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ÜBER EINEN BESONDEREN TYPUS DER OBJEKTWAHL
BEIM MANNE1)Wir haben es bisher den Dichtern überlassen, uns zu schildern,
nach welchen „Liebesbedingungen“ die Menschen ihre Objektwahl
treffen, und wie sie die Anforderungen ihrer Phantasie mit der
Wirklichkeit in Einklang bringen. Die Dichter verfügen auch
über manche Eigenschaften, welche sie zur Lösung einer solchen
Aufgabe befähigen, vor allem über die Feinfühligkeit für die
Wahrnehmung verborgener Seelenregungen bei anderen und den
Mut, ihr eigenes Unbewußtes laut werden zu lassen. Aber der
Erkenntniswert ihrer Mitteilungen wird durch einen Umstand
herabgesetzt. Die Dichter sind an die Bedingung gebunden,
intellektuelle und ästhetische Lust sowie bestimmte Gefühls-
wirkungen zu erzielen, und darum können sie den Stoff der
Realität nicht unverändert darstellen, sondern müssen Teilstücke
desselben isolieren, störende Zusammenhänge auflösen, das Ganze
mildern und Fehlendes ersetzen. Es sind dies Vorrechte der soge-
nannten „poetischen Freiheit“. Auch können sie nur wenig1)Der erste Beitrag („Über einen besonderen Typus der Objektwahl
beim Manne“) erschien zuerst 1910 im „Jahrbuch für psychoanalytische und
psychopathologische Forschungen“, Band II; der zweite (Über die all-
gemeine Erniedrigung des Liebeslebens“) 1912, ebendort, Band IV; beide
dann, mitsamt dem dritten („Das Tabu der Virginität“) unter dem
gemeinsamen Obertitel („Beiträge zur Psychopathologie des Liebeslebens“) in der
Vierten Folge der „Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre“. Die vor-
liegende Veröffentlichung ist die erste in selbständiger Buchform. [Anmerkung
des Verlages.]S.
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Interesse für die Herkunft und Entwicklung solcher seelischer
Zustände äußern, die sie als fertige beschreiben. Somit wird es
doch unvermeidlich, daß die Wissenschaft mit plumperen Händen
und zu geringerem Lustgewinne sich mit denselben Materien
beschäftige, an deren dichterischer Bearbeitung sich die Menschen
seit Tausenden von Jahren erfreuen. Diese Bemerkungen mögen
zur Rechtfertigung einer streng wissenschaftlichen Bearbeitung
auch des menschlichen Liebeslebens dienen. Die Wissenschaft ist
eben die vollkommenste Lossagung vom Lustprinzip, die unserer
psychischen Arbeit möglich ist.Während der psychoanalytischen Behandlungen hat man reich-
lich Gelegenheit, sich Eindrücke aus dem Liebesleben der Neurotiker
zu holen, und kann sich dabei erinnern, daß man ähnliches Verhalten
auch bei durchschnittlich Gesunden oder selbst bei hervorragenden
Menschen beobachtet oder erfahren hat. Durch Häufung der
Eindrücke infolge zufälliger Gunst des Materials treten dann
einzelne Typen deutlicher hervor. Einen solchen Typus der männ-
lichen Objektwahl will ich hier zuerst beschreiben, weil er
sich durch eine Reihe von „Liebesbedingungen“ auszeichnet,
deren Zusammentreffen nicht verständlich, ja eigentlich befrem-
dend ist, und weil er eine einfache psychoanalytische Aufklärung
zuläßt.1.) Die erste dieser Liebesbedingungen ist als geradezu spezifisch
zu bezeichnen; sobald man sie vorfindet, darf man nach dem
Vorhandensein der anderen Charaktere dieses Typus suchen. Man
kann sie die Bedingung des „Geschädigten Dritten“ nennen;
ihr Inhalt geht dahin, daß der Betreffende niemals ein Weib
zum Liebesobjekt wählt, welches noch frei ist, also ein Mädchen
oder eine alleinstehende Frau, sondern nur ein solches Weib, auf
das ein anderer Mann als Ehegatte, Verlobter, Freund Eigentums-
rechte geltend machen kann. Diese Bedingung zeigt sich in
manchen Fällen so unerbittlich, daß dasselbe Weib zuerst übersehenS.
