald Hering [Zusätzliche Fußnote in der Übersetzung von ›Levine, Israel (1923): The Unconscious‹ unter dem Titel ›Das Unbewußte‹] 1926-062/1926
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    34 Das Unbewußte vor Freud


    Das Verhältnis des Bewußtseins zum Unbewußten ist also
    gleichzustellen dem des Zweifelns oder der Unsicherheit zur
    Gewißheit. „Unsere Kenntnis haust an der Grenze der Un­
    sicherheit. Wo wir ganz sicher sind, wissen wir auch nicht,
    daß wir wissen.“

    Auch rein physiologische Funktionen müssen nach Butlers
    Ansicht als Belege dieses unbewußten Gedächtnisses verstanden
    werden. Diese Annahme deckt in gleicher Weise die Tatsache,
    daß die Krebstier Scheren entwickelt hat, wie die, daß das
    Neugeborene kurz nach der Geburt zu atmen anfängt.

    Butlers Lehre hängt historisch von der Auffassung des
    Gedächtnisses ab, welche 1870 von E. Hering in seinem
    Vortrag „Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion
    der organischen Materie“ ausgesprochen wurde. Butler bringt
    in „Unconscious Memory“ eine Übersetzung dieses Vortrags,
    aus welchem nachstehende Stelle hier zitiert werden mag:
    „Leicht erkennt man bei näherer Betrachtung, daß das Ge­
    dächtnis nicht eigentlich als ein Vermögen des Bewußten,
    sondern vielmehr des Unbewußten anzusehen ist. Was mir
    gestern bewußt war und heute wieder bewußt wird, wo war
    es von gestern bis heute? Es dauerte als Bewußtes nicht fort
    und doch kehrte es wieder. Nur flüchtig betreten die Vor­
    stellungen die Bühne des Bewußtseins, um bald wieder hinter
    den Kulissen zu verschwinden und andern Platz zu machen.
    Nur auf der Bühne selbst sind sie Vorstellungen, wie der
    Schauspieler nur auf der Bühne König ist. Aber als was
    leben sie hinter der Bühne fort? ... So liegt das einigende
    Band, welches die einzelnen Phänomene unseres Bewußtseins
    verbindet, im Unbewußten... (l. c. S. 10–12).“1


    1) Anmerkung des Übersetzers: Dem deutschen Leser, dem der oben er­
    wähnte Vortrag von Hering als eine Meisterleistung vertraut ist, läge es

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    Samuel Butler 35


    Es verdient Hervorhebung, daß Butler sich die größte
    Mühe nimmt, seine eigene und die Heringsche Auffassung
    gegen das Hartmannsche Unbewußte in seiner metaphy­
    sischen Ausgestaltung und seiner Clairvoyance (nach dem
    bezeichnenden Ausdruck von Sully) abzugrenzen. Butler
    betont, daß er und Hering ihre Auffassung auf eine Tat­
    sache „der täglichen und stündlichen Beobachtung“ gründen,
    nämlich auf die Neigung häufig wiederholter Handlungen,
    endlich als unbewußte Verrichtungen abzulaufen.

    Streng genommen gehören die Gedanken Butlers einer
    andern Forschungsrichtung an als die waren, denen wir bisher
    in der Behandlung des Problems des Unbewußten begegnet
    sind. Sie betreffen das allgemeine Problem der Beziehung von
    Leiblichem und Seelischem, das nicht nur die Psychologie,
    sondern ebensowohl die Biologie und die Physiologie angeht.
    Die Tatsachen, auf die sich Butler beruft, werden heute
    vielleicht besser in rein physischen Kunstworten, wie zum
    Beispiel in der Mnemehypothese Semons beschrieben.

    Gelegentlich spricht Butler auch von „unbewußten Ge­
    danken“. So schreibt er in einem Brief an einen Freund,
    der zur Verteidigung seines Ausdrucks „Unconscious Memory
    bestimmt ist: „Ich glaube überdies, daß es auch so etwas
    natürlich ferne, davon abgeleiteten Existenzen Butlers in den Vorder­
    grund zu rücken. Bei Hering findet man übrigens treffende Bemerkungen
    welche der Psychologie das Recht zur Annahme einer unbewußten Seelen­
    tätigkeit zusprechen: „Wer könnte hienach hoffen, das tausendfältig ver­
    schlungene Gewebe unseres inneren Lebens zu entwirren, wenn er seinen
    Faden nur nachgehen wollte, soweit sie im Bewußtsein verlaufen? — Man
    hat solche Ketten unbewußter materiellen Nervenprozesse, an welche sich
    schließlich ein von bewußter Wahrnehmung begleitetes Glied anreiht, als un­
    bewußte Vorstellungreihen und unbewußte Schlüsse bezeichnet, und vom
    Standpunkt der Psychologie läßt sich dies auch rechtfertigen. Denn der Psycho­
    logie verschwände oft genug die Seele unter den Händen, wenn sie nicht an
    ihren unbewußten Zuständen festhalten wollte.“

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