S.
Aphasie, die [a priv. — φάσις Sprache
(griech.)]; (frz. aphasie f; engl. aphasia, aphasys;
it. afasia f, afazia f); Synonyme: Aphemie,
Alogie. Unterabteilung: Wortblindheit,
Agraphie. Unter A. versteht man die Auf-
hebung oder Beeinträchtigung des Vermö-
gens, seine Gedanken durch konventionelle
Zeichen auszudrücken oder solche Zeichen
zu verstehen, trotz des Fortbestandes eines
hinreichenden Grades von Intelligenz und
trotz der Integrität der peripheren, sen-
soriellen, nervösen und Muskelapparate,
welche bei dem Ausdrucke oder beim Ver-
ständnis der Sprache beteiligt sind. Die
Taubstummheit, die Sprachlosigkeit der
Idioten und die Sprachaufhebung im Koma,
sowie durch Lähmung der Zunge und der
Lippen fällt daher nicht unter den Begriff
der A. Die A. ist eine psychische Erkran-
kung, es ist aber festzuhalten, dass sie nicht
notwendig mit Intelligenzstörung verbunden
ist, letztere ist jedesmal als eine Kompli-
kation aufzufassen. Man unterscheidet die
natürliche oder emotionelle Sprache (Ge-
bärdensprache) und die künstliche oder arti-
kulierte Sprache; von denen die letztere
häufiger Störungen unterliegt, weil sie später
erworben wird. Die mannigfachen Stö-
rungen der artikulierten Sprache (eigent-
liche A. im Gegensatze zur Amimie) werden
nur verständlich, wenn man nachfolgende
Betrachtungen über den normalen Hergang
der Sprache würdigt: Ein „Wort“ ist keine
einfache Vorstellung, sondern ein Komplex,
welcher aus vier Elementen, zwei sensoriellen
und zwei motorischen besteht. Die beiden
sensoriellen sind: das Erinnerungsbild des
gehörten Wortes (die Gehörsvorstellung) und
das optische Bild des gesehenen Wortes (in
Schrift oder Druck); die zwei motorischen:
die Bewegungsvorstellung (von den Sprach-
werkzeugen) des gesprochenen und die Be-
wegungsvorstellung (von der rechten Hand)
des geschriebenen Wortes. Der zweite und
vierte dieser Bestandteile spielen nur bei
Gebildeten eine Rolle. Erlernt wird die
Sprache auf dem Wege des Gehörs. Ausser-
dem sind die Verknüpfungen in Betracht
zu ziehen, welche diese vier Elemente der
Wortvorstellung mit der Vorstellung des Ob-
jektes in Verbindung bringen. Es gibt
demnach zwei Hauptarten der A., die mo-
torische und die sensorische, und vier reine
Formen, nämlich: die Worttaubheit,
Wortblindheit, motorische A. (Aphe-
mie) und Agraphie. Diese Formen werden
mitunter rein in der Klinik angetroffen;
viel häufiger sind aber komplexe Sprach-
störungen, bei denen alle vier Weisen derS.
Sprachfunktion in wechselnder Beteiligung
gelitten haben. Der Teil des Gehirns, in
welchem die Verknüpfung des Materials von
Sprachvorstellung vor sich geht, ist dessen
Erkrankung also Sprachstörung nach sich
zieht, ist die Reilsche Insel mit dem sie um-
ziehenden Windungsbogen, welcher als erste
Stirnwindung, Fuss der Zentralwindungen
unteres Scheitelläppchen und erste Schläfen-
windung vom Stirnende zum Schläfenende
der Hemisphäre zieht. Das Sprachfeld ist
also zum Teil in der Tiefe, zum Teil in der
Umrandung der Sylvischen Grube gelegen.
