S.
III
DAS, TABU DER VIRGINITÄTWenige Einzelheiten des Sexuallebens primitiver Völker wirken
so hefremdend auf unser Gefühl wie deren Einschätzung der
Virginität, der weiblichen Unberührtheit. Uns erscheint die
Wertschätzung der Virginität von seiten des werbenden Mannes
so feststehend und selbstve‘rständlich, daß wir beinahe in Ver-
legenheit geraten, wenn wir dieses Urteil begründen sollen. Die
Forderung, das Mädchen dürfe in die Ehe mit dem einen
Marine nicht die Erinnerung an Sexualverkehr mit einem anderen
mitbringen, ist ja nichts anderes als die konsequente Fortführung
des ausschließlichen Besiizrechtes auf ein Weib, welches das
Wesen der Monogamie ausmacht, die Ermeckung dieses Monopuls
auf die Vergangenheit.Es fällt uns dann nicht schwer, was zuerst ein Vorurteil zu
sein schien, aus unseren Meinungen über des Liebesleben des
Weibes zu rechtfertigen. Wer zuerst die durch lange Zeit müh-
selig zurückgehultene Liebessehnsucht der Jungfrau befriedigt
und dabei die Widerstände überwunden hat, die in ihr durch
die Einflüsse von Milieu und Erziehung aufgebaut waren, der
wird von ihr in ein dauerndes Verhältnis gezogen, dessen
Möglichkeit sich keinem anderen mehr eröffnet. Auf Grund dieses
Erlebnisses stellt sich bei der Frau ein Zustand von Höri.gkeit
her, der die ungestörte Fortdauer ihres Besitzes verbürgt und sie
widerstendsfähig macht gegen neue Eindrücke und fremde
Versuchungen.S.
50 Sign:. Freud
Den Ausdruck „geschlechtliche Hörigkeit“ hat 1892 v. Krafft-
Ebing’ zur Bezeichnung der Tatsache gewählt, daß eine Person
einen ungewöhnlich hoh— Grad von Abhängigkeit und Unselb-_
ständigkeit gegen eine andere Person erwerben kann, mit welcher
sie im Sexuelverkehr steht. Diese Hörigkeit kann gelegentlich
sehr weit gehen, bis zum Verlust jedes selbständigen Willens
und bis zur Erduldung der schwersten Opfer am eigenen Interesse;
der Autor hat. aber nicht versäumt zu bemerken, daß ein
gewisses Maß solcher Abhängigkeit „durchaus notwendig ist,
wenn die Verbindung einige Dauer haben soll.“ Ein solches‘
Maß von sexueller Hörigkeit ist in der Tat unentbehrlich zur
Aufi'echterhnltung der kulturellen Ehe und zur Hjntanhaltung
der sie hedrohenden polygamen Tendenzen, und in unserer
sozialen Gemeinschaft wird dieser Faktor regelmäßig in‚Anrechnung
gebracht. ,Ein „ungewöhnlicher Grad von Verliebtheit und Charakter-‘
schwäche“ einerseits, uneingeschränkter Egoi-us beim anderen
Teil, aus diesem Zusammentrefi'en leitet v. Krafft-Ehing die
Entstehung der sexuellen Hörigkeit ab. Analytische Erfahrungen
gestatten es aber nicht, sich mit diesem einfachen Erklärungs—
versuch zu begnügen. Man kann vielmehr erkennen, daß die»
Größe des überwundenen Sexualwiderstandes das entscheidende
Moment ist, dazu die Konzentration und Einmaligkeit -des
.Vorgunges der Überwindung. Die Hörigkeit ist demgemäß ungleich
häufiger und intensiver beim Weihe als beim Menue, bei
letzterem aber in unseren Zeiten immerhin häufiger als in der ‘
Antike. Wo wir die sexuelle Hörigkeit bei Männern studieren
konnten, erwies sie sich als Erfulg der Überwindung einer
psychischen Impotenz durch ein bestimmtes Weib, an welches‘
der betreffende Mann von da an gebunden blieb. Viele auffällige
Eheschließungen und manches tragische Schicksal — selbst von.) v_. nun—mi": Emrkmga. am „gemhledrtlinhe ua.-mm" und-
Manch-ran.. (hth fia- mamma, x. ua., 1891.)S.
Bzimigz nn- Psychong des Liebzcbbm 51
weitreichendem Belange —- scheint in diesem Hergange seine
Aufklärung zu finden.Das nun zu erwähnende Verhalten primitiver Völker beschreibt.
man nicht richtig, wenn man aussugt, sie legten keinen Wert
auf die Virgiuität, und zum Beweise dafur verbringt, daß sie die
Defloretion der Mädchen außerhalb der Ehe und vor dem ersten
ehelichen Verkehre vollziehen lassen. Es scheint im Gegenteile,
daß auch für sie die Defloration ein bedeutungsvoller Akt ist,
aber sie ist Gegenstand eines Tabu, eines religiös zu nennenden
Verbotes, geworden. Anstatt sie dem Bräutigam und späteren
Ehegatten des Mädchens vor-zubehalten, fordert die Sitte, daß
dieser einer solchen Leistung ausweiche.lEs liegt nicht in meiner Absicht, die literarischen Zeugnisse '
für den Bestand dieses Sittenverbotes vollständig zu sammeln,
die geographische Verbreitung desselben zu verfolgen und alle
Formen, in denen es sich äußert, eufzuzählen. Ich begnüge mich
also mit der Feststellung, daß eine solche, außerhalb der späteren
Ehe fallende Beseitigung des Hymens bei den heute lebenden
primitiveu Völkern etwas sehr Verhreitetes ist. So äußert
Crawley:° This marriage cermumy con:ists in per:foration of
the hymen by some appointed person other than the hmbarui;
it is must common in the lawest stage; of vulture, especially’ in
Australia.Wenn aber die Deklaration nicht durch den ersten ehelichen_
Verkehr erfolgen soll, so muß sie vorher -— auf. irgendeine
Weise und von irgendwelcher Seite —- vorgenommen werden
sein. Ich werde einige Stellen aus Crawleys obenerwähntem
Buche anführen, welche über diese Punkte Auskunfi geben, die
uns aber auch zu einigen kritischen Bemerkungen berechtigen.x) Crnwley: m mynic ron, n nun, of primifive mmi-ge, Lundm.\ 1505;
Bartels-Plan: Dis war. index mm und var-„me.. 1891; vemhiedm
Stellen in r„.„: Tiboo .mi du ‚nü- of a.. soul, mi n.„1„x um.:
Str-din in m psychology of „;a) 1. c. p. 547.