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oder selbst verschmäht werden kann, solange es niemandem
angehört, während es sofort Gegenstand der Verliebtheit wird,
sobald es in eine der genannten Beziehungen zu einem anderen
Manne tritt.2.) Die zweite Bedingung ist vielleicht minder konstant, aber
nicht weniger auffällig. Der Typus wird erst durch ihr Zusammen-
treffen mit der ersten erfüllt, während die erste auch für sich
allein in großer Häufigkeit vorzukommen scheint. Diese zweite
Bedingung besagt, daß das keusche und unverdächtige Weib
niemals den Reiz ausübt, der es zum Liebesobjekt erhebt, sondern
nur das irgendwie sexuell anrüchige, an dessen Treue und Ver-
läßlichkeit ein Zweifel gestattet ist. Dieser letztere Charakter mag
in einer bedeutungsvollen Reihe variieren, von dem leisen
Schatten auf dem Ruf einer dem Flirt nicht abgeneigten Ehefrau
bis zur offenkundig polygamen Lebensführung einer Kokotte
oder Liebeskünstlerin, aber auf irgend etwas dieser Art wird
von den zu unserem Typus Gehörigen nicht verzichtet. Man mag
diese Bedingung mit etwas Vergröberung die der „Dirnenliebe“
heißen.Wie die erste Bedingung Anlaß zur Befriedigung von agonalen,
feindseligen Regungen gegen den Mann gibt, dem man das
geliebte Weib entreißt, so steht die zweite Bedingung, die der
Dirnenhaftigkeit des Weibes, in Beziehung zur Betätigung der
Eifersucht, die für Liebende dieses Typus ein Bedürfnis zu
sein scheint. Erst wenn sie eifersüchtig sein können, erreicht die
Leidenschaft ihre Höhe, gewinnt das Weib seinen vollen Wert,
und sie versäumen nie, sich eines Anlasses zu bemächtigen, der
ihnen das Erleben dieser stärksten Empfindungen gestattet. Merk-
würdigerweise ist es nicht der rechtmäßige Besitzer der Geliebten,
gegen den sich diese Eifersucht richtet, sondern neu auf-
tauchende Fremde, mit denen man die Geliebte in Verdacht
bringen kann. In grellen Fällen zeigt der Liebende keinen Wunsch,
das Weib für sich allein zu besitzen, und scheint sich in demS.
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dreieckigen Verhältnis durchaus wohl zu fühlen. Einer meiner
Patienten, der unter den Seitensprüngen seiner Dame entsetzlich
gelitten hatte, hatte doch gegen ihre Verheiratung nichts einzu-
wenden, sondern förderte diese mit allen Mitteln; gegen den
Mann zeigte er dann durch Jahre niemals eine Spur von Eifer-
sucht. Ein anderer typischer Fall war in seinen ersten Liebes-
beziehungen allerdings sehr eifersüchtig gegen den Ehegatten
gewesen und hatte die Dame genötigt, den ehelichen Verkehr
mit diesem einzustellen; in seinen zahlreichen späteren Verhält-
nissen benahm er sich aber wie die anderen und faßte den
legitimen Mann nicht mehr als Störung auf.Die folgenden Punkte schildern nicht mehr die vom Liebesobjekt
geforderten Bedingungen, sondern das Verhalten des Liebenden
gegen das Objekt seiner Wahl.3.) Im normalen Liebesleben wird der Wert des Weibes durch
seine sexuelle Integrität bestimmt und durch die Annäherung an
den Charakter der Dirnenhaftigkeit herabgesetzt. Es erscheint
daher als eine auffällige Abweichung vom Normalen, daß von
den Liebenden unseres Typus die mit diesem Charakter behafteten
Frauen als höchstwertige Liebesobjekte behandelt wer-
den. Die Liebesbeziehungen zu diesen Frauen werden mit dem
höchsten psychischen Aufwand bis zur Aufzehrung aller anderen
Interessen betrieben; sie sind die einzigen Personen, die man
lieben kann, und die Selbstanforderung der Treue wird jedesmal
wieder erhoben, so oft sie auch in der Wirklichkeit durchbrochen
werden mag. In diesen Zügen der beschriebenen Liebesbeziehungen
prägt sich überdeutlich der zwanghafte Charakter aus, welcher
ja in gewissem Grade jedem Falle von Verliebtheit eignet. Man
darf aber aus der Treue und Intensität der Bindung nicht die
Erwartung ableiten, daß ein einziges solches Liebesverhältnis das
Liebesleben der Betreffenden ausfülle oder sich nur einmal innerhalb
desselben abspiele. Vielmehr wiederholen sich Leidenschaften dieser
Art mit den gleichen Eigentümlichkeiten – die eine das genaueS.
