S.
Kinderlähmung, spinale, die (frz. paralysie
essentielle ou atrophie de l'enfance, myélite antérieure
aigue; engl. infantile paralysis; it. paralisi infantile
od essenziale dei bambini o poliomielite anteriore
acuta), essentielle Kinderlähmung, Poliomyelitis an-
terior acuta. Die Krankheit wurde, wenn auch
vorher schon beobachtet, klinisch beschrieben zu
erst von **J. v. Heine** (1840). Rilliet und Barthez
(1851 und 1853) bezeichneten dieselbe, da sie bei
Sektionen keine Veränderungen im Zentralnerven-
system fanden und die Affektion deshalb als nicht
auf nervöser Basis beruhend ansahen, als „essen-
tielle Kinderlähmung“, während Heine
später ebenso wie Duchenne die spinale Natur
derselben vermuteten. Letzterer förderte die Kennt-
nisse über diese Krankheit namentlich durch seine
Untersuchungen über das Verhalten der Muskeln
gegen die Elektrizität und über die gerade hier
sehr wichtige elektrische Behandlung der Kranken.
Weiterhin nun wurden auch die pathologisch-ana-
tomischen Veränderungen, welche unten beschrieben
sind, aufgefunden (Cornil 1863; Prévost und
Vulpian 1865; Sitz in den grauen Vordersäulen;
Lockhart Clarke 1868). Dieselben haben seit-
dem in jedem Falle konstatiert werden können.
Symptomatologie. Die Krankheit befällt
junge Kinder, vorwiegend zwischen dem 1. und 4.
Lebensjahre. Zuweilen gehen der eigentlichen Attacke
Prodrome voraus, welche in allgemeinem Krank-
heitsgefühl bestehen. Meist jedoch setzt die Er-
krankung ohne irgend welche Vorboten mit heftigem
Fieber (40—41°) ein. Zu diesem gesellt sich Som-
nolenz und, sofern die Kinder ihre Klagen schon
äussern können, Kopfschmerz, Ziehen im Kreuz und
in den Gliedern. In vielen Fällen treten heftige
allgemeine Konvulsionen, und zuweilen machen
sich auch gastrische Beschwerden bemerkbar. Diese
akuten Erscheinungen pflegen nach 1—2 Tagen
vorüberzugehen, aber in seltenen Fällen erstrecken
sie sich über einige Wochen. Während des Fieber-
anfalls nun entwickelt sich eine Lähmung, welche
jedoch eintwickeln erst nach Ablauf desselben be-
merkt wird. Sie ist, dann gewöhnlich schon auf
der Höhe ihrer Ausbreitung angelangt und sehr
ausgedehnt. Kann nun ihrem Verlauf während des
Fieberns beobachtet, so zeigt sich, dass sie von Glied-
maasse zu Gliedmaasse in schneller Folge fortschreitet.
Sie kann so alle Extremitäten, ja auch die Rumpf-
muskulatur befallen, unter Umständen auch die
diese beteiligten (Inkontinenz) die Sensibilität bleibt
intakt. Jedoch in dieser Ausdehnung bleibt die
Lähmung nur nur einige Zeit bestehen, indem bald
eine sukzessive und langsame fortschreitende Wieder-
kehr der Bewegungsflüssigkeit einzelner Muskel-
gruppen, sodann einzelner Gliederabschnitte und
schliesslich ganzer Gliedmaasse sich einstellt. Alles
diese macht in einem gewissen Stadium Halt, und
was bis jetzt von der Besserung nicht ergriffen ist,
verbleibt gelähmt. Nur in seltenen Fällen tritt eine
Restituierung der Lähmung in ihrer ganzen Aus-
dehnung erst nach 1–2 Monaten (temporäre Läh-
mungen). Die bestierende dauernde Lähmung kann
sehr verschiedene Formen darbieten; in der Regel
jedoch ist sie monoplegisch, und zwar auf ein Bein
beschränkt, weniger oft paraplegisch; noch seltener
treten sie in der Form der Hemiplegie oder
der gekreuzten spinalen Hemiplegie (L.en an ver-
schiedener Seiten) dar. Auch einzelne Glieder-
abschnitte (z. B. Unterarm) oder einzelne
Muskelgruppen einer Extremität können betroffen
sein. Ferner kommt es vor, dass auch die Rumpf-
muskeln einbezogen sind, die Sphinkteren entgehen
doch. Die bulbären Nerven werden nie affiziert.