S.
5! Sigm. Freud
S. 191: „Bei den Dieri und einigen Nachbarstämmen (in
Australien) ist es allgemeiner Brauch, das Hymen zu zerstören,
wenn das Mädchen die Pubertät erreicht haL Bei den Portland
und Glenelg—Stämmen fällt es einer alten Frau zu, dies bei der
Braut zu tun, und mitunter werden auch weiße Männer in
solcher Absicht aufgefordert, Mädchen zu entjungfern.‘S. 507: „Die absichtliche Zermißung des Hymens wird manchmal
in der Kindheit, gewöhnlich aber zur Zeit der Pubertät aus—
geführt. . . Sie wird oh — wie in Australien — mit einem
offin'ellen Begattungsakte komhiniert.“ .S. 54.8: (Von australischen Stämmen, bei denen die bekannten
exogamischen Heiratsheschränkungen bestehen, nach Mitteilung '
von Spencer und Gillen): „Das Hymen wird künstlich durch—
bohrt, und die Männer, die bei dieser Operation zugegen waren,
fahren dann in festgesetzter Reihenfolge einen (wohlgemerkt:
aeremoniellen) Koitus rnit dem Mädchen aus. . . Der ganze Vor-
gang hat sozusagen zwei ‚Akte: Die Zerstörung des Hymens und
darauf den Ges(‘.hlechtsverkehr.“5S. 54.9: „Bei den Mami (im äquatorialen Afrika) gehört die ‚
Vornahme dieser Operation zu den wichtigsten Vorbereitungen ‚
für die Ehe. Bei den Sakaia (Malaien), den Battas (Sumatra) und
den Alfoer auf Celebes wird die Defloration vom Vater der _
Braut ausgeführt. Auf den Philippinen gab es bestimmte Männer,
die den Beruf hatten, Bräute zu deflorieren‚ falls das Hymen ’
nicht schon in der Kindheit von einer dazu beauftragten alten ‚
Frau zerstört werden war. Bei einigen Eskimostämmen wurde '1).Thuinnthini mw;hbm„,nn„ieümm„m nu.rtomwhmugirl
...‚m „im,» rlqrhnl m. w- (Jam. Anthrap. zm„ xxnr, 169.) In the p.m- 4
mmaw,m am in»: „ mm;.»‚m „a woman; „dumm-„...me
mm ...ufinhn „umwdqfommddnu. (Branh Smith. op. „1,11, 519.)n)17na-njfüialnqatwurfthalymmmmnimtahuplminirfmqn bu: „u.—flyn
pain-er...]:ilqßmuwnlimd,uin1unralia‚withamrnwnialaclafinttrmursn
,5)Thlynmü,wflfihllypcdwaud‚wldthmuxüfirqnmhmcmn(urwmdd,bl
nehmd)wthtpflin1nadardcn„Maxisintwopn-mpsd'ama'an und im
m \S.
Beiträge zur Psychologie der Liebeskbm.s 55
die Entjungierung der Braut dem Angekok oder Priester über-
lassen.“Die Bemerkungen, die ich angekündigt habe, beziehen sich auf
zwei Punkte. Es ist erstens zu bedeuern, daß in diesen Angaben
nicht sorgfältiger zwischen der bloßen Zerstörung des Hyinen‚s
ohne Koitus und dem Koitus zum Zwecke solcher Zerstörung
unterschieden wird. Nur an einer Stelle hörten wir ausdrücklich,
daß der Vorgang sich in zwei Akte zerlegt, in die (manuelle
oder instrumentole) Defloration und den darauffolgenden
Geschlechtsakt. Das sonst sehr reichliche Material bei Bartels-
Plo B wird für unsere Zwecke nahezu unbrauchbar, weil in dieser
Darstellung die psychologische Bedeutsamkeit des Deflorations
aktes gegen dessen anatomischen Erfolg völlig verschwindet.
Zweitens möchte man gerne darüber helehrt werden, wodurch
sich der „zeremonielle“ (rein formale, feierliche, offizielle) Koitus
bei diesen Gelegenheiten vpm regelrechten Geschlechtsverkehr
unterscheidet. Die Autoren, zu denen ich Zugang hatte, waren
entweder zu schämig, sich darüber zu äußern, oder haben wiederum
die psychologische Bedeutung solcher sexueller Details unterschätzt.
Wir können hoffen, daß die Originalberiohte der Reisenden und
Mjsionüe ausführlicher und uuzweideutiger sind, aber bei der
heutigen Unzugänglichkeit dieser meist fremdländischen Literatur
kann ich nichts Sicheres darüber sagen. Übrigens darf man sich
über die Zweifel in diesem zweiten Punkte mit der Erwägung
hinwegsetzen, daß ein zeremonieller Scheinkoitus doch nur den
Ersatz und vielleicht die Ablösung für einen in früheren Zeiten
voll ausgeführten darstellen würde.21) An important pnll'ml'nary of mnrriag: mug» the Mami i: till pnfonna'net uf zhir
oynran'an on. the girl. (‚v. Thomson, op. cit. 358.) m: ddiaran'm n pnfomud z., ;)..
fmhn of „„ lm‘de manth an sam, Hahn, und Alf.m „[ cam. (Ploß u. Emm. op.
cit. 11, 49m) In a.; Philippines „..-„ wm certain mm where „farm. ir um w Mon-cr
bridgr, in am the W ;.„4 m bun „mm! in childhnod », „. old worum „;)-„_ wa:
‚mm-‚m employzd f.„ this. (Fenthernnan, op. ein 11, 474-) m agx„mm of ;).. („in
was flmongn ‚vom: Eslo'mo tribe: nunmal in du angdudc, er „im. (id. In, 406.)a) Für zahlreiche andere ran. von Hochfliüueremoniell man es keinen Zweif-l.
