[Fußnote zu: Jones, Ernest ›Psycho-Analyse Roosevelts‹] 1912-062/1912
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    [Varia.]

    […]

    Psycho‑Analyse Roosevelts. Unter den verschiedenen Würzen des jetzt
    in Amerika mit größter Erbitterung geführten Kampfes um die Präsidentenwürde 
    verdient eine unsere besondere Aufmerksamkeit. Es wurde nämlich der Versuch 
    gemacht, die Persönlichkeit des einen der beider Vorkämpfer in die Beleuchtung der 
    modernen Psychologie zu rücken. In der Wochenausgabe der ‚New York Times‘

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    (24. März 1912), einem der bedeutendsten amerikanischen Blätter, erschien ein aus-
    führlicher Artikel von Dr. Morton Prince unter dem Titel „Roosevelt, durch die 
    neue Psychologie analysiert“1). Der Artikerl, der die erste Seite des Blatte einnimt, 
    hat wie zu erwarten stand, erhebliches Aufsehen erregt. Um europäische Leser 
    mit dem Gegenstande vertraut zu machen, ist es notwendig, eine kurze Darstellung 
    des Standes der Wahlkampagne zu geben. Eines der feststehndsten Regierungs-
    prinzipien Amerikas ist von der Zeit Washington’s an stets das ungeschriebene 
    Gesetz gewesen, dass kein Präsident öfter als zweimal dieses Amt innehaben soll. 
    Da der Präsident grossen Einfluss auf die administrative Durchführung der Wahlen 
    hat, ist es augenscheinlich der Zweck dieses Prinzips zu verhindern, dass irgend-
    wann ein Einzelner versuche, sich durch demagogische Mittel an das Volk zu wenden, 
    um so zum tatsächlichen Diktator zu werden. Die Furcht vor einer Diktatur scheint 
    in Amerika bemerkenswert stark zu sein und man geht von der Ansicht aus, dass 
    jeder, der dem eben erwähnten Prinzip nicht anhängt, ein Verräter der heiligsten 
    Güter seines Landes sei und nicht mehr als Ehrenmann gelten könne. Zur Zeit als 
    Roosevelts zweite Amtsdauer zu Ende ging, im Jahre 1908, kündigte er formell an, 
    dass er „unter keinen Umständen nochmals als Kandidat auftreten werde“. Selbst-
    verständlich wurde er als künftiger Präsident nicht mehr in Rechnung gezogen, 
    aber nach der Rückkehr von seiner berühmten afrikanischen Reise mischte er sich 
    mehr und mehr in die Politik ein, und allmählich wurde es klar, dass er willens 
    war, sich wiederum der Wahl zu unterziehen. Wie eben gesagt, geschah dies nur 
    langsam und schrittweise. Abweisung nach Abweisung wurde verlautbart, während 
    seine Freunde des Gefühl des Landes erforschten, um zu erfahren, ob es möglich 
    wäre, das Volk zu einem Bruche mit dem 120 Jahre lang ununterbrochen gepflogenen 
    Brauche zu bewegen, ohne dabei seine republikanischen Überzeugungen allzusehr zu 
    verletzten. Der gegenwärtige Präsident Taft war Roosevelts intimster Freund und 
    als der letztere im Jahre 1908 zurücktrat, war es ausschließlich sein Einfluss, durch 
    den Taft als sein Nachfolger gewählt wurde. Seine Absicht scheint es gewesen 
    zu sein, in absentia durch Taft zu regieren, der das von Roosevelt begonnene Werk 
    zu Ende führen sollte. Taft zeigte jedoch unmittelbar nach seiner Wahl sein Un-
    abhängigkeit von seinem Vorgänger und folgte seinen eigenen Plänen, die ihm wo 
    nicht die sensationelle Popularität Roosevelts, so doch das Vertrauen des amerika-
    nischen Volkes erworben haben.

    Roosevelt entrüstete sich bei seiner Rückkehr nach Amerika über Taft’s Politik, 
    brach die frühere Freundschaft ab und begann bald ihn in ungemässigter Sprache an-
    zugreifen. Der Zwist der beiden wird in letzter Zeit ungewöhnlich bitter und 
    persönlich; so hat zum Beispiel Roosevelt in einer seiner letzten Reden Taft be-
    zeichnet wie folgt: „ein Undankbarer, ein Unterdrücker der Wahrheit, ein unehr-
    licher Freund und kein Gentleman“. Taft, obwohl er anfangs zu diesen Angriffen 
    schwieg, begann zu erwidern und hatte Roosevelt einen Dr.„Neurotiker“ und einen 
    Heuchler getauft.

    Dr. Prince geht nun auf diese persönlichen Beziehungen zwischen den beiden 
    Antagonisten nicht oder nur oberflächlich ein, aber er versucht die Entwicklung 
    von Roosevelt’s Gesinnungsänderung in der Frage einer dritten Amtsführung nach-
    zuweisen. Seine These ist, dass Roosevelt’s übermächtige Herrschsucht anfänglich durch 
    seinen Ehrsinn in Schach gehalten wurde, dass sie ihn aber nun mit Hilfe 

    1) Wir möchten bei dieser Gelegenheit betonen, dass wir mit der Tendenz, 
    die Psychoanalyse zu Eigriffen in das Privatleben zu benützen, durchaus nicht ein-
    verstanden sind.    
    Die Redaktion. 

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    verschiedener Freunde und unterstützt durch seinen Ärger über Taft’s Haltung, über-
    wältigt hat. Er meint, dass Roosevelt’s Wunsch ein drittes Mal Präsident zu werden, 
    zuerst verdrängt war, dass er sich aber durch eine Anzahl von Handlungen verriet, 
    welche jenen, die Freud in der „Psychologie des Alltaglebens“ beschreibt, 
    durchaus analog sind. Der Widerstand und die Hemmungen werden nach und nach 
    besiegt, so dass der Wunsch schliesslich mittelst einer Reihe von Rationalisierungen 
    mit den höheren Instanzen des vollen Bewusstseins vereinbart wurde. Die ver-
    schiedenen Stadien dieses Prozesses verfolgt er bis ins feinste Detail und manche 
    der von ihm mitgeteilten Beispiele von Roosevelt’s Verlesen, Verdrehen, Missver-
    stehen, von seinen Sprech‑ und Schreibfehlern etc. sind mit bemerkenswerter Gründ-
    lichkeit und Genauigkeit analytisch verwertet; natürlich waren sie durch den alles 
    andere überwältigenden Wunsch determiniert, der schnell an die Oberfläche gelangte. 
    Dr. Prince verweist aus Höflichkeit manche Wünsche und Motive ins Unbewusste, 
    die eher vorbewusst oder völlig bewusst waren; er gestand mir privat, dass er 
    wirklich die letztere Ansicht für die richtige halt. Es ist jedoch wahrscheinlich, 
    dass der Ehrgeizkomplex anfänglich einem gewissen Grade von Verdrängung unter-
    worfen war, bis die im Volke vorwaltenden Gefühlseinstellung es möglich machte, 
    ihn offen auszusprechen. 
    Ernest Jones

    […]