Nicht immer ist dieser typische Verlauf vorhanden;
zuweilen sind die lähmenden Erscheunungen
durch leichtes Fieber mit allgemeinem Unwohlsein er-
setzt oder fehlen ganz. Oder ein und folgend passiven
die Lähmung nimmt ohne die geringste Muskelanspannung, auch
den gelähmten Muskeln greift, nur eine rapide Ver-
lust der elektrischen Erregbarkeit, denn schon
14 Tage nach der akuten Attacke die Atrophie üblicher
bemerkt nur eine verminderte
der elektrischen Erregbarkeit des Muskels, in schnellem
Fortschritt ab. Die faradische Erregbarkeit erlischt
gewöhnlich nahezu oder ganz in 1—2 Wochen
(Duchenne), während gegenüber dem konstanten
Strom ein gesteigerter Erregbarkeit, besonders bei
den L. zugliech mit dem charakteristischen trägen
Zuckungsverlauf, eintritt. Dieselbe ist allerdings
vorübergehend und macht einem weiteren Absinken
der Erregbarkeit auch gegen den konstanten Strom
Platz, wobei jedoch die Umkehr der Zuckungsformel
gewöhnlich beibehalten wird. Entwickelungsstörun-
gen. Nicht selten sind die atrophischen Muskeln
auf Druck hyperalgetisch. Die Reflexe, und zwar
sowohl Sehnen- wie Hautreflexe, soweit sie sich auf
S.
die betroffenen Muskeln beziehen, fehlen vollkom-
men. Die gelähmten Teile sehen cyanotisch aus
und sind kalt, oft mit kaltem Schweiss bedeckt.
Weiterhin geht dieselben eine Reihe von Schädigun-
gen der Veränderungen ein. Die Muskulatur schwindet
immer mehr, jedoch sehr häufig wird die At-
rophie derselben durch eine starke Fettwucherung,
sowohl im Muskel selbst wie der Unterhautzellege-
webe verdeckt. Nicht selten beobachtet man pa-
tische Kontrakturen aus, welche darauf beruhen,
dass infolge der Aufhebung des Muskeltonus, ab-
norme passive Stellungsveränderungen der Glieder,
zum Teil durch die Schwerkraft, Belastung u. a. m.
bedingt, eintreten, wodurch gewisse noch residierende
Muskeln in einen andauernden Verkürzungszustand
versetzt werden; auch ein ungleichmässiges Befallen-
sein einzelner Muskelgruppen innerhalb einer Ex-
tremität kann die Verkürzung zu Kontrakturen
der Antagonisten geben. Am häufigsten werden
die Füsse von Kontrakturen betroffen und zwar
meist in der Form des Pes equino-varus; seltener
als Pes planus; auch Calcaneo-Stellung kann vor-
kommen. An den oberen Extremitäten kann eben-
falls Kontraktuierung eintreten, besonders an Hand
und Schulter, ferner an der Wirbelsäule in Form
skoliotischer und lordotischer Verkrümmungen. Die
Knochen der gelähmten Glieder bleiben merklich
im Wachstum zurück und zwar desto mehr, je früher
und mit je grösserer Vollständigkeit die Lähmung
eingetreten war. Der vollständige Ausfall der Mus-
kelfunktion bringt es mit sich, dass die Glieder all-
gemein schlaff sind und geradezu schlottern. Da-
durch werden in der Folge die Kapseln und Bänder
der Gelenke ebenfalls erschlafft, und es kann ausser
zu Schlottergelenken durch leichte Anlässe zu Sub-
luxationen oder Luxationen (z. B. des Humerus)
kommen, besonders häufig entsteht **änn** vagans.
Alle diese Momente wirken zusammen in der Er-
zeugung der grossen Deformitäten, welche über-
haupt am menschlichen Körper beobachtet werden
können, während sich im übrigen das Individuum
körperlich und geistig ganz normal entwickelt.
Dementsprechend ist auch für den Gesundheitszu-
stand des späteren Menschen und für die Lebens-
dauer das Leiden als solches bedeutungslos; jedoch
kennt man einige Fälle bei denen die längst abge-
laufene Affektion Anlass zu späteren Entwicke-
lung einer progressiven Muskelatrophie gegeben hat.
