Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens 1912-005/1912
  • S.

    Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens.

    II.
    Uber die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens,

    Von Sigm. Freud (Wien).

    +

    Wenn der psychoanalytische Praktiker sich fragt, wegen welches
    Leidens er am häufigsten um Hilfe angegangen wird, so muß er — ab-
    sehend von der vielgestaltigen Angst — antworten: wegen psychischer
    Tmpotenz. Diese sonderbare Störung betrifft Männer von stark libi-
    dinösem Wesen und äußert sich darin, daß die Exekutivorgane der
    Sexualität die Ausführung des geschlechtlichen Aktes verweigern,
    obwohl sie sich vorher und nachher als intakt und leistungsfähig erweisen
    können und obwohl eine starke psychische Geneigtheit zur Ausführung
    des Aktes besteht. Die erste Anleitung zum Verständnis seines Zustandes
    erhält der Kranke selbst, wenn er die Erfahrung macht, daß ein solches
    Versagen nur beim Versuch mit gewissen Personen auftritt, während
    es bei anderen niemals in Frage kommt. Er weiß dann, daß es eine
    Eigenschaft des Sexualobjektes ist, von welcher die Hemmung seiner
    männlichen Potenz ausgeht, und berichtet manchmal, er habe die
    Empfindung eines Hindernisses in seinem Innern, die Wahrnehmung
    eines Gegenwillens, der die bewußte Absicht mit Erfolg störe. Er kann
    aber nicht erraten, was dies innere Hindernis ist und welche Eigen-
    schaft des Sexualobjektes es zur Wirkung bringt. Hat er solches Ver-
    sagen wiederholt erlebt, so urteilt er wohl in bekannter fehlerhafter
    Verknüpfung, die Erinnerung an das erstemal habe als störende Angst-
    vorstellung die Wiederholungen erzwungen, das erstemal selbst führt
    er aber auf einen „zufälligen‘ Eindruck zurück.

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    Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II. 41

    Psychoanalytische Studien über die psychische Impotenz sind
    bereits von mehreren Autoren angestellt und veröffentlicht worden?).
    Jeder Analytiker kann die dort gebotenen Aufklirungen aus eigener
    ärztlichen Erfahrung bestätigen. Es handelt sich wirklich um die
    hemmende Einwirkung gewisser psychischer Komplexe, die sich der
    Kenntnis des Individuums entziehen. Als allgemeinster Inhalt dieses
    pathogenen Materials hebt sich die nicht überwundene inzestuöse
    Fixierung an Mutter und Schwester hervor. Außerdem ist der Einfluß
    von akzidentellen peinlichen Eindrücken, die sich an die infantile
    Sexualbetätigung knüpfen, zu berücksichtigen und jene Momente,
    die ganz allgemein die auf das weibliche Sexualobjekt zu richtende
    Libido verringern?).

    Unterzieht man Fälle von greller psychischer Impotenz einem ein-
    dringlichen Studium mittels der Psychoanalyse, so gewinnt man folgende
    Auskunft über die dabei wirksamen psychosexuellen Vorgänge. Die
    Grundlage des Leidens ist hier wiederum — wie sehr wahrscheinlich
    bei allen neurotischen Störungen — eine Hemmung in der Entwicklungs-
    geschichte der Libido bis zu ihrer normal zu nennenden Endgestaltung.
    Essind hier zwei Strömungen nicht zusammengetroffen, deren Vereinigung
    erst ein völlig normales Liebesverhalten sichert, zwei Strömungen, die
    wir als die zärtliche und die sinnliche voneinander unterscheiden
    können.

    Von diesen beiden Strömungen ist die zärtliche die ältere. Sie
    stammt aus den frühesten Kinderjahren, hat sich auf Grund der Inter-
    essen des Selbsterhaltungstriebes gebildet und richtet sich auf die
    Personen der Familie und die Vollzieher der Kinderpflege. Sie hat
    von Anfang an Beiträge von den Sexualtrieben, Komponenten von
    erotischem Interesse mitgenommen, die schon in der Kindheit mehr
    oder minder deutlich sind, beim Neurotiker in allen Fällen durch die
    spätere Psychoanalyse aufgedeckt werden. Sie entspricht der primären
    kindlichen Objektwahl. Wir ersehen aus ihr, daß die Sexualtriebe
    ihre ersten Objekte in der Anlehnung an die Schätzungen der Ichtriebe
    finden, gerade so, wie die ersten Sexualbefriedigungen in Anlehnung an
    die zur Lebenserhaltung notwendigen Korperfunktionen erfahren

