Sigmund Freud an Leopold Löwenfeld, Brief von 1904 1904-071/1904
S.

Die Theorie Freuds. 297


sich der Zwang auf die Schutzmaßnehmen, wodurch dieselben den
Charakter von Zwangshandlungen gewinnen1).

Bezüglich der Modifikationen, welche die im Vorstehenden be­
rührten Ansichten des Autors im Laufe der Jahre erfahren haben,
glaube ich, hier erwähnen zu dürfen, daß er dem infantilen Sexual­
erlebnisse nicht mehr dieselbe Bedeutung für die Zwangsneurose,
wie früher, zuschreibt. Nach der jetzigen Auffassung des Autors
gehen die Symptome der Zwangsneurose nicht direkt von realen
sexuellen Erlebnissen, sondern von an solche sich knüpfenden Phan­
tasien aus, welch’ letztere demnach wichtige Mittelglieder zwischen
den Erinnerungen und den Krankheitserscheinungen bilden.

 „In der
Regel sind es Pubertätserlebnisse, die als Noxe wirken und die bei
der Verdrängung in’s Infantile zurückphantasiert werden, unter An-­
lehnung an die in der Krankheit erlebten accidentellen oder aus
der Konstitution fließenden Sexualeidrücke“

 (briefliche Mitteilung
des Autors). An den Grundelementen der Theorie: Verdrängung
einer peinlichen, dem Sexualleben angehörenden Vorstellung und
Transposition des mit dieser verknüpften Affektes, wird durch diese
Modifikation nichts geändert.

B) Unter den Abwehrmaßnahmen, welche zu Zwangshandlungen werden,
führt der Autor noch psychische Prozesse vom Zwangscharakter an. „Die sekun­
däre Abwehr der Zwangsvorstellungen kann erfolgen durch gewaltsame Ab­
lenkung auf andere Gedanken möglichst konträren Inhalts; daher im Falle des
Gelingens der Grübelzwang regelmäßig über abstrakte, übersinnliche
Dinge, weil die verdrängten Vorstellungen immer sich mit der Sinnlichkeit
beschäftigen. Oder der Kranke versucht, jeden einzelnen Zwangsdurch
logische Arbeit und Berufung auf seine bewußten Erinnerungen Herr zu
werden; dies führt zum Denk- und Prüfungszwang und zur Zweifel(ei)
sucht. Er verliert die Wahrnehmung vor der Erinnerung bei diesen Prü­
fungen, verlassen den Grundsatz und zwingt ihn später, alles Objekt, mit
denen er in Berührung getreten ist, zu sammeln und aufzubewahren. Die
sekundäre Abwehr gegen die Zwangsaffekte ergibt eine noch grössere Reihe von
Schutzmassregeln, die der Verwandlung in Zwangshandlungen fähig sind.“

γ) Gegenwärtig fasst der Autor das Wesentliche seiner Theorie in folgende
2 Sätze:
α) Der psychische Zwang rührt immer von Verdrängung her.
β) Die verdrängten Regungen und Vorstellungen, aus denen das Zwangs­
produkt hervorgeht, stammen ganz allgemein aus dem Sexualleben.
Es sei hier zugleich erwähnt, dass die Theorie des Autors nach dessen
Ansicht nicht lediglich auf die Zwangsneurose, sondern auch die übrigen
Psychoneurosen, sowie die psychischen Abnormitäten des Alltagslebens und
deren anwendbar ist.