**Pathologische Anatomie**. Es kann jetzt als
festgestellt angesehen werden, dass der Krankheit
ein akuter entzündlicher Prozess in den grauen
Vordersäulen des Rückenmarks zu Grunde liegt,
welcher sich hauptsächlich in der Lendenschwellung
einen einseitig- oder beidseitig-halb-doppelseitig auf-
hält und findt namentlich in der unteren Hälfte der
ganz frische Sektionergebnisse, aus den ersten
Wochen nach der Erkrankung, existieren noch nicht
(bis auf einen Fall von Dammann, welcher viel-
leicht hierhergehört: bei einem 4jährigen; nach
einem Tage gestorbenen Mädchen fanden sich die
Vordersäulen, zwischen dem 2. und 4. Halswirbel
in starker Erweichung, mit enormer Hyperämie in
kleiner Haemorrhagieen, körniger Schwellung der
Ganglienzellen, auch die Vorderstränge und Hinter-
stränge etwas beteiligt), in den bemerkten Gegen-
den einen resp. auf beiden Seiten je einen, gewöhn-
lich länglichen Erweichungsherd, oder mehrere,
welcher bei mikroskopischer Untersuchung starke
Gefässfüllung, Verwachsung der Kerne, reichliche
Körnchenzellen zeigen; die grossen Ganglienzellen
sind entweder ganz geschwunden oder in der Dege-
neration befindlich und ebenso die Nervenfasern.
Die Erweichungsherde setzen sich gewöhnlich ziem-
lich scharf ab, jedoch sind geringfügige histologische
Veränderungen (Hyperämie, Körnchenzellen, Atrophie
einzelner Zellen und Fasern) hinaus in diffusere
Weise mehr oder weniger weit in die graue Substanz
hinein verbreitet. Bei den älteren Fällen findet
man eine sich schon in den äusseren Konturen
kenntlich machende Schrumpfung der Vordersäulen
und auch der Vorderseitenstränge, welche die Herde
stehen, jetzt hauptsächlich aus fettfasrigem Binde-
gewebe, in welches Gefässe mit verdickten Wänden,
Corpora amylacea, einzelne Reste von Ganglien-
zellen, im Zustande der Pigmentatrophie eingebettet
sind — bieten also einen sklerotischen Zustand dar.
Diesen greift gewöhnlich auch auf die benachbarten
Teile der Vorderseitenstränge über, in welchen ent-
sprechende chronische Veränderungen Bindegewebs-
bildung, Atrophie von Nervenfasern aufweisen, kann
sich auch in abgeschwächter Weise mehr diffus
über einen gewissen Teil der vorderen grauen Sub-
stanz verbreiten. Durch die an die Herdeausdehnung
sich anschliessende sekundäre absteigende Degenera-
tion sind auch die durch die Vorderseitenstränge
ziehenden vorderen Wurzelbündel, sowie die vorde-
ren Wurzeln und die motorischen Nerven in dege-
nerativer Atrophie verfallen. Die Muskeln erfahren
ebenfalls der degenerativen Atrophie, indem die
Muskelfibrillen die Querstreifung verlieren, zerfallen
und zum grössten Teil ganz untergehen, während
gleichzeitig eine Kernvermehrung auftritt. Damit
geht eine Proliferation des interstitiellen Bindege-
webes einher, zu welcher sich auch eine Dickenzu-
nahme der Gefässwände gesellt. So kann schliesslich
ein Zustand resultieren, bei welchem der ehemalige
Muskel in einen fibiösen Strang verwandelt erscheint,
in welchem sich mikroskopisch nur hier und da
vereinzelte Reste von veränderten Muskelfasern noch
entdecken lassen. Häufig jedoch tritt in dem inter-
stitiellen Bindegewebe während des Ablaufes der
Degenerationsvorgänge eine Fettentwicklung auf,
welche so überhand nehmen kann, dass das Volumen
des früheren gesunden Muskels weit übertroffen
werden kann. Dies im jüngeren und Dickenwachs-
tum zurückgebliebenen Knochen erscheinen häufig
auf atrophische Weichteile; indem die Kortikal-
schicht mangelhaft ausgebildet ist; die den Muskel-
ansätzen dienenden Fortsätze sind in der Entwicke-
lung zurückgeblieben. Die Gelenkenden sind in-
dessen durch Gelenkkopfatrophie.
Was
die Interpretation dieser pathologisch-anatomischen
Veränderungen betrifft, so ist es, dass die primäre
Veränderung in den grauen Vordersäulen des Rücken-
marks und dieser selbst als eine entzündliche, eine
Poliomyelitis acuta, anzusehen. Ob es sich um eine
interstitielle oder eine parenchymatöse (von den
Ganglienzellen ausgehend) Entzündung handelt, oder
ob die der Unterschied hier überhaupt nicht zu Gel-
tung kommt, ist noch nicht entschieden; alle diese
Ansichten werden von den verschiedenen Autoren
vertreten. Die Atrophie der Nervenwurzeln und
Nerven ist als sekundäre Degeneration die der
Muskeln nicht etwa als Inaktivitätsatrophie aufzu-
fassen, sondern als degenerative infolge des Fort-
falls der in der Vordersäulen der grauen Substanz
gelegenen trophischen Zentren. Dieser gegenüber ge-
schilderten meist vertretenen Lehre gegenüber steht
die namentlich von L a n d r y inaugurierte Ansicht,
nach welcher die Affektion häufig von einer peri-
pherischen multiplen Neuritis ausgeht und auf das
Rückenmark in Form einer Herde übergreift, aber
wahrscheinlich auch peripherisch bleiben kann.