    1) M. Steiner, Die funktionelle Impotenz des Mannes und ihre Behandlung,
    1907. — W. Stekel in „Nervöse Angstzustinde und ihre Behandlung“, Wien,
    1908 (2. Aufl. 1912). — Ferenczi, Analytische Deutung und Behandlung der
    psychosexuellen Impotenz beim Manne. Psychiat.-neurol. Wochenschrift, 1908.
    2) W. Stekel, 1. c. S. 191 ff.

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    42 Sigm. Freud.

    werden. Die „Zärtlichkeit“ der Eltern und Pflegepersonen, die ihren
    erotischen Charakter selten verleugnet (, das Kind ein erotisches Spiel-
    zeug“) tut sehr viel dazu, die Beiträge der Erotik zu den Besetzungen
    der Ichtriebe beim Kinde zu erhöhen und sie auf ein Maß zu bringen,
    welches in der spüteren Entwicklung in Betracht kommen muß, be-
    sonders wenn gewisse andere Verhältnisse dazu ihren Beistand leihen.

    Diese zärtlichen Fixierungen des Kindes setzen sich durch die
    Kindheit fort und nehmen immer wieder Erotik mit sich, welche da-
    durch von ihren sexuellen Zielen abgelenkt wird. Im Lebensalter der
    Pubertät tritt nun die mächtige „sinnliche“ Strömung hinzu, die
    ihre Ziele nicht mehr verkennt. Sie versäumt es anscheinend niemals,
    die früheren Wege zu gehen und nun mit weit stärkeren Libidobeträgen
    die Objekte der primären infantilen Wahl zu besetzen. Aber da sie
    dort auf die unterdessen aufgerichteten Hindernisse der Inzestschranke
    stößt, wird sie das Bestreben äußern, von diesen real ungeeigneten
    Objekten möglichst bald den Übergang zu anderen, fremden Objekten
    zu finden, mit denen sich ein reales Sexualleben durchführen läßt.
    Diese fremden Objekte werden immer noch nach dem Vorbild (der
    Imago) der infantilen gewählt werden, aber sie werden mit der Zeit
    die Zärtlichkeit an sich ziehen, die an die früheren gekettet war. Der
    Mann wird Vater und Mutter verlassen — nach der biblischen Vorschrift
    — und seinem Weibe nachgehen, Zärtlichkeit und Sinnlichkeit sind
    dann beisammen. Die höchsten Grade von sinnlicher Verliebtheit
    werden die höchste psychische Wertschätzung mit sich bringen. (Die
    normale Überschätzung des Sexualobjektes von seiten des Mannes.)

    Für das Mißlingen dieses Fortschrittes im Entwicklungsgang
    der Libido werden zwei Momente maßgebend sein. Erstens das Maß
    von realer Versagung, welches sich der neuen Objektwahl ent-
    gegensetzen und sie für das Individuum entwerten wird. Es hat ja
    keinen Sinn, sich der Objektwahl zuzuwenden, wenn man überhaupt
    nicht wählen darf oder keine Aussicht hat, etwas Ordentliches wählen
    zu können. Zweitens das Maß der Anziehung, welches die zu verlassen-
    den infantilen Objekte äußern können und das proportional ist der
    erotischen Besetzung, die ihnen noch in der Kindheit zuteil wurde.
    Sind diese beiden Faktoren stark genug, so tritt der allgemeine Mecha-
    nismus der Nenrosenbildung in Wirksamkeit. Die Libido wendet sich
    von der Realität ab, wird von der Phantasietätigkeit aufgenommen
    (Introversion), verstärkt die Bilder der ersten Sexualobjekte, fixiert
    sich an dieselben. Das Inzesthindernis nôtigt aber die diesen Objekten