M anderen Personen .1. am Bräutigam 1.3. den Gshilfan und (}:an desselbenFreud. Beini;e zur Pryl:holorit a.. Liebesleben. 5
S.
54 Sign:. Frzud
Zur Erklärung dieses Tabu der Virginität kann man ver—
schiedennrtige Momente herunziehen, die ich in flüchtiger Dar-
stellung würdigen will. Bei der Deflorntion der Mädchen wird
in der Regel Blut vergessen, der erste Erklärungsversuch beruft
sich denn auch auf die Blutsc:heu der Primitiven, die das Blut
für den Sitz des Lebens halten. Dieses Blut‘tabu ist durch viel-
faehe Vorschriften, die mit der Sexualität nichts zu tun haben,
erwiesen, es hängt ol‘fenbar mit dem Verbote, nicht zu morden,
zusammen und bildet eine Schutzwehr gegen den ursprünglichen
Blutdurst, die Mordlust des Urmenschen. Bei dieser Auffassung
wird das Tabu der Virginität mit dern &st ausnahmslos einge«
haltenen Tabu der Menstruafion zusammengebracht. Der Primi-
tive kann das rätselhafte Phänomen des blutigen Monatsflusses
nicht von sadistischen Vorstellungen ferne halten. Die Men-
struation, zumal die erste, deutet er als den Biß eines geister-
Indien Tieres, vielleicht als Zeichen des sexuellen Verkehrs mit .
diesem Geist. Gelegentlich gestattet ein Bericht, diesen Geist als
den eines Ahnen zu erkennen, und. dann verstehen wir in
Anlehnung an andere Einsichten,‘ daß dasmenstruiereudeMädchen
als Eigentum dieses Ahnengeistes tebu ist.Von anderer Seite werden wir aber gewarnt, den Einfluß
eines Moments wie die Blutscbeu nicht zu überschätzen. Diese _
hat es doch nicht vermocht, Gebräuche wie die Beschneidung
der Knaben und die noch grausamen der Mädchen (Exzision der
Klimris und der kleinen Labien), die zum Teile bei den näm»
lichen Völkern geübt werden, zu unterdrücken oder die Geltung
von anderem Zeremoniell, bei dem Blut vergosseii wird, aufzu-
heben. Es wäre also auch nicht zu ver-wundern, wenn sie beider ersten Knhabitation zugunsten des Ehemannes überwunden
würde. ‘(den „Kr-mlhmun‘ munter Sim) di. sexuelle v ' über di 3 z 11 in—
serium _ nrfilgung e run va e
.) Sieh: Town und Tuba, x915.S.
Beiträge zur P.rychalogiz der Lizbzskbens 55
Eine zweite Erklärung sieht gleichfalls vom Sexuellen ab, greifi
aber viel weiter ins Allgemeine aus. Sie führt an, daß der Pri—
mitive die Beute einer beständig lauernden Angstbereitschaft ist,
ganz ähnlich, wie wir es in der psychoanalytischen Neurosenlehre
vom Angstneurotiker behaupten. Diese Angabereitschaft wird
sich am stärksten bei allen Gelegenheiten zeigen, die irgendwie
vom Gewohnten abweichen, die etwas Neues, Unerwartetes,
Unverstandenes, Unheimliches mit sich bringen. Daher stammt
auch das weit in die späteren Religionen hineinreichende Zere-
moniell, das mit dem Beginne jeder neuen Venichtung, dem
Anfänge jedes Zeitabschnittes, dem Erstlingsartmg von Mensch,
Tier und Frucht verknüpft ish Die Gefahren, von denen sich
der Ängstliche bedroht glaubt, treten niemals stärker in seiner
Erwartung auf als zu Beginn der gefahrvollen Situation, und
dann ist es auch allein zweckmäßig, sich gegen sie zu schützen.
Der erste Sexualverkehr in der Ehe hat nach seiner Bedeutung
gewiß einen Anspruch darauf, von diesen Vorsichtnnaßregeln
eingeleitet zu werden. Die beiden Erklärungsvemxche, der aus
der Blutscheu und der aus der li‘.rstlingsangst1 widersprechen
einander nicht, verstärken einander vielmehr. Der erste Sexual-
verkehr ist gewiß ein bedenklicher Akt, um so mehr, wenn bei
ihm Blut fließen muß.Eine dritte Erklärung — es“ ist die von Crawley bevorzugte
—— macht darauf aufmerksam, daß das Tabu der Virginität in
einen großen, das ganze Sexualleben umfassenden Zusammenhang
gehört. Nicht nur der erste Koitus mit dem Weihe ist tabu,
sondern der Sexualverkehr überhaupt; beinahe könnte man sagen,
das Weib sei im ganzen tabu. Das Weib ist nicht nur tabu in
den besonderen, aus seinem Geschlechtsleben abfolgenden Situationen
der Menstruation, der Schwangerschaft, der Entbindung und des
Kindbettes, auch außerhalb derselben unterliegt der Verkehr mit
dem Weihe so ernsthaften und so reichlichen Einschränkungen,
daß wir allen Grund haben, die angebliche Sexualfreiheit derS.