**A e t i o l o g i e**. Man hat die Mehrzahl der
Erkrankungen in die Zeit der Dentition fallen be-
sonderes Dentitio difficilis bei den befallenen Kinder
beobachtet ist, dieser letzterer früher zum Teil
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eine grössere ätiologische Bedeutung eingeräumt
(Heine), ohne dass sich etwas Sicheres hierüber bis
jetzt ergeben hätte. In manchen Fällen sind be-
stimmte rheumatische Einflüsse nachzuweisen, ge-
wessen sich ist in dieser Beziehung der Umstand
geltend gemacht worden, dass die Mehrzahl der
Fälle in der nassen Jahreszeit vorkommt. Manche
Fälle treten im Verlaufe von akuten Infektions-
krankheiten auf. Heredität spielt im allgemeinen
keine Rolle, jedoch gibt es einige Fälle, in denen
hereditäre, resp. familiäre Einflüsse vorhanden ge-
wesen zu sein scheinen. Die Konstitution scheint
ebenfalls nicht von Belang für das Entstehen der
Krankheit zu sein, da gesunde kräftige Kinder ebenso
oder noch mehr erkranken als skrofulöse, rhachi-
tische u. s. w. Eine Prädisposition des einen oder
anderen Geschlechts ist nicht vorhanden.
Therapie. Bezüglich der Behandlung kommt
fast nur das chronische (paralytische) Stadium
in Betracht, da, wie oben bereits bemerkt, den
Wesen der akuten Erkrankung meist erst nach Ab-
lauf eben der heftigeren Erscheinungen erkannt
wird. Im übrigen ist das akute Stadium, ent-
sprechend der akuten Myelitis, mit Antiphlogose,
lokaler Kälteeinwirkung etc. zu behandeln. Im
chronischen Stadium dürfte der meiste Erfolg der
Elektrotherapie zukommen. Man ist verschiedener
Meinung darüber, ob man schon frühzeitig oder
erst später, zentral oder bloss peripher elektrisieren
soll. Am meisten Aussicht dürfte eine möglichst
frühzeitige Applikation von schwachen konstanten
Ströme auf das Rückenmark haben. Man be-
dient sich grosser Plattenelektroden, welche auf
die mutmassliche Gegend des Erkrankungsherdes
gesetzt werden, und lässt indem die andere
Elektrode an der vorderen Rumpffläche Platz
findet, stabile Ströme, teils mit Anoden-, teils
mit Kathodenwirkung hindurchgehen (Erb). Bei
mit kann eine periphere Behandlung der Mus-
keln ebenfalls mit Anwendung möglichst schwacher
Ströme vorgenommen werden, wobei die einen mehr
den faradischen, die anderen mehr den konstanten
Strom bevorzugen. Duchenne hat mit ersterem
befriedigende Erfolge erzielt. Es kommt vielleicht
auf Ausdauer und Regelmässigkeit bei der Kur
mehr an, als auf die Art der Elektrizität. Bei An-
wendung des galvanischen Stromes verfährt man
so, dass die Anode auf die Gegend des Erkrankungs-
herdes, die Kathode labil auf die gelähmten Nerven
und Muskeln appliziert wird (Erb). Unterstützt
wird die periphere elektrische Behandlung durch
Massage der Muskeln und vielleicht auch durch
reizende Einreibungen. Um auf den Focus morbi
zu wirken sind neben der erwähnten Galvanisation
des Rückenmarks Bäder an dem Platze, je nach Um-
ständen (Thermen, Sol-, Seebäder, Eisenbäder,
speziell Solthermen, ferner Hydrotherapeutische
Behandlung. Von Medikamenten kommen Jodkali,
Eisen, Argentum nitricum, Ergotin, Strychnin in
Betracht, ohne dass eine erhebliche Einwirkung
derselben festgestellt ist. Kräftige Ernährung, gute
Luft u. a. m. sind natürlich für den Verlauf und
die etwaige Restitution ebenfalls von Wichtigkeit.
Von grosser Bedeutung in symptomatischer Be-
ziehung ist eine rationelle gymnastische und ortho-
pädische Behandlung, welche die gelähmten Gliedern
möglichsten Brauchbarkeit zu verleihen und DeFor-
mitäten vorzubeugen hat. Siehe **Massage**.
Villaret_1888_Handwoerterbuch_II
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