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    Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II. 43

    zugewendete Libido, im UnbewuBten zu verbleiben. Die Betätigung
    der jetzt dem UnbewuBten angehôrigen sinnlichen Strömung in ona-
    nistischen Akten tut das Thrige dazu, um diese Fixierung zu verstärken,
    Es ändert nichts an diesem Sachverhalt, wenn der Fortschritt nun in
    der Phantasie vollzogen wird, der in der Realität miBgliickt ist, wenn
    in den zur onanistischen Befriedigung führenden Phantasiesituationen
    die ursprünglichen Sexualobjekte durch fremde ersetzt werden. Die
    Phantasien werden durch diesen Ersatz bewuBtseinsfihig, an der realen
    Unterbringung der Libido wird ein Fortschritt nicht vollzogen.

    Es kann auf diese Weise geschehen, daß die ganze Sinnlichkeit
    eines jungen Menschen im UnbewuBtsein an inzestuóse Objekte ge-
    bunden oder, wie wir auch sagen können, an unbewufte inzestuóse
    Phantasien fixiert wird. Das Ergebnis ist dann eine absolute Impotenz,
    die etwa noch durch die gleichzeitig erworbene wirkliche Schwächung
    der den Sexualakt ausführenden Organe versichert wird.

    Fiir das Zustandekommen der eigentlich sogenannten psychischen
    Impotenz werden mildere Bedingungen erfordert. Die sinnliche Stró-
    mung darf nicht in ihrem ganzen Betrag dem Schicksal verfallen, sich
    hinter der zårtlichen verbergen zu müssen, sie muß stark oder un-
    gehemmt genug geblieben sein, um sich zum Teil den Ausweg in die
    Realität zu erzwingen. Die Sexualbetätigung solcher Personen läßt
    aber an den deutlichsten Anzeichen erkennen, daß nicht die volle psy-
    chische Triebkraft hinter ihr steht. Sie ist launenhaft, leicht zu stören,
    oft in der Ausführung inkorrekt, wenig genufireich. Vor allem aber
    muß sie der zårtlichen Strömung ausweichen. Es ist also eine Beschrån-
    kung in der Objektwahl hergestellt worden. Die aktiv gebliebene
    sinnliche Stromung sucht nur nach Objekten, die nicht an die ihr
    verpônten inzestuôsen Personen mahnen; wenn von einer Person
    ein Eindruck ausgeht, der zu hoher psychischer Wertschätzung führen
    könnte, so läuft er nicht in Erregung der Sinnlichkeit, sondern in
    erotisch unwirksame Zärtlichkeit aus. Das Liebesleben solcher Men-
    schen bleibt in die zwei Richtungen gespalten, die von der Kunst als
    himmlische und irdische (oder tierische) Liebe personifiziert werden.
    Wo sie lieben, begehren sie nicht, und wo sie begehren, können sie nicht
    lieben. Sie suchen nach Objekten, die sie nicht zu lieben brauchen, um
    ihre Sinnlichkeit von ihren geliebten Objekten fernzuhalten, und das
    sonderbare Versagen der psychischen Impotenz tritt nach den Ge-
    setzen der ,,Komplexempfindlichkeit“ und der , Rückkehr des Ver-
    drängten“ dann auf, wenn an dem zur Vermeidung des Inzests

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    44 Sigm. Freud.

    gewählten Objekt ein oft unscheinbarer Zug an das zu vermeidende
    Objekt erinnert.

    Das Hauptschutzmittel gegen solche Störung, dessen sich der
    Mensch in dieser Liebesspaltung bedient, besteht in der psychischen
    Erniedrigung des Sexualobjektes, während die dem Sexualobjekt
    normalerweise zustehende Uberschiitzung dem inzestuósen Objekt
    und dessen Vertretungen reserviert wird. Sowie die Bedingung der
    Erniedrigung erfüllt ist, kann sich die Sinnlichkeit frei äußern, bedeutende
    sexuelle Leistungen und hohe Lust entwickeln. Zu diesem Ergebnis
    trägt noch ein anderer Zusammenhang bei. Personen, bei denen die
    zirtliche und die sinnliche Strömung nicht ordentlich zusammen-
    geflossen sind, haben auch meist ein wenig verfeinertes Liebesleben ;
    perverse Sexualziele sind bei ihnen erhalten geblieben, deren Nicht-
    erfüllung als empfindliche Lusteinbuße verspürt wird, deren Erfüllung
    aber nur am erniedrigten, geringgeschätzten Sexualobjekt möglich
    erscheint. d

    Die in dem ersten Beitrag!) erwähnten Phantasien des Knaben,
    welche die Mutter zur Dirne herabsetzen, werden nun nach ihren
    Motiven verstündlich. Es sind Bemühungen, die Kluft zwischen den
    beiden Strómungen des Liebeslebens wenigstens in der Phantasie zu
    überbrücken, die Mutter durch Erniedrigung zum. Objekt für die Sinn-
    lichkeit zu gewinnen.