56 Sigm. Freud
Wilden zu bezweifeln. Es ist richtig, daß die Sexualität der
Primitiven bei bestimmten Anlässen sich über alle Hemmungen
hinaussetzt; gewöhnlich aber scheint sie stärker durch Verbote
eingeschnürt als auf höheren Kulturstufen. Sowie der Mann etwas
Besonderes unternimmt, eine Expedition, eine Jagd, einen Kriegs-
zug, muß er sich vom Weihe, zumal vom Sexualverkehr mit
dem Weihe fernhalten; es würde sonst seine Kraft lähmen und
ihm Mißerfolg bringen. Auch in den Gebräuchen des täglichen
Lebens ist ein Streben nach dem Auseinanderhalten der Geschlechter
'unverkennhar. Weiber leben mit Weibern, Männer mit Männern
zusammen; ein Familienleben in unserem Sinne soll es hei vielen
primitiven Stämmen kaum geben. Die Trennung geht mitunter
so weit1 daß das eine Geschlecht die persönlichen Namen des
anderen Geschlechts nicht aussprechen darf, daß die Frauen eine
Sprache mit besonderem Wortschatze enthiickeln. Das sexuelle
Bedürfnis darf diese Trennungsschranken immer wieder von neuemdurchbrechen, aber bei manchen Stämmen müssen selbst die
Zusammenkünfte der Ehegatten außerhalb des Hauses und im
Geheimen stattfinden.Wo der Primitive ein Tabu hinges<atzt hat, da fürchtet er eine
Gefahr, und es ist nicht nbzuweisen, daß sich in all diesen Ver-
meidungsvorschriften eine prinzipielle Scheu vor dem Weihe
“äußert. Vielleicht ist diese Scheu darin begründet; daß das Weib
anders ist als der Mann, ewig unverständlich und geheimnisvoll,
fremdarn'g und darum feindselig erscheint. Der Mann fürchtet, V
vom Weihe geschwächt, mit dessen Weiblichkeit angesteckt zu
werden und sich dann untüchtig zu zeigen. Die erschlaffende,
Spannungen lösende Wirkung des Koitus mag für diese Befürchtqu '
vorbildlich sein, und die Wahrnehmung des Einflusses, den das
Weib durch den Geschlechtsverkehr auf den Mann gewinnt, die
Rücksicht, die es sich dadurch enwingt, die Ausbreitung dieserAngst rechtfertigen. An all dem ist nichts, was veraltet wäre, was
nicht unter uns weiter lebte.S.
Beiträge zur Psychologie des Lemub„„ 57
Viele Beobachter der heute lebenden Primitiven haben das
Urteil gefällt, daß deren Lieh_esstrehen verhältnismäßig schwach
sei und niemals die Intensitäten erreiche, die wir bei der
Kulturmenschheit zu finden gewohnt sind. Andere haben dieser
Schätzung widersprechen, aber jedenfalls zeugen die aufge-
zählten Tahugehräuche von der Existenz einer Macht, die sich
der Liebe widersetzt, indem sie das Weib als fremd und feind-
selig ablehnt.In Ausdrückén, welche sich nur wenig von der gebräuchlichen
Terminologie der Psychoanalyse unterscheiden, legt Crawley
dar, daB jedes Individuum sich durch ein „mboo of personal
imhtion“ von den anderen absenden, und daß gerade die kleinen
Unterschiede bei sonstiger Ähnlichkeit die Gefühle von Fremdheit
und Feindseligkeit zwischen ihnen begründen. Es wäre verloc'kend,
dieser Idee nachzugehen und aus diesem „Nar'cißmus der kleinen
Unterschiede“ die Feindseligkeit abzuleiten, die wir in allen
menschlichen Beziehungen erfolgreich gegen die Gefühle von
Zusammengehörigkeit streiten und das Gebot der allgemeinen
Menschenliebe überwältigen sehen. Von der Begründung der
nanißtischen, reichlich mit Geringschätzung versetzten Ablehnung
des Weibes durch den Mann glaubt die Psychoanalyse ein
Hauptstück ernten zu haben, indem sie auf den Kastration-
komplex und dessen Einfluß auf die Beurteilung des Weihes
verweist.Wir merken indes, daß wir mit diesen letzten Erwägungen
weit über unser Thema hinausgegrifien haben. Das allgemeine
Tabu des Weibes wirft kein Licht auf die besonderen Vorschriften
für den ersten Sexualakt mit dem jungfräulichen Individuum.
Hier bleiben wir auf die beiden ersten Erklärungen der Blut-
schen und der Endingsscbeu angewiesen, und selbst von diesen
müßten wir aussagen, daß sie den Kern des in Rede stehenden
Tabugebotes nicht treffen. Diesem liegt ganz offenbar die Absicht
zugrunde, gerade dem späteren Ehemanne etwas zuS.
55 Sign. Frzud
veraagen oder zu ersparen, was von dem ersten Sexual»
akt nicht losznlösen ist, wiewohl. sich nach unserer eingangs
gemachten Bemerkung von dieser selben Beziehung eine besondere
Bindung des Weibes an diesen einen Mann ableiten müßte.Es ist diesmal nicht unsere Aufgabe, die Herkunft und letzte
Bedeutung der Tabuvoxschriften zu erörtem. Ich habe dies in
meinem Buche „Totem und Tabu“ getan, dort die Bedingung
einer ursprünglichen Ambivalenz für des Tabu gewürdigt und
die Entstehung desselben aus den \iorzeitlichen Vorgängen ver-
fochten, welche zur Gründung der menschlichen Familie geführt
haben. Aus den heute beobachteten Tabugebräuchen der Primitiven
läßt sich eine solche Vorbedeutung nicht mehr erkennen. Wir
vergessen bei solcher Forderung allzu leicht, daß auch die primi-
tivsten Völker in einer von der uneitlichen weit entfernten
Kultur leben, die zeitlich ebenso alt ist wie die unsrige, und "
gleichfalls einer späteren, wenn auch andersartigen Entwicklungs—
stufe entspricht.Wir finden heute das Tabu bei den Primitiven bereits zu
einem kunstvollen System ausgesponnen, ganz wie es unsere "
Neurotiker in ihren Phobien entwickeln, und alte Motive durch *.
neuere, harmonisch zusammenstimmende, ersetzt. Mit Hinweg-
setzung über jene genetischen Probleme wollen wir darum auf
die Einsicht zurückgreifen, daß der Primitive dort ein Tabu
anbringt, Wo er eine Gefahr befürchtet. Diese Gefahr ist, allgemein
geiiißt7 eine psychische, denn der Primitive ist nicht dazu gedrängt,
hier zwei Unterscheidungen vorzunehmen, die uns als unaus—
weichlich erscheinen. Er senden die materielle Gefahr nicht von
der psychischen und die reale nicht von der imaginären. In seiner
konsequent durchgeführten animistischen Weltaußassnng stammt
ja jede Gefahr aus der feindseligen Absicht eines gleich ihm
beseelten Wesens, sowohl die Gefahr, die von einer Naturkraft ‚
droht, wie die von anderen Menschen oder Tiere’n. Anderseits '
aber ist er gewohnt, seine eigenen inneren Regungen von Feind—S.
Beiträge zur P.!j'chobg'ie des Liebesksz 59
seligkeit in die Außenwelt zu projizieren, sie also den Objekten,
die er als unliebsam oder auch nur als fremd empfindet, zuzu-
schieben. Als Quelle solcher Gefahren wird nun auch das Weib
erkannt und der erste Sexualakt mit dein Weihe als eine besonders
intensive Gefahr ausgezeichnet.Ich glaube nun, wir werden einigen Aufschluß darüber erhalten,
welches diese gesteigerte Gefahr ist, und warum sie gerade den
späteren Ehemann bedroht, wenn wir das Verhalten der heute
lebenden Frauen unserer Kulturstufe unter den gleichen Ver-
hältnissen genauer untersuchen. Ich stelle als das Ergebnis dieser
Untersuchung voran, daß’ eine solche Gefahr wirklich besteht, so
daß der Primitive sich rnit dem Tabu der Virginiü'it gegen eine
richtig geahnte, ‚wenn auch psychische Gefahr verteidigt.Wir schätzen es als die normale Reaktion ein, daß die Frau
nach dem Koitus auf der Höhe der Befriedigung den Mann
umarmend an sich preßt, sehen darin einen Ausdruck ihrer
Dankbarkeit und eine Zusage dauemder Hörigkeit. Wir wissen
aber, es ist keineswegs die Regel, daß auch der erste Verkehr
dies Benehmen zur Folge hätte; sehr häufig bedeutet er bloß
eine Enttäuschung für das Weib, das kühl und unbefriedigt
bleibt, und es bedarf gewöhnlich längerer Zeit und häufigerer
Wiederholung des Sexualaktes, bis sich bei diesem die Befriedigung
auch für das Weib einstellt. Von diesen Fällen bloß anfänglicher
und bald vorübergehender Frigidität fiihrt eine stetige Reihe bis
zu dem unerfreulichen Ergebnis einer stetig anhaltenden Frigidität,
die durch keine zärtliche Bemühung des Mannes überwunden
wird. Ich glaube, diese Frigid.ität des Weibes ist noch nicht
genügend verstanden und fordert bis auf jene Fälle, die man
der ungenügenden Potenz des Mannes zur Last legen muß, die
Aufklärung, womöglich durch ihr nahestehende Erscheinungen,
heraus.Die so häufigen Versuche, vor dem ersten Sexualverkehr die
Flucht zu ergreifen, möchte ich hier nicht haranziehen, weilS.
40 Sigi». Frzud
sie mehrdeutig und in erster Linie, wenn auch nicht durchaus,
als Ausdruck des allgemeinen weiblichen Abwehrbestrebens auf-
iufaseen sind. Dagegen glaube ich, daß gewise pathologische
Fälle ein Licht auf das Rätsel der weiblichen Frigidität werfen,
in denen die Frau nach dem ersten, ja nach jedem neuerlichen
Verkehr ihre Feindseligkeit gegen den1Mann unverhohlen zum
Ausdruck bringt, indem sie ihn beschimpft, die Hand gegen ihn
erhebt oder ihn tatsächlich schlägt. In einem ausgezeichneten
Falle dieser Art, den ich einer eingehenden Analyse unteniehen
konnte, geschah dies, obwohl die Frau den Mann sehr liebte,
den Koitus selbst zu fordern pflegte und in ihm unverkennbar
hohe Befriedigung fand. Ich meine, daß diese sonderbai'e konträreReaktion der Erfolg der nämlichen Rogungen ist, die sich für _
gewöhnlich nur als Frigidität äußern können, das heißt imstande
sind, die rärtliehe Reaktion aufzuhalten, ohne sich dabei selbst
zur Geltung zu bringen. In dem pathologischen Falle ist sozusagen
in seine beiden Komponenten zerlegt, was sich bei der weit
häufigeren Frigidität zu einer Hemmungswirkung vereinigt, ganz
ähnlich, wie wir es an den sogenannten „zweizeitigen“ Symptomen
der Zwangsneurose längst erkannt haben. Die Gefahr, welche so
durch die Defloration des Weibes rege gemacht wird, bestünde
darin, sich die Feindseligkeit desselben zuzuziehen‚ und gerade
der spätere Ehemann hätte allen Grund, sich solcher Feindschaft
zu entziehen.Die Analyse läßt nun ohne Schwierigkeit erraten, welche
Regungen des Weibes am Zustandekommen jenes parad xen
Verhaltens beteiligt sind, in dem ich die Aufklärung der Frigi tät
zu finden erwarte. Der erste Koitus macht eine Reihe solcher
Regungen mobil, die fir die erwünschte weibliche Einstellung
unverwendbar sind, von denen einige sich auch bei späterem
Verkehr nicht zu wiederholen brauchen. In erster Linie wird
man hier an den Schmerz denken, welcher der Jungfrau bei derDefloration zugefiigt wird, ja vielleicht geneigt sein, dies Moment }
S.
„_
Bn'lräge zur Psycholugie der Liebcrkbzns „.
