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34 Das Unbewußte vor Freud
Das Verhältnis des Bewußtseins zum Unbewußten ist also
gleichzustellen dem des Zweifelns oder der Unsicherheit zur
Gewißheit. „Unsere Kenntnis haust an der Grenze der Un
sicherheit. Wo wir ganz sicher sind, wissen wir auch nicht,
daß wir wissen.“Auch rein physiologische Funktionen müssen nach Butlers
Ansicht als Belege dieses unbewußten Gedächtnisses verstanden
werden. Diese Annahme deckt in gleicher Weise die Tatsache,
daß die Krebstier Scheren entwickelt hat, wie die, daß das
Neugeborene kurz nach der Geburt zu atmen anfängt.Butlers Lehre hängt historisch von der Auffassung des
Gedächtnisses ab, welche 1870 von E. Hering in seinem
Vortrag „Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion
der organischen Materie“ ausgesprochen wurde. Butler bringt
in „Unconscious Memory“ eine Übersetzung dieses Vortrags,
aus welchem nachstehende Stelle hier zitiert werden mag:
„Leicht erkennt man bei näherer Betrachtung, daß das Ge
dächtnis nicht eigentlich als ein Vermögen des Bewußten,
sondern vielmehr des Unbewußten anzusehen ist. Was mir
gestern bewußt war und heute wieder bewußt wird, wo war
es von gestern bis heute? Es dauerte als Bewußtes nicht fort
und doch kehrte es wieder. Nur flüchtig betreten die Vor
stellungen die Bühne des Bewußtseins, um bald wieder hinter
den Kulissen zu verschwinden und andern Platz zu machen.
Nur auf der Bühne selbst sind sie Vorstellungen, wie der
Schauspieler nur auf der Bühne König ist. Aber als was
leben sie hinter der Bühne fort? ... So liegt das einigende
Band, welches die einzelnen Phänomene unseres Bewußtseins
verbindet, im Unbewußten... (l. c. S. 10–12).“1
1) Anmerkung des Übersetzers: Dem deutschen Leser, dem der oben er
wähnte Vortrag von Hering als eine Meisterleistung vertraut ist, läge esS.
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Es verdient Hervorhebung, daß Butler sich die größte
Mühe nimmt, seine eigene und die Heringsche Auffassung
gegen das Hartmannsche Unbewußte in seiner metaphy
sischen Ausgestaltung und seiner Clairvoyance (nach dem
bezeichnenden Ausdruck von Sully) abzugrenzen. Butler
betont, daß er und Hering ihre Auffassung auf eine Tat
sache „der täglichen und stündlichen Beobachtung“ gründen,
nämlich auf die Neigung häufig wiederholter Handlungen,
endlich als unbewußte Verrichtungen abzulaufen.Streng genommen gehören die Gedanken Butlers einer
andern Forschungsrichtung an als die waren, denen wir bisher
in der Behandlung des Problems des Unbewußten begegnet
sind. Sie betreffen das allgemeine Problem der Beziehung von
Leiblichem und Seelischem, das nicht nur die Psychologie,
sondern ebensowohl die Biologie und die Physiologie angeht.
Die Tatsachen, auf die sich Butler beruft, werden heute
vielleicht besser in rein physischen Kunstworten, wie zum
Beispiel in der Mnemehypothese Semons beschrieben.Gelegentlich spricht Butler auch von „unbewußten Ge
danken“. So schreibt er in einem Brief an einen Freund,
der zur Verteidigung seines Ausdrucks „Unconscious Memory“
bestimmt ist: „Ich glaube überdies, daß es auch so etwas
natürlich ferne, davon abgeleiteten Existenzen Butlers in den Vorder
grund zu rücken. Bei Hering findet man übrigens treffende Bemerkungen
welche der Psychologie das Recht zur Annahme einer unbewußten Seelen
tätigkeit zusprechen: „Wer könnte hienach hoffen, das tausendfältig ver
schlungene Gewebe unseres inneren Lebens zu entwirren, wenn er seinen
Faden nur nachgehen wollte, soweit sie im Bewußtsein verlaufen? — Man
hat solche Ketten unbewußter materiellen Nervenprozesse, an welche sich
schließlich ein von bewußter Wahrnehmung begleitetes Glied anreiht, als un
bewußte Vorstellungreihen und unbewußte Schlüsse bezeichnet, und vom
Standpunkt der Psychologie läßt sich dies auch rechtfertigen. Denn der Psycho
logie verschwände oft genug die Seele unter den Händen, wenn sie nicht an
ihren unbewußten Zuständen festhalten wollte.“55
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