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Abbild der anderen – mehrmals im Leben der diesem Typus
Angehörigen, ja die Liebesobjekte können nach äußeren Bedin-
gungen, z. B. Wechsel von Aufenthalt und Umgebung, einander
so häufig ersetzen, daß es zur Bildung einer langen Reihe
kommt.4.) Am überraschendsten wirkt auf den Beobachter die bei den
Liebenden dieses Typus sich äußernde Tendenz, die Geliebte zu
„retten“. Der Mann ist überzeugt, daß die Geliebte seiner
bedarf, daß sie ohne ihn jeden sittlichen Halt verlieren und rasch
auf ein bedauernswertes Niveau herabsinken würde. Er rettet sie
also, indem er nicht von ihr läßt. Die Rettungsabsicht kann sich
in einzelnen Fällen durch die Berufung auf die sexuelle Unver-
läßlichkeit und die sozial gefährdete Position der Geliebten recht-
fertigen; sie tritt aber nicht minder deutlich hervor, wo solche
Anlehnungen an die Wirklichkeit fehlen. Einer der zum beschrie-
benen Typus gehörigen Männer, der seine Damen durch kunst-
volle Verführung und spitzfindige Dialektik zu gewinnen verstand,
scheute dann im Liebesverhältnis keine Anstrengung, um die
jeweilige Geliebte durch selbstverfaßte Traktate auf dem Wege
der „Tugend“ zu erhalten.Überblickt man die einzelnen Züge des hier geschilderten
Bildes, die Bedingungen der Unfreiheit und der Dirnenhaftigkeit
der Geliebten, die hohe Wertung derselben, das Bedürfnis nach
Eifersucht, die Treue, die sich doch mit der Auflösung in eine
lange Reihe verträgt, und die Rettungsabsicht, so wird man eine
Ableitung derselben aus einer einzigen Quelle für wenig wahr-
scheinlich halten. Und doch ergibt sich eine solche leicht bei
psychoanalytischer Vertiefung in die Lebensgeschichte der in
Betracht kommenden Personen. Diese eigentümlich bestimmte
Objektwahl und das so sonderbare Liebesverhalten haben dieselbe
psychische Abkunft wie im Liebesleben des Normalen, sie ent-
springen aus der infantilen Fixierung der Zärtlichkeit an die
Mutter und stellen einen der Ausgänge dieser Fixierung dar. ImS.
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normalen Liebesleben erübrigen nur wenige Züge, welche das
mütterliche Vorbild der Objektwahl unverkennbar verraten, so
zum Beispiel die Vorliebe junger Männer für gereiftere Frauen;
die Ablösung der Libido von der Mutter hat sich verhältnis-
mäßig rasch vollzogen. Bei unserem Typus hingegen hat die
Libido auch nach dem Eintritt der Pubertät so lange bei der
Mutter verweilt, daß den später gewählten Liebesobjekten die
mütterlichen Charaktere eingeprägt bleiben, daß diese alle zu
leicht kenntlichen Muttersurrogaten werden. Es drängt sich hier
der Vergleich mit der Schädelformation des Neugeborenen auf;
nach protrahierter Geburt muß der Schädel des Kindes den Aus-
guß der mütterlichen Beckenenge darstellen.Es obliegt uns nun, wahrscheinlich zu machen, daß die charakte-
ristischen Züge unseres Typus, Liebesbedingungen wie Liebes-
verhalten, wirklich der mütterlichen Konstellation entspringen.
Am leichtesten dürfte dies für die erste Bedingung, die der
Unfreiheit des Weibes oder des geschädigten Dritten, gelingen.
Man sieht ohne weiteres ein, daß bei dem in der Familie auf-
wachsenden Kinde die Tatsache, daß die Mutter dem Vater
gehört, zum unabtrennbaren Stück des mütterlichen Wesens wird,
und daß kein anderer als der Vater selbst der geschädigte Dritte
ist. Ebenso ungezwungen fügt sich der überschätzende Zug, daß
die Geliebte die Einzige, Unersetzliche ist, in den infantilen
Zusammenhang ein, denn niemand besitzt mehr als eine
Mutter, und die Beziehung zu ihr ruht auf dem Fundament
eines jedem Zweifel entzogenen und nicht zu wiederholenden
Ereignisses.Wenn die Liebesobjekte bei unserem Typus vor allem Mutter-
surrogate sein sollen, so wird auch die Reihenbildung verständ-
lich, welche der Bedingung der Treue so direkt zu widersprechen
scheint. Die Psychoanalyse belehrt uns auch durch andere Bei-
spiele, daß das im Unbewußten wirksame Unersetzliche sich
häufig durch die Auflösung in eine unendliche Reihe kundgibt,S.