für entscheidend zu halten und von der Suche nach anderen
abzustehen. Man kann aber eine solche Bedeutung nicht gut
dem Schmerze zuschreiben, muß vielmehr an seine Stelle die
nanißtische Kränkung setzen, die aus der Zerstörung eines
Organs erwächst, und die in dem Wissen um die Herabsetzung
des sexuellen Wertes der Deflorierten selbst eine rationelle'Ver—
rretung findet. Die Hochzeitsgebräuche der Primitiven enthalten
aber eine Warnung vor solcher Überschätzung. Wir haben gehört,
daß in manchen Fällen das Zeremoniell ein zweizéitiges ist; nach
der (mit Hand oder Instrument) durchgeführten Zen'éißung des
Hymens folgt noch ein offizieller Koitus uder Scheinverkehr mit
den Vertretern des Mannes, und dies beweist uns, daß der Sinn
der Tabuvorschrift durch die Vermeidung der anatomischen
Defloration nicht erfüllt ist, daß dem Ehemann noch etwas anderes
erspart werden soll als die Reaktion der Frau auf die schmerz-
hafte Verletzung.Wir finden als weiteren Grund für die Enttäuschung durch
den ersten Koitus, daß für ihn, beim Kulturweibe wenigstens,
Erwartung und Erfüllung nicht zusammenstimmen können. Der
Sexualverkehr war bisher aufs stärkste init dem Verbot assoziiert,
der legale und erlaubte Verkehr wird darum nicht als das
nämliche empfunden. Wie innig diese Verknüpfung sein kann,
erhellt in beinahe komischer“ Weise aus dem Bestreben so vieler
Bräute, die neuen Liebesbeziehungen vor allen Fremden, ja selbst
vor den Eltern geheim zu halten, wo eine wirkliche Nötigung
dazu nicht besteht und ein Einspruch nicht zu erwarten ist. Die
Mädchen sagen es offen, daß ihre Liebe an Wert für sie verliert‚
wenn andere davon wissen. Gelegentlich kann dies Motiv über—
mächtig werden und die Entwicklung der Liebesfihigkeit in der
Ehe überhaupt verhindern. Die Frau findet ihre zärtliche
Empfindlichkeit erst in einem unerlaubten, geheim zu haltenden
Verhältnis wieder, wo sie sich allein des eigenen unheeinflußten
Willens sicher weiß.S.
42 Sign:. qui
Indes, auch dieses Motiv führt nicht. tief genug; außerdem
läßt es, an Kulturbedingungen gebunden, eine gute Beziehung zu
den Zuständen der Primitiven vermissen. Um so bedeutungsvoller
ist das nächste, auf der Entwicklungsgeschichte der Libido fußende
Mément. Es ist uns durch die Bemühungen der Analyse bekannt
geworden, wie regelmäßig und wie mächtig die frühesten Unter-
bringungen der Libido sind. Es handelt sich dabei um fest—
gehaltene Sexualwfinsche der Kindheit, beim Weibe zumeist um
Fixierung der Libido an den Vater oder an den ihn ersetzenden
Bruder, Wünsche, die häufig genug auf anderes als den Koitus
gerichtet waren oder ihn nur als unscharf erkanntes Ziel einschlossen.
Der Ehemann ist sozusagen immer nur ein Ersatzmann, niemals
der Richtige; den ersten Satz auf die Liebesfiihigkeit der Frau hat ein
anderer, in typischen Fällen der Vater, er höchstens den zweiten. Es
kommt nun darauf an, wie intensiv diese Fixierung ist und wie zähe
sie festgehalten wird, damit der Ersatzrnann als unbefriedigend abge
lehnt werde. Die Frigidität steht somit unter den genetischen Be
dingungen der Neurose. Je mächtiger des psychische Element im
Sexualleben der Frau ist, desto widerstandsfiihiger wird sich ihre .
Libidoverteilung gegen die Erschfltterung des ersten Sexualaktes er-
weisen,déto weniger überwälting wird ihre körperliche Besitzuahme
wirken können. Die F rigidität mag sich dann als neutotische Hemmung
festsetzen oder den Boden für die Entwicklung anderer Neurosen
abgeben1 und auch nur mäßige Herabsetzungen der männlichen 1
Potenz kommen dabei als Helfer sehr in Betracht.Dem Mon'v des friiheren Sexualwunsches scheint die Sitte der
Primitiven Rechnung zu tragen, welche die Defloration einem
Ältesten, Priester, heiligen Mann, also einem Vaterersatz (siehe '
oben), überträgt. Von hier aus scheint mir ein gerader Weg
zum vielbesü-it‘tenen Ins primae noctis des mittelalterlichefl
Gutsherrn zu führen. A. J. Storfer‘ hat dieselbe Auffassung‚) Zur Sonderstellung den Vetermordea, 1911. (Schriften zur angewandten Seelen-
kunde, m.)S.
Beiträgz zur Psychologie des Liebeslebnu 4.5
vertreten, überdies die weitverbreitete Institution der „Tobiasehe“
(der Sitte der Enthaltsamkeit in den ersten drei Nächten) als
eine Anerkennung der Vorrechte des Patriarchen gedeutet, wie
vor ihm bereits C. G. Jung.‘ Es entspricht dann nur unserer
Erwartung, wenn wir unter den mit der Defloration betreuten
Vatersurrogaten auch das Götterbild finden. In manchen Gegenden
von Indien mußte die Neuverrniihlte das Hymen dem hölzernen
Lingam opfern, und nach dem Berichte des heiligen Augustinus
bestand im römischen Heiratszeremoniell (seiner Zeit?) dieselbe
Sitte mit der Abschwächung, daß sich die junge Frau auf den
riesigen Steinphallus des Priapus nur zu setzen brauchte.“In noch tiefere Schichten greift ein anderes Motiv zurück,
welches nachweisbar an der paradoxeu Reaktion gegen den Mann
die Hauptschuld trägt, und dessen Einfluß sich nach meiner
Meinung noch in der Frigidität der Frau äußert. Durch den
ersten Koitus werden beim Weihe noch andere alte_Regungen
als die beschriebenen aktiviert, die der weiblichen Funktivn und
Rolle überhaupt widerstreben.Wir wissen aus der Analyse vieler neurotischer Frauen, daß
‘ sie ein frühes Stadium durchmachen, in dem sie den Bruder
um das Zeichen der Männlichkeit beneiden und sich wegen
seines Fehlens (eigentlich seiner Verkleinerung) benachteiligt und
zurückgesetzt fühlen. Wir ordnen diesen ’ „Penisnei “ dem
„Kastrationskomplex“ ein. Wenn man unter „männlich“ das
Männlichseinwollen rnitversteht, so paßt auf dieses Verhalten die
Bezeichnung „männlicher Protest“, die Alf. Adler geprägt hat1
um diesen Faktor zum Träger der Neuruse überhaupt zu prokla-
mieren. In dieser Phase machen die Mädchen aus ihrem Neid
und der daraus abgeleiteten Feindseligkeit gegen den begünstigten
Bruder alt kein Hehl: sie versuchen es auch, aufrechtstehend1) Die Bedeutung den Vater! für du Schinhal del Einzelnen. (Jahrbuch fiir
Psychonmlyte‚ I, 1909.) _ . _
2)Plofl „„in-„u.: n.. W.;]; 1. m, und Duluure: nu Dmmoé.
génémtricel. Pan-in 1885 (réimprimb mr rms„„ de 1815), p. „,; u. n.S.