Dasselbe ist jedoch nicht in beiden Hemi-
sphären ausgebildet; bei den meisten (rechts-
händigen) Menschen ist er die linke, bei
anderen (Linkshändern) die rechte Hemi-
sphäre, welche das Sprachfeld enthält. Es
gibt einzelne Stellen im Sprachfelde der
linken Hemisphäre, deren Verletzung eine
reine Form von A. erzeugt. Dieselben führen
den – übrigens missverständlichen – Namen
von Zentren; ihre genauere Umgrenzung ist
derzeit unmöglich. So liegt das Zentrum
der motorischen Sprachfähigkeit im hinteren
Teil der ersten Stirnwindung (Brocasche
Stelle), das Zentrum der Schreibfähigkeit im
hinteren Teil der zweiten Stirnwindung; der
Rindenort, von dessen Integrität das Ver-
ständnis der gehörten Sprache abhängt, ist
die erste Schläfenwindung, der entsprechende
Rindenort für die gelesenen Sprachszeichen
das untere Scheitelläppchen. Die Zentren
der Sprache sind bemerkenswerterweise die
äussersten Bezirke der Sprachfelder und
stossen an Zentren anderer Funktionen (der
Zunge und Lippen, des Armes, des Gehörs
und Gesichtes überhaupt) direkt an, während
Läsionen der zwischen den Zentren gelegenen
Sprachfeldes stets komplexe Sprachstörungen
zu ergeben scheinen. Die sog. Zentren der
Sprache sind also wahrscheinlich bloss die
Einstrahlungsstellen der von anderen (Ge-
bieten zum Sprachfeld kommenden Assozia-
tionsbündel). Die vier reinen Formen der
A. charakterisieren sich klinisch in folgen-
der Weise:
1.) Die sensorischen A.-en: a) Die
Worttaubheit. Die Kranken verstehen
nicht mehr, was man zu ihnen spricht, trotz
erhaltenem Gehör und guter Intelligenz. Die
Sprache tönt ihnen wie ein verworrenes Ge-
räusch. Der Sprachschatz aber, dessen sich
die Kranken selbst bedienen, ist unbeeinträchtigt.
Fast immer findet man aber bei der Wort-
taubheit motorische Sprachstörung, sog. Par-
aphasie, die darin besteht, dass der Kranke,
ohne es zu merken, unpassende Worte zum
Ausdruck seiner Gedanken verwendet. Diese
Paraphasie kann so weit gehen, dass die
Sprache des Kranken ganz sinnlos wird, Z.
und dass die Kranken für Geistesgestört ge-
halten werden.
b) Die Wortblindheit (besser Schrift-
blindheit). Die Kranken sind bei sonst gutem
Sprachvermögen nicht im stande, die Be-
deutung geschriebener oder gedruckterSprachzeichen, welche sie sehr gut sehen,
zu erkennen. Sie können daher nicht lesen
(Alexie), oder sie lesen mit Hilfe eines Kunst-
griffs, indem sie die einzelnen gesehenen
und nicht erkannten Buchstaben nacheigen.
Diese „Blindheit“ besteht manchmal
nur für Silben, während einzelne Buchstaben
noch erkannt werden, andere Male auch für
Buchstaben. Nicht selten werden dabei Zahlen
noch erkannt. Die Wortblindheit ist fast
immer mit halbseitiger Einschränkung des
Gesichtsfeldes (Hemianopsie) kompliziert.
II. Die motorischen A.-en: a) Die
eigentliche motorische Aphasie (Aphemie).
Diese ist bei weitem die häufigste Sprach-
störung und wird am ehesten rein angetroffen.
Sie ist gekennzeichnet durch die Aufhebung
oder Verminderung des Sprachschatzes. Der
Kranke hat in extenso einen nur Gebärden,
in anderen nur einzelne Silben oder Worte,
selbst ganze Phrasen zur Verfügung, mit
denen er auf alles antwort gibt. Er ist sich
aber des unzureichenden Charakters dieser
Aeusserungen sehr wohl bewusst und ist
sichtlich über sein Unvermögen, mehr als
die ihm gebliebenen stereotype Wendung zu
sagen, gekränkt. Die resstierenden Reden
des A. schem haben häufig den Charakter
von Interjektionen „Ja“, „Nein“ oder
von sinnlosen einzelnen Silben: s t a n - t a n und
bestehen Zusammensetzungen von solchen:
wie a k o k o , m o m o n e n t , endlich in
ganzen, einfach gebauten Sätzen. Alle diese
Reden werden korrekt artikuliert, was die
A. streng von der Lähmung der Sprach-
werkzeuge (Alalie) unterscheidet. Wenn die
Verringerung des Sprachschatzes keine hoch-
gradige ist, betrifft sie zumeist die Haupt-
wörter und äussert sich darin, dass der
Kranke dