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Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse
Herausgegeben von Sigm. Freud
XIX. Band 1933 Heft 3
Sándor Ferenczi †
Wir haben die Erfahrung gemacht, daß Wünschen wohlfeil ist
und darum beschenken wir einander freigebig mit den besten und
wärmsten Wünschen, unter denen der eines langen Lebens voran-
steht. Die Zielwertigkeit gerade dieses Wunsches wird in einer
bekannten orientalischen Anekdote aufgedeckt. Der Sultan hat sich
von zwei Weisen das Horoskop stellen lassen. „Ich preise dich
glücklich, Herr, sagt der eine, in den Sternen steht geschrieben,
daß du alle deine Verwandten vor dir sterben sehen wirst. Dieser
Seher wird hingerichtet. „Ich preise dich glücklich, sagt auch der
andere, denn ich lese in den Sternen, daß du alle deine Ver-
wandten überleben wirst. Dieser wird reich belohnt; beide hatten
der gleichen Wunscherfüllung Ausdruck gegeben.
Im Jänner 1926 mußte ich unserem unvergeßlichen Freund
Karl Abraham den Nachruf schreiben. Wenige Jahre vorher,
1923, konnte ich Sándor Ferenczi zur Vollendung des fünf-
zigsten Lebensjahres begrüßen. Heute, ein kurzes Jahrzehnt später,
schmerzt es mich, daß ich auch ihn überlebt habe. In jenem
Aufsatz zu seinem Geburtstag durfte ich seine Vielseitigkeit und
Originalität, den Reichtum seiner Begabungen öffentlich rühmen;
von seiner liebenswerten, menschenfreundlichen, allem Bedeuten-
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den angetanen Persönlichkeit zu sprechen, verbot dem Freund
geziemende Diskretion.
Seitdem das Interesse für die junge Psychoanalyse ihn zu mir
geführt hatten, haben wir viel miteinander geteilt. Ich lud ihn ein,
mich zu begleiten, als ich 1909 nach Worcester, Mass. gerufen
wurde, um dort während einer Festwoche Vorlesungen zu halten.
Des Morgens, ehe meine Vorlesungsstunde schlug, spazierten wir
miteinander vor dem Universitätsgebäude, ich forderte ihn auf,
mir vorzuschlagen, worüber ich an diesem Tage reden sollte, und
er machte für mich den Entwurf, den ich dann eine halbe Stunde
später in einer Improvisation ausführte. In solcher Art war
er an der Entstehung der „Fünf Vorlesungen“ beteiligt. Bald darauf,
auf dem Kongreß zu Nürnberg 1910, veranlaßte ich ihn, die Or-
ganisation der Analytiker zu einer internationalen Vereinigung,
wie wir sie miteinander ausgedacht hatten, zu beantragen. Sie
wurde mit geringen Abänderungen angenommen und ist noch
heute in Geltung. In den Herbstferien mehrerer aufeinander fol-
gender Jahre verweilten wir zusammen in Italien und mancher
Aufsatz, der später unter seinem oder meinem Namen in die
Literatur einging, erhielt dort in unseren Gesprächen seine erste
Gestalt. Als der Weltkrieg ausbrach, unserer Bewegungsfreiheit
ein Ende machte, aber auch unsere analytische Tätigkeit lähmte,
nutzte er die Pause, um seine Analyse bei mir zu beginnen, die
dann durch seine Einberufung zum Kriegsdienst unterbrochen
wurde, aber später fortgesetzt werden konnte. Das Gefühl der
sicheren Zusammengehörigkeit, das sich unter soviel gemeinsamen
Erlebnissen zwischen uns herausbildete, erfuhr auch keine Störung,
als er sich, leider erst spät im Leben, an eine ausgezeichnete Frau
band, die ihn heute als Witwe betrauert.
Vor einem Jahrzehnt, als die „Internationale Zeitschrift“
Ferenczi ein Sonderheft zum 50. Geburtstag widmete, waren die
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meisten der Arbeiten bereits veröffentlicht, die alle Analytiker
zu seinen Schülern gemacht haben. Aber seine glänzendste,
gedankenreichste Leistung hatte er noch zurückgehalten. Ich wußte
darum und mahnte ihn im Schlußsatz meines Beitrags, sie uns
zu schenken. 1924 erschien dann sein „V e r s u c h e i n e r G e n i t a l -
t h e o r i e“. Das kleine Buch ist eher eine biologische als eine psycho-
analytische Studie, eine Anwendung der Gesichtspunkte und Ein-
sichten, die sich der Psychoanalyse ergeben hatten, auf die Biologie
der Sexualvorgänge, des weiteren auf das organische Leben über-
haupt, vielleicht die kühnste Anwendung der Analyse, die jemals
versucht worden ist. Als Leitgedanke wird die konservative Natur
der Triebe betont, die jeden durch äußere Störung aufgegebenen
Zustand wiederherstellen wollen; die Symbole werden als Zeugen
alter Zusammenhänge erkannt; an eindrucksvollen Beispielen wird
gezeigt, wie die Eigentümlichkeiten des Psychischen die Spuren
uralter Veränderungen der körperlichen Substanz bewahren. Wenn
man diese Schrift gelesen, glaubt man zahlreiche Besonderheiten
des Geschlechtslebens zu verstehen, die man vorher niemals im
Zusammenhang hatte überblicken können, und man findet sich
mit Ahnungen bereichert, die tiefgehende Einsichten auf weiten
Gebieten der Biologie versprechen. Vergebens, daß man schon
heute zu scheiden versucht, was als glaubhafte Erkenntnis an-
genommen werden kann und was Art einer wissenschaftlichen
Phantasie zukünftige Erkenntnis zu erraten sucht. Man legt die
kleine Schrift mit dem Urteil beiseite: das ist beinahe zuviel
für einmal, ich werde sie nach einer Weile wieder lesen. Aber
nicht mir allein geht es so; wahrscheinlich wird es wirklich einmal
eine „B i o a n a l y s e“ geben, wenn F e r e n c z i sie angekündigt hat, und
die wird auf den „V e r s u c h e i n e r G e n i t a l t h e o r i e“ zurückgreifen
müssen.
Nach dieser Höhenleistung ereignete es sich, daß der Freund
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uns langsam entglitt. Von einer Arbeitssaison in Amerika zurück-
gekehrt, schien er sich immer mehr in einsame Arbeit zurück-
zuziehen, der doch vorher an allem, was in analytischen Kreisen
vorfiel, den lebhaftesten Anteil genommen hatte. Man erfuhr,
daß ein einziges Problem sein Interesse mit Beschlag belegt hatte.
Das Bedürfnis, zu heilen und zu helfen, war in ihm übermächtig
geworden. Wahrscheinlich hatte er sich Ziele gesteckt, die mit
unseren therapeutischen Mitteln heute überhaupt nicht zu er-
reichen sind. Aus unversiegten affektiven Quellen floß ihm die
Überzeugung, daß man bei den Kranken weit mehr ausrichten
könnte, wenn man ihnen genug von der Liebe gäbe, nach der
sie sich als Kinder gesehnt hatten. Wie das im Rahmen der
psychoanalytischen Situation durchführbar sei, wollte er heraus-
finden, und solange er damit nicht zum Erfolg gekommen war,
hielt er sich abseits, wohl auch der Übereinstimmung mit den
Freunden nicht mehr sicher. Wohin immer der von ihm ein-
geschlagene Weg geführt hatte, er konnte ihn nicht zu Ende
gehen. Langsam enthüllten sich bei ihm die Zeichen des schweren
organischen Destruktionsprozesses, der sein Leben wahrscheinlich
schon jahrelang beschattet hatte. Es war eine perniziöse Anämie,
der er kurz vor Vollendung des 60. Jahres erlag. Es ist nicht
glaublich, daß die Geschichte unserer Wissenschaft seiner vergessen
wird.
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