„ Sign:. Freud
wie der Bruder zu nrinieren, um ihre angebliche Gleichberech-
tigung zu vertreten. In dem bereits erwähnten Falle von unein-
geschränkter Aggression gegen den sonst geliebten Mann nach
dem Kaitus konnte ich feststellen, daß diese Phase vor der
0hjektwahl bestanden hatte. Erst später wandte sich die Libido
des kleinen Mädchens dem Vater zu, und dann wünschte sie
sich anstatt des Penis — ein Kind.“Ich Würde nicht überrascht sein, wenn sich in anderen Fällen
die Zeitfolge dieser Regungen umgekehrt finde und dies Stück
des Kastrationskomplexes erst nach erfolgter Objektwahl zur
Wirkung käme. Aber die männliche Phase des Weihes, in der es _
den Knaben um den Penis beneidet, ist jedenfalls die entwicklungs- —
geschichtlich frühere und steht dem ursprünglichen Nanißrnus
näher als der Objektliebe. ‘Vor einiger Zeit gab mir ein Zufall Gelegenheit, den Traum
einer Neuve‘rmählten zu erfassen, der sich als Reaktion auf ihre 1
Entjungferung erkennen ließ. Er ver-riet ohne Zwang den Wunsch »
des Weibes, den jungen Ehemann zu kastrieren und seinen Penis
bei sich zu behalten. Es war gewiß auch Raum für die harm-
losere Deutung, es sei die Verlängerung und Wiederholung des
Aktes gewünscht wurden, allein manche Einzelheiten des Traumes
gingen über diesen Sinn hinaus, und der Charakter wie das
spätere Benehmen der Träumerin legten Zeugnis für die ernstere—
Aui‘fassung ab. Hinter diesem Penisneid kommt nun die feind-
selige Erbitterung des Weibes gegen den Mann zum Vorschein,
die in den Beziehungen der Geschlechter niemals ganz zu verkennen
ist, und von der in den Bestrebungen und literarischen Produk-
tionen der „Emanzipie‘rten“ die deutlichsten Anzeichen vorliegen.
Diese Feindseligkeit des Weibes führt Ferenczi — ich weiß
nicht, ob als erster — in einer paläobiolog-ischen Spekulation bis
auf die Epoche der Differenzierung der Geschlechter zurück..) si-h: Über Triehmnnnnngeu insbesondere tler An-lmfik‚ Intern. Zeitschr.
£ m. N, 1916/17, [Gelnnhluglhe sa. v.]S.
Beiträge an“ Psychologie des Liebesksz 45
Anfänglich, meint er, fand die Kopulation zwischen zwei gleich-
artigen Ihdividuen statt, von denen sich aber eines zum stärkeren
entwickelte und das schwächere zwang, die geschlechtliche
Vereinigung zu erdulden. Die Erhitterung über dies Unterlegensein
setze sich noch in der heutigen Anlage des Weibes fort. Ich halte
es für vorwurfsfrei, sich solcher Spekulationen zu bedienen, solange
man es vermeidet, sie zu überwerten.Nach dieser Aufzählung der Motive für die in der Frigidität
spurweise fortgesetzte paradoxe Reaktion des Weibes auf die
Definration, darf man es zusammenfassend aussprechen, daß sich
die unfertige Sexualität des Weibes an dem Menue
entlädt, der sie zuerst den Sexualakt kennen lehrt. Dann ist
aber das Tabu der Virginität sinnreich genug, und wir verstehen
die Vorschrift, welche gerade den Mann solche Gefahren vermeiden
heißt, der in ein dauerndes Zusammenleben mit, dieser Frau
eintreten soll. Auf höheren Kulturstufen ist die Schätzung dieser
Gefahr gegen die Verheißung der Hör'igkeit und gewiß auch
gegen andere Motive und Verlockungen zurückgetreten; die
Virginität wird als ein Gut betrachtet, auf welches der Mann
nicht verzichten soll. Aber die Analyse der Ehestörungen lehrt,
daß die Motive, welche das Weib dazu nötigen wollen, Rache
für ihre Defloration zu nehmen, auch im Seelenleben des Kultur»
weibes nicht ganz erloschen sind. Ich meine, es muß dem
Beobachter entfallen, in einer wie ungewöhnlich großen Anzahl
von Fällen das Weib in einer ersten Ehe frigid bleibt und sich
unglücklich fühlt, während sie nach Lösung dieser Ehe ihrem
zweiten Menue eine zärtliche und beglückende Frau wird. Die
archaische Reaktion hat sich sozusagen am ersten Objekt erschöprDas Tabu der Virginität ist aber auch sonst in unserem Kult-m
leben nicht untergegangen. Die Volksseele weiß von ihm und
Dichter haben sich gelegentlich dieses Stoffes bedient. Anzen-
gruber stellt in einer Komödie der, 'wie sich ein einfältiger
Bauernbursche abhalten läßt7 die ihm zugedechte Braut zuS.
46 .si‚;„„ Freud
heiraten, weil sie „: Dirn’ is, was ihrem ersten ’s Leben kost’“.