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unendlich darum, weil jedes Surrogat doch die erstrebte Befrie-
digung vermissen läßt. So erklärt sich die unstillbare Fragelust
der Kinder in gewissem Alter daraus, daß sie eine einzige Frage
zu stellen haben, die sie nicht über ihre Lippen bringen, die
Geschwätzigkeit mancher neurotisch geschädigter Personen aus dem
Drucke eines Geheimnisses, das zur Mitteilung drängt, und das
sie aller Versuchung zum Trotze doch nicht verraten.Dagegen scheint die zweite Liebesbedingung, die der Dirnen-
haftigkeit des gewählten Objekts, einer Ableitung aus dem
Mutterkomplex energisch zu widerstreben. Dem bewußten Denken
des Erwachsenen erscheint die Mutter gern als Persönlichkeit
von unantastbarer sittlicher Reinheit, und wenig anderes wirkt,
wenn es von außen kommt, so beleidigend, oder wird, wenn es
von innen aufsteigt, so peinigend empfunden wie ein Zweifel an
diesem Charakter der Mutter. Gerade dieses Verhältnis von
schärfstem Gegensatze zwischen der „Mutter“ und der „Dirne“
wird uns aber anregen, die Entwicklungsgeschichte und das unbe-
wußte Verhältnis dieser beiden Komplexe zu erforschen, wenn
wir längst erfahren haben, daß im Unbewußten häufig in Eines
zusammenfällt, was im Bewußtsein in zwei Gegensätze gespalten
vorliegt. Die Untersuchung führt uns dann in die Lebenszeit
zurück, in welcher der Knabe zuerst eine vollständigere Kenntnis
von den sexuellen Beziehungen zwischen den Erwachsenen
gewinnt, etwa in die Jahre der Vorpubertät. Brutale Mitteilungen
von unverhüllt herabsetzender und aufrührerischer Tendenz machen
ihn da mit dem Geheimnis des Geschlechtslebens bekannt, zer-
stören die Autorität der Erwachsenen, die sich als unvereinbar mit
der Enthüllung ihrer Sexualbetätigung erweist. Was in diesen
Eröffnungen den stärksten Einfluß auf den Neueingeweihten
nimmt, das ist deren Beziehung zu den eigenen Eltern. Dieselbe
wird oft direkt von dem Hörer abgelehnt, etwa mit den Worten:
Es ist möglich, daß deine Eltern und andere Leute so etwas
miteinander tun, aber von meinen Eltern ist es ganz unmöglich.S.
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Als selten fehlendes Korollar zur „sexuellen Aufklärung“
gewinnt der Knabe auch gleichzeitig die Kenntnis von der
Existenz gewisser Frauen, die den geschlechtlichen Akt erwerbs-
mäßig ausüben und darum allgemein verachtet werden. Ihm
selbst muß diese Verachtung ferne sein; er bringt für diese
Unglücklichen nur eine Mischung von Sehnsucht und Grausen
auf, sobald er weiß, daß auch er von ihnen in das Geschlechts-
leben eingeführt werden kann, welches ihm bisher als der aus-
schließliche Vorbehalt der „Großen“ galt. Wenn er dann den
Zweifel nicht mehr festhalten kann, der für seine Eltern eine
Ausnahme von den häßlichen Normen der Geschlechtsbetätigung
fordert, so sagt er sich mit zynischer Korrektheit, daß der Unter-
schied zwischen der Mutter und der Hure doch nicht so groß
sei, daß sie im Grunde das nämliche tun. Die aufklärenden Mit-
teilungen haben nämlich die Erinnerungsspuren seiner frühinfantilen
Eindrücke und Wünsche in ihm geweckt und von diesen aus
gewisse seelische Regungen bei ihm wieder zur Aktivität gebracht.
Er beginnt die Mutter selbst in dem neugewonnenen Sinne zu
begehren und den Vater als Nebenbuhler, der diesem Wunsche
im Wege steht, von neuem zu hassen; er gerät, wie wir sagen,
unter die Herrschaft des Ödipuskomplexes. Er vergißt es der
Mutter nicht und betrachtet es im Lichte einer Untreue, daß sie
die Gunst des sexuellen Verkehres nicht ihm, sondern dem Vater
geschenkt hat. Diese Regungen haben, wenn sie nicht rasch
vorüberziehen, keinen anderen Ausweg, als sich in Phantasien
auszuleben, welche die Sexualbetätigung der Mutter unter den
mannigfachsten Verhältnissen zum Inhalte haben, deren Spannung
auch besonders leicht zur Lösung im onanistischen Akte führt.
Infolge des beständigen Zusammenwirkens der beiden treibenden
Motive, der Begehrlichkeit und der Rachsucht, sind Phantasien
von der Untreue der Mutter die bei weitem bevorzugten; der
Liebhaber, mit dem die Mutter die Untreue begeht, trägt fast
immer die Züge des eigenen Ichs, richtiger gesagt, der eigenen,S.
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idealisierten, durch Altersreifung auf das Niveau des Vaters
gehobenen Persönlichkeit. Was ich an anderer Stelle1 als „Familien-
roman“ geschildert habe, umfaßt die vielfältigen Ausbildungen
dieser Phantasietätigkeit und deren Verwebung mit verschiedenen
egoistischen Interessen dieser Lebenszeit. Nach Einsicht in dieses
Stück seelischer Entwicklung können wir es aber nicht mehr
widerspruchsvoll und unbegreiflich finden, daß die Bedingung
der Dirnenhaftigkeit der Geliebten sich direkt aus dem Mutter-
komplex ableitet. Der von uns beschriebene Typus des männlichen
Liebeslebens trägt die Spuren dieser Entwicklungsgeschichte an
sich und läßt sich einfach verstehen als Fixierung an die Pubertäts-
phantasien des Knaben, die späterhin den Ausweg in die Realität
des Lebens doch noch gefunden haben. Es macht keine
Schwierigkeiten anzunehmen, daß die eifrig geübte Onanie der
Pubertätsjahre ihren Beitrag zur Fixierung jener Phantasien
geleistet hat.Mit diesen Phantasien, welche sich zur Beherrschung des
realen Liebeslebens aufgeschwungen haben, scheint die Tendenz,
die Geliebte zu retten, nur in lockerer, oberflächlicher und
durch bewußte Begründung erschöpfbarer Verbindung zu stehen.
Die Geliebte bringt sich durch ihre Neigung zur Unbeständigkeit
und Untreue in Gefahren, also ist es begreiflich, daß der Liebende
sich bemüht, sie vor diesen Gefahren zu behüten, indem er ihre
Tugend überwacht und ihren schlechten Neigungen entgegen-
arbeitet. Indes zeigt das Studium der Deckerinnerungen, Phan-
tasien und nächtlichen Träume der Menschen, daß hier eine
vortrefflich gelungene „Rationalisierung“ eines unbewußten
Motivs vorliegt, die einer gut geratenen sekundären Bearbeitung
im Traume gleichzusetzen ist. In Wirklichkeit hat das Rettungsmotiv
seine eigene Bedeutung und Geschichte und ist ein
selbständiger Abkömmling des Mutter‑ oder, richtiger gesagt, des1)O. Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden, 1909. (Schriften zur ange-
wandten Seelenkunde, Heft 5.) 2. Auflage 1922.S.
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Elternkomplexes. Wenn das Kind hört, daß es sein Leben den
Eltern verdankt, daß ihm die Mutter „das Leben
geschenkt“ hat, so vereinen sich bei ihm zärtliche mit groß-
mannssüchtigen, nach Selbständigkeit ringenden Regungen, um
den Wunsch entstehen zu lassen, den Eltern dieses Geschenk
zurückzuerstatten, es ihnen durch ein gleichwertiges zu vergelten.
Es ist, wie wenn der Trotz des Knaben sagen wollte: Ich brauche
nichts vom Vater, ich will ihm alles zurückgeben, was ich ihn
gekostet habe. Er bildet dann die Phantasie, den Vater aus
einer Lebensgefahr zu retten, wodurch er mit ihm quitt
wird, und diese Phantasie verschiebt sich häufig genug auf den
Kaiser, König oder sonst einen großen Herrn und wird nach
dieser Entstellung bewußtseinsfähig und selbst für den Dichter
verwertbar. In der Anwendung auf den Vater überwiegt bei
weitem der trotzige Sinn der Rettungsphantasie, der Mutter
wendet sie meist ihre zärtliche Bedeutung zu. Die Mutter hat
dem Kinde das Leben geschenkt, und es ist nicht leicht, dies
eigenartige Geschenk durch etwas Gleichwertiges zu ersetzen. Bei
geringem Bedeutungswandel, wie er im Unbewußten erleichtert
ist – was man etwa dem bewußten Ineinanderfließen der Begriffe
gleichstellen kann – gewinnt das Retten der Mutter die Bedeu-
tung von: ihr ein Kind schenken oder machen, natürlich ein
Kind, wie man selbst ist. Die Entfernung vom ursprünglichen
Sinne der Rettung ist keine allzu große, der Bedeutungswandel
kein willkürlicher. Die Mutter hat einem ein Leben geschenkt,
das eigene, und man schenkt ihr dafür ein anderes Leben, das
eines Kindes, das mit dem eigenen Selbst die größte Ähnlichkeit
hat. Der Sohn erweist sich dankbar, indem er sich wünscht, von
der Mutter einen Sohn zu haben, der ihm selbst gleich ist, das
heißt, in der Rettungsphantasie identifiziert er sich völlig mit
dem Vater. Alle Triebe, die zärtlichen, dankbaren, lüsternen,
trotzigen, selbstherrlichen, sind durch den einen Wunsch befriedigt,
sein eigener Vater zu sein. Auch das Moment der GefahrS.
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ist bei dem Bedeutungswandel nicht verloren gegangen; der
Geburtsakt selbst ist nämlich die Gefahr, aus der man durch die
Anstrengung der Mutter gerettet wurde. Die Geburt ist ebenso
die allererste Lebensgefahr wie das Vorbild aller späteren, vor
denen wir Angst empfinden, und das Erleben der Geburt hat
uns wahrscheinlich den Affektausdruck, den wir Angst heißen,
hinterlassen. Der Macduff der schottischen Sage, den seine
Mutter nicht geboren hatte, der aus seiner Mutter Leib geschnitten
wurde, hat darum auch die Angst nicht gekannt.Der alte Traumdeuter Artemidoros hatte sicherlich Recht
mit der Behauptung, der Traum wandle seinen Sinn je nach der
Person des Träumers. Nach den für den Ausdruck unbewußter
Gedanken geltenden Gesetzen kann das „Retten“ seine Bedeutung
variieren, je nachdem es von einer Frau oder von einem Manne
phantasiert wird. Es kann ebensowohl bedeuten: ein Kind machen
= zur Geburt bringen (für den Mann) wie: selbst ein Kind
gebären (für die Frau).Insbesondere in der Zusammensetzung mit dem Wasser lassen
sich diese verschiedenen Bedeutungen des Rettens in Träumen
und Phantasien deutlich erkennen. Wenn ein Mann im Traume
eine Frau aus dem Wasser rettet, so heißt das: er macht sie zur
Mutter, was nach den vorstehenden Erörterungen gleichsinnig
ist dem Inhalte: er macht sie zu seiner Mutter. Wenn eine Frau
einen anderen (ein Kind) aus dem Wasser rettet, so bekennt sie
sich damit wie die Königstochter in der Mosessage1 als seine Mutter,
die ihn geboren hat.Gelegentlich enthält auch die auf den Vater gerichtete Rettungs-
phantasie einen zärtlichen Sinn. Sie will dann den Wunsch aus-
drücken, den Vater zum Sohne zu haben, das heißt einen Sohn
zu haben, der so ist wie der Vater. Wegen all dieser Beziehungen
des Rettungsmotivs zum Elternkomplex bildet die Tendenz, die1)Rank, l. c.
S.
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Geliebte zu retten, einen wesentlichen Zug des hier beschriebenen
Liebestypus.Ich halte es nicht für notwendig, meine Arbeitsweise zu recht-
fertigen, die hier wie bei der Aufstellung der Analerotik
darauf hinausgeht, aus dem Beobachtungsmaterial zunächst extreme
und scharf umschriebene Typen herauszuheben. Es gibt in beiden
Fällen weit zahlreichere Individuen, in denen nur einzelne Züge
dieses Typus, oder diese nur in unscharfer Ausprägung festzustellen
sind, und es ist selbstverständlich, daß erst die Darlegung des
ganzen Zusammenhanges, in den diese Typen aufgenommen sind,
deren richtige Würdigung ermöglicht.
Freud_1924_Liebesleben
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