    MH.

    Wir haben uns bisher mit einer ärztlich-psychologischen Unter-
    suchung der psychischen Impotenz beschäftigt, welche in der Uber-
    schrift dieser Abhandlung keine Rechtfertigung findet. Es wird sich
    aber zeigen, daß wir dieser Einleitung bedurft haben, um den Zugang
    zu unserem eigentlichen Thema zu finden.

    Wir haben die psychische Impotenz reduziert auf das Nicht-
    zusammentreffen der zirtlichen und der sinnlichen Strömung im
    Liebesleben und diese Entwicklungshemmung selbst erklärt durch
    die Einflüsse der starken Kindheitsfixierungen und der späteren
    Versagung in der Realität bei Dazwischenkunft der Inzestschranke.
    Gegen diese Lehre ist vor allem eines einzuwenden: sie gibt uns zu viel,
    sie erklårt uns, warum gewisse Personen an psychischer Impotenz
    leiden, låBt uns aber råtselhaft erscheinen, daB andere diesem Leiden
    entgehen konnten. Da alle in Betracht kommenden ersichtlichen Mo-

    3) Dieses Jahrbuch, Bd. II, S. 391.

  • S.

    Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II. 45

    mente, die starke Kindheitsfixierung, die Inzestschranke und die
    Versagung in den Jahren der Entwicklung nach der Pubertät bei so
    ziemlich allen Kulturmenschen als vorhanden anzuerkennen sind,
    wäre die Erwartung berechtigt, daB die psychische Impotenz ein all-
    gemeines Kulturleiden und nicht die Krankheit einzelner sei.

    Es läge nahe, sich dieser Folgerung dadurch zu entziehen, daB
    man auf den quantitativen Faktor der Krankheitsverursachung hin-
    weist, auf jenes Mehr oder Minder im Beitrag der einzelnen Momente,
    von dem es abhängt, ob ein kenntlicher Krankheitserfolg zustande
    kommt oder nicht. Aber obwohl ich diese Antwort als richtig anerkennen
    möchte, habe ich doch nicht die Absicht, die Folgerung selbst hiemit
    abzuweisen. Ich will im Gegenteile die Behauptung aufstellen, daß die
    psychische Impotenz weit verbreiteter ist, als man glaubt, und daß ein
    gewisses Maß dieses Verhaltens tatsächlich das Liebesleben des Kultur-
    menschen charakterisiert.

    Wenn man den Begriff der psychischen Impotenz weiter faßt und
    ihn nicht mehr auf das Versagen der Koitusaktion bei vorhandener
    Lustabsicht und bei intaktem Genitalapparat einschränkt, so kommen
    zunächst alle jene Männer hinzu, die man als Psychanästhetiker be-
    zeichnet, denen die Aktion nie versagt, die sie aber ohne besonderen
    Lustgewinn vollziehen; Vorkommnisse, die häufiger sind, als man glauben
    möchte. Die psychanalytische Untersuchung solcher Fälle deckt die
    nämlichen ätiologischen Momente auf, welche wir bei der psychischen
    Impotenz im engeren Sinne gefunden haben, ohne daß die sympto-
    matischen Unterschiede zunächst eine Erklärung fänden. Von den
    anästhetischen Männern führt eine leicht zu rechtfertigende Analogie
    zur ungeheueren Anzahl der frigiden Frauen, deren Liebesverhalten
    tatsächlich nicht besser beschrieben oder verstanden werden kann
    als durch die Gleichstellung mit der geräuschvolleren psychischen
    Impotenz des Mannes!).