Er willigt darum ein, daß sie einen anderen heirate, und will
sie dann als Wittfrau nehmen, wo sie ungefährlich ist. Der
Titel des Stückes: „Das Jungferngift“ erinnert daran, daß
Schlangenhändiger die Giftschlange vorerst in ein Tüchiein beißen
lassen, um sie dann ungefährdet zu handhaben.‘ '
Das Tabu der Virginität und ein Stück seiner Motivierung hat
seine mächtigste Darstellung in einer bekannten dramatischen
Gestell: gefunden, in der Judith in Hebbels Tragödie „Judith
und Holofernes“. Judith ist eine jener Frauen, deren Virginität
durch ein Tabu geschützt ist. Ihr erster Mann wurde in der
Braumacht durch eine rätselhafte Angst gelährnt und wagte es
nie mehr, sie zu berühren. „Meine Schönheit ist die der Toll
kirsche,“ sagt sie. „Ihr Genuß bringt Wahnsinn und Tod.“ Als
der assyrische Feldhen ihre Stadt bedrängt, faßt sie den Plan,
ihn durch ihre Schönheit zu verflihren und zu verderben,
verwendet so ein petriotisches Motiv zur Verdeckung eines
sexuellen. Nach der Defloration durch den gewaltigen, sich seiner
Stärke und Rücksichtsiosigkeit rühinenden Mann findet sie in
ihrer Empörung die Kraft, ihm den Kopf abzuschlagen, und wird
so zur Befreierin ihres Volkes, Köpfen ist uns als symbolischer
Ersatz für Kastrieren wohlhekannt; danach ist Judith das Weib,
das den Mann lustriert‚ von dem sie defloriert wurde, wie es ‘
auch der von mir berichtete Traum einer Neuvermählten wollte. _
Hehhel hat die patrioti.sche Erzählung aus den Apokryphen
des Alten Testaments in klarer Absichtlichkeit sexuelisiert, denn
;) Eine meinerth kmppe Eni1flnmg von A. Schnitzler („Du Sehicku!
des Freiherrn v. Leitenbogh") v,.rdirnt not! der Abweichung in der Situation hier
engere-ih! {II werden. Der durch einen Unfall verunglüekte Liehh-her einer in der
Liebe vielerfnimnen Schnulpiolurin ht ihr gleichem eine name vn;i„im geschafi.n.
indem u im Tod.-find; üblr den Mnnn uuupriuht, der lie lumt nach ihm hetitun
wird. Du mit diluln Tlhu hdegte Weib gott-ut lich auch eine Weile des Liubel- ‘
verkehr-l nid“. Nnehd'm lie [ich aber in einen Singer verlieh Int, greift ;ie ru?
Ankunft, verliert den Freiherrn '. Leitenbogh eine Nicht zu |chenken, der rich mitMann erlolglo. nm .i. mehr An ihm „nm ‚in. und; «„ Fluch; er wird von
mr.; ‚mm, „bei er a.. Man'v Irina unverhoffm Liahugliinh- „mmS.
A
Beiträge zur Psythnlagie des Lizbeskbms 47
dort kann Judith nach ihrer Rückkehr rühxnen, daß sie nicht
verunreinigt werden ist, auch fehlt im Text der Bibel jeder
Hinweis auf ihre unheimliche Hochzeitsnacht. Wahrscheinlich
hat. er aber mit: dem Feingefühl des Dichters das uralte Motiv
verspürt, das in jene tendenziöse Erzählung eingegangen war,
und dem Stoff nur seinen früheren Gehalt wiedergegeben.I. Sadger hat in einer trefilichen Analyse ausgeführt, wie
Hebbel durch seinen eigenen Elternkomplex in seiner Stoflwahl
bestimmt wurde, und wie er dazu kam, so regelmäßigim Kampfe
der Geschlechter für das Weib Partei zu nehmen und sich in
dessen verborgenste Seelenregu.ngen einzufühlen.‘ Er zitiert auch
die Motivierung, die der Dichter selbst für die von ihm einge-
führte Abänderung des Stoffes gegeben hat, und findet. sie mit
Recht gekünstelt und wie dazu bestimmt, etwas dem Dichter
selbst Unbewußtes nur äußerlich zu rechtfertigen und im Grunde
zu verdecken. Sadgers Erklärung, warum die nach der biblischen
Erzählung verwitwete Judith zur jungfiäulichen Witwe werden
mußte, will ich nicht antasten. Er weist auf die Absicht der
kindlichen Phantasie hin, den sexuellen Verkehr der Eltern zu
verleugnen und die Mutter zur unberührten Jungfrau zu machen.
Aber ich setze fort: Nachdem der Dichter die Jung‘liräulichkeit
seiner Heldin festgelegt hatte, verweilte seine nachfühlende
Phantasie bei der feindseligen Reaktion, die durch die Verletzung
der Virginität ausgelöst wird.Wir dürfen also abschließend sagen: Die Defloration hat nicht
nur die eine kulturelle Folge, das Weib dauernd an den Mann
zu fesseln; sie entfesselt auch eine archaische Reaktion von Feind—
seligkeit gegen den Mann7 welche pathologische Formen annehmen
kann, die sich häufig genug durch Hemmungserscheinungen im
Liebesleben der Ehe äußern, und der man es zuschreiben darf,
daß zweite Ehen so oft besser geraten als die ersten. Das
befremdende Tabu der Virginitia't1 die Scheu, mit welcher bei den;) Van der Pathogrlyhie zur Plypbngnphie. Image, I.. 1519.
S.
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Sign:. Freud !
Primitiven der Ehemann der Defloration aus dem Wege geht,
finden in dieser feindseligen Reaktion ihre volle Rechtfertigung.Es ist nuii interessant, daß man als Analytiker Frauen begegnen
kann, bei denen die entgegengesetzten Reaktionen von Hörigkeit
und Feindseligkeit beide zum Ausdruck gekommen und in inniger
Verknüpfung miteinander geblieben sind. Es gibt solche Frauen,
die mit ihren Männern völlig zerfallen scheinen und doch nur
vergebliche Bemühungen machen können, sich von ihnen zu
lösen. Sa ofi sie es versuchen, ihre Liebe einem anderen Manne—
zuzuwenden, tritt das Bild des ersten, doch nicht mehr geliebten,
hemmend dazwischen. Die Analyse lehrt dann, daß diese Frauen
allerdings noch in Hörigkeit an ihren ersten Männern hängen,
aber nicht mehr aus Zärtlichkeit Sie kommen von ihnen nicht
frei, weil sie ihre Rache an ihnen nicht vollendet, in ausgeprägtenFällen die mobsüchn‘ge Regung sich nicht einmal zum Bewußt-
sein gebracht haben.
Freud_1924_Liebesleben
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