    Wenn wir aber nicht nach einer Erweiterung des Begriffes der
    psychischen Impotenz, sondern nach den Abschattungen ihrer Sympto-
    matologie ausschauen, dann können wir uns der Einsicht nicht ver-
    schließen, daß das Liebesverhalten des Mannes in unserer heutigen
    Kulturwelt überhaupt den Typus der psychischen Impotenz an sich
    trägt. Die zärtliche und die sinnliche Strömung sind bei den wenigsten
    unter den Gebildeten gehörig miteinander verschmolzen; fast immer

    1) Wobei gerne zugestanden sein soll, daß die Frigidität der Frau ein kom-
    plexes, auch von anderer Seite her zugängliches Thema ist.

  • S.

    46 Sigm. Freud.

    fühlt sich der Mann in seiner sexualen Betätigung durch den Respekt
    vor dem Weibe beengt und entwickelt seine volle Potenz erst, wenn
    er ein erniedrigtes Sexualobjekt vor sich hat, was wiederum durch den
    Umstand mitbegriindet ist, daB in seine Sexualziele perverse Kom-
    ponenten eingehen, die er am geachteten Weibe zu befriedigen sich
    nicht getraut. Einen vollen sexuellen GenuB gewåhrt es ihm nur, wenn
    er sich ohne Riicksicht der Befriedigung hingeben darf, was er z. B.
    bei seinem gesitteten Weibe nicht wagt. Daher riihrt dann sein Be-
    diirfnis nach einem erniedrigten Sexualobjekt, einem Weibe, das ethisch
    minderwertig ist, dem er ästhetische Bedenken nicht zuzutrauen braucht,
    das ihn nicht in seinen anderen Lebensbeziehungen kennt und be-
    urteilen kann. Einem solchen Weibe widmet er am liebsten seine
    sexuelle Kraft, auch wenn seine Zärtlichkeit durchaus einem hóherstehen-
    den gehört. Möglicherweise ist auch die so häufig zu beachtende Neigung
    von Männern der höchsten Gesellschaftsklassen, ein Weib aus niederem
    Stande zur dauernden Geliebten oder selbst zur Ehefrau zu wihlen,
    nichts anderes als die Folge des Bediirfnisses nach dem erniedrigten
    Sexualobjekt, mit welchem psychologisch die Möglichkeit der vollen
    Befriedigung verkniipft ist.

    Ich stehe nicht an, die beiden bei der echten psychischen Impo-
    tenz wirksamen Momente, die intensive inzestuüse Fixierung der
    Kindheit und die reale Versagung der Jiinglingszeit auch fiir dies so
    håufige Verhalten der kulturellen Månner im Liebesleben verant-
    wortlich zu machen. Es klingt wenig anmutend und iiberdies paradox,
    aber es muB doch gesagt werden, daB, wer im Liebesleben wirklich
    frei und damit auch gliicklich werden soll, den Respekt vor dem Weibe
    überwunden, sich mit der Vorstellung des Inzests mit Mutter oder
    Schwester befreundet haben muB. Wer sich dieser Anforderung gegen-
    über einer ernsthaften Selbstprüfung unterwirft, wird ohne Zweifel
    in sich finden, daß er den Sexualakt im Grunde doch als etwas Er-
    niedrigendes beurteilt, was nicht nur leiblich befleckt und verunreinigt.
    Die Entstehung dieser Wertung, die er sich gewiB nicht gerne bekennt,
    wird er nur in jener Zeit seiner Jugend suchen kénnen, in welcher seine
    sinnliche Stromung bereits stark entwickelt, ihre Befriedigung aber
    am fremden Objekt fast ebenso verboten war wie die am inzestuósen.

    Die Frauen stehen in unserer Kulturwelt unter einer ähnlichen
    Nachwirkung ihrer Erziehung und iiberdies unter der Riickwirkung
    des Verhaltens der Männer. Es ist für sie natürlich ebensowenig giinstig,
    wenn ihnen der Mann nicht mit seiner vollen Potenz entgegentritt,

  • S.

    Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II. 47

    wie wenn die anfängliche Überschätzung der Verliebtheit nach der
    Besitzergreifung von Geringschätzung abgelöst wird, Von einem Be-
    dürfnis nach Erniedrigung des Sexualobjektes ist bei der Frau wenig
    zu bemerken; im Zusammenhange damit steht es gewiB, wenn sie auch
    etwas der Sexualiberschitzung beim Manne Ähnliches in der Regel
    nicht zustande bringt. Die lange Abhaltung von der Sexualität und
    das Verweilen der Sinnlichkeit in der Phantasie hat fiir sie aber eine
    andere bedeutsame Folge. Sie kann dann oft die Verkniipfung der
    sinnlichen Betätigung mit dem Verbot nicht mehr auflösen und erweist
    sich als psychisch impotent, d.i. frigid, wenn ihr solche Betåtigung endlich
    gestattet wird. Daher rührt bei vielen Frauen das Bestreben, das Geheim-
    nis noch bei erlaubten Beziehungen eine Weile festzuhalten, bei anderen die
    Fähigkeit normal zu empfinden, sobald die Bedingung des Verbots in
    einem geheimen Liebesverhåltnis wiederhergestellt ist; dem Manne untreu,
    sind sieimstande, dem Liebhaber eine Treue zweiter Ordnung zu bewahren.

    Ich meine, die Bedingung des Verbotenen im weiblichen Liebes-
    leben ist dem Bediirfnis nach Erniedrigung des Sexualobjektes beim
    Manne gleichzustellen. Beide sind Folgen des langen Aufschubes zwischen
    Geschlechtsreife und Sexualbetätigung, den die Erziehung aus kultu-
    rellen Gründen fordert. Beide suchen die psychische Impotenz auf-
    zuheben, welche aus dem Nichtzusammentreffen zärtlicher und sinn-
    licher Regungen resultiert. Wenn der Erfolg der nämlichen Ursachen
    beim Weibe so sehr verschieden von dem beim Manne ausfällt, so lit
    sich dies 'vielleicht auf einen andern Unterschied im Verhalten der
    beiden Geschlechter zurückführen. Das kulturelle Weib pflegt das
    Verbot der Sexualbetätigung während der Wartezeit nicht zu über-
    schreiten und erwirbt so die innige Verknüpfung Zwischen Verbot
    und Sexualität. Der Mann durchbricht zumeist dieses Verbot unter
    der Bedingung der Erniedrigung des Objektes und nimmt daher diese
    Bedingung in sein späteres Liebesleben mit.

    Angesichts der in der heutigen Kulturwelt so lebhaften Bestre-
    bungen nach einer Reform des Sexuallebens, ist es nicht überflüssig
    daran zu erinnern, daß die psychoanalytische Forschung Tendenzen
    so wenig kennt wie irgend eine andere. Sie will nichts anderes als Zu-
    sammenhänge aufdecken, indem sie Offenkundiges auf Verborgenes
    zurückführt. Es soll ihr dann recht sein, wenn die Reformen sich ihrer
    Ermittelungen bedienen, um Vorteilhafteres an Stelle des Schådlichen
    zu setzen. Sie kann aber nicht vorhersagen, ob andere Institutionen
    nicht andere, vielleicht schwerere Opfer zur Folge haben miiBten.

  • S.

    48 Sigm, Freud.

    III.

    Die Tatsache, daß die kulturelle Zügelung des Liebeslebens eine
    allgemeinste Erniedrigung der Sexualobjekte mit sich’ bringt, mag uns
    veranlassen, unseren Blick von den Objekten weg auf die Triebe selbst
    zu lenken. Der Schaden der anfänglichen Versagung des Sexualgenusses
    äußert sich darin, daß dessen spätere Freigebung in der Ehe nicht mehr
    voll befriedigend wirkt. Aber auch die uneingeschränkte Sexualfreiheit
    von Anfang an führt zu keinem besseren Ergebnis. Es ist leicht fest-
    zustellen, daß der psychische Wert des Liebesbedürfnisses sofort sinkt,
    sobald ihm die Befriedigung bequem gemacht wird. Es bedarf eines
    Hindernisses, um die Libido in die Höhe zu treiben, und wo die natür-
    lichen Widerstände gegen die Befriedigung nicht ausreichen, haben die
    Menschen zu allen Zeiten konventionelle eingeschaltet, um die Liebe
    genießen zu können. Dies gilt für Individuen wie fiir Völker. In Zeiten,
    in denen die Liebesbefriedigung keine Schwierigkeiten fand, wie etwa
    während des Niederganges der antiken Kultur, wurde die Liebe wertlos,
    das Leben leer, und es bedurfte starker Reaktionsbildungen, um die
    unentbehrlichen Affektwerte wieder herzustellen. In diesem Zusammen-
    hange kann man behaupten, daß die asketische Strömung des Christen-
    tums für die Liebe psychische Wertungen geschaffen hat, die ihr das
    heidnische Altertum nie verleihen konnte. Zur höchsten Bedeutung
    gelangte sie bei den asketischen Mönchen, deren Leben fast allein
    von dem Kampf gegen die libidinöse Versuchung ausgefüllt war.

    Man ist gewiß zunächst geneigt, die Schwierigkeiten, die sich hier
    ergeben, auf allgemeine Eigenschaften unserer organischen Triebe
    zurückzuführen. Es ist gewiß auch allgemein richtig, daß die psychische
    Bedeutung eines Triebes mit seiner Versagung steigt. Man versuche es,
    eine Anzahl der allerdifferenziertesten Menschen gleichmäßig dem
    Hungern auszusetzen. Mit der Zunahme des gebieterischen Nahrungs-
    bedürfnisses werden alle individuellen Differenzen sich verwischen
    und an ihrer Statt die uniformen Äußerungen des einen ungestillten
    Triebes auftreten. Aber trifft es auch zu, daB mit der Befriedigung
    eines Triebes sein psychischer Wert allgemein so sehr herabsinkt? Man
    denke z. B. an das Verhältnis des Trinkers zum Wein. Ist es nicht richtig,
    daß dem Trinker der Wein immer die gleiche toxische Befriedigung
    bietet, die man mit der erotischen so oft in der Poesie verglichen hat
    und auch vom Standpunkt der wissenschaftlichen Auffassung ver-
    gleichen darf? Hat man je davon gehört, daß der Trinker genötigt ist,
    sein Getränk beständig zu wechseln, weil ihm das gleichbleibende bald

  • S.

    Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II, 49

    nicht mehr schmeckt? Im Gegenteil, die Gewöhnung knüpft das Band
    zwischen dem Manne und der Sorte Wein, die er trinkt, immer enger.
    Kennt man beim Trinker ein Bedürfnis in ein Land zu gehen, in dem
    der Wein teuer oder der WeingenuB verboten ist, um seiner sinkenden
    Befriedigung durch die Einschiebung solcher Erschwerungen aufzu-
    heften? Nichts von alledem. Wenn man die AuBerungen unserer groBen
    Alkoholiker, z. В. Bócklins, über ihr Verhältnis zum Wein anhôrt!), es
    klingt wie die reinste Harmonie, ein Vorbild einer glücklichen Ehe. Warum
    ist das Verhältnis des Liebenden zu seinem Sexualobjekt so sehr anders?

    Ich glaube, man müßte sich, so befremdend es auch klingt, mit

    der Möglichkeit beschäftigen, daß etwas in der Natur des Sexualtriebes
    selbst dem Zustandekommen der vollen Befriedigung nicht giinstig ist.
    Aus der langen und schwierigen Entwicklungsgeschichte des Triebes
    heben sich sofort zwei Momente hervor, die man fiir solche Schwierig-
    keit verantwortlich machen könnte. Erstens ist infolge des zweimaligen
    Ansatzes zur Objektwahl mit Dazwischenkunft der Inzestschranke
    das endgültige Objekt des Sexualtriebes nie mehr das ursprüngliche,
    sondern nur ein Surrogat dafür. Die Psychoanalyse hat uns aber ge-
    lehrt: wenn das ursprüngliche Objekt einer Wunschregung infolge von
    Verdrängung verloren gegangen ist, so wird es häufig durch eine un-
    endliche Reihe von Ersatzobjekten vertreten, von denen doch keines
    voll genügt. Dies mag uns die Unbestündigkeit in der Objektwahl,
    den ,,Reizhunger““ erklären, der dem Liebesleben der Erwachsenen
    so háufig eignet.

    Zweitens wissen wir, daB der Sexualtrieb anfinglich in eine
    große Reihe von Komponenten zerfällt — vielmehr aus einer solchen
    hervorgeht —, von denen nicht alle in dessen spätere Gestaltung auf-
    genommen werden kónnen, sondern vorher unterdrückt oder anders
    verwendet werden müssen. Es sind vor allem die koprophilen Trieb-
    anteile, die sich als unvertrüglich mit unserer üsthetischen Kultur
    erwiesen, wahrscheinlich seitdem wir durch den aufrechten Gang unser
    Riechorgan von der Erde abgehoben haben; ferner ein gutes Stück
    der sadistischen Antriebe, die zum Liebesleben gehören. Aber alle
    solche Entwicklungsvorgünge betreffen nur die oberen Schichten der
    komplizierten Struktur. Die fundamentellen Vorgünge, welche die
    Liebeserregung liefern, bleiben ungeündert. Das Exkrementelle ist
    allzu innig und untrennbar mit dem Sexuellen verwachsen, die Lage
    der Genitalien — inter urinas et faeces — bleibt das bestimmende

    1) G. Floerke, Zehn Jahre mit Bócklin. 2. Auflage, 1902, S. 16.

    Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. IV. 4

  • S.

    50 Sigm. Freud.

    unveränderliche Moment. Man könnte hier ein bekanntes Wort des
    großen. Napoleon variierend sagen: die Anatomie ist das Schicksal.
    Die Genitalien selbst haben die Entwicklung der menschlichen Kôrper-
    formen zur Schénheit nicht mitgemacht, sie sind tierisch geblieben,
    und so ist auch die Liebe im Grunde heute ebenso animalisch wie sie
    es von jeher war. Die Liebestriebe sind schwer erziehbar, ihre Erziehung
    ergibt bald zuviel, bald zu wenig. Das, was die Kultur aus ihr machen
    will, scheint ohne fühlbare RinbnBe an Lust nicht erreichbar, die Fort-
    dauer der unverwerteten Regungen gibt sich bei der Sexualtåtigkeit
    als Unbefriedigung zu erkennen.

    So miiBte man sich denn vielleicht mit dem Gedanken befreunden,
    daß eine Ausgleichung der Ansprüche des Sexualtriebes mit den An-
    forderungen der Kultur überhaupt nicht möglich ist, daß Verzicht und
    Leiden sowie in weitester Ferne die Gefahr des Erlôschens des Menschen-
    geschlechtes infolge seiner Kulturentwicklung nicht abgewendet werden
    können. Diese triibe Prognose ruht allerdings auf der einzigen Ver-
    mutung, daBdie kulturelle Unbefriedigung die notwendige Folge gewisser
    Besonderheiten ist, welche der Sexualtrieb unter dem Drucke der
    Kultur angenommen hat. Die nåmliche Unfähigkeit des Sexualtriebes,
    volle Befriedigung zu ergeben, sobald er den ersten Anforderungen der
    Kultur unterlegen ist, wird aber zur Quelle der groBartigsten Kultur-
    leistungen, welche durch immer weiter gehende Sublimierung seiner
    Triebkomponenten bewerkstelligt werden. Denn welches Motiv håtten
    die Menschen, sexuelle Triebkräfte anderen Verwendungen zuzuführen,
    wenn sich aus denselben bei irgend einer Verteilung volle Lustbefriedi-
    gung ergeben hätte? Sie kimen von dieser Lust nicht wieder los und
    bråchten keinen weiteren Fortschritt zustande. So scheint es, daß
    sie durch die unausgleichbare Differenz zwischen den Anforderungen
    der beiden Triebe — des sexuellen und des egoistischen — zu immer
    höheren Leistungen befähigt werden, allerdings unter einer beständigen
    Gefährdung, welcher die Schwächeren gegenwärtig in der Form der
    Neurose erliegen.

    Die Wissenschaft hat weder die Absicht zu schrecken noch zu
    trösten. Aber ich bin selbst gern bereit zuzugeben, daß so weittragende
    SchluBfolgerungen wie die obenstehenden auf breiterer Basis auf-
    gebaut sein sollten, und daB vielleicht andere Entwicklungsrichtungen
    der Menschheit das Ergebnis der hier isoliert behandelten zu korrigieren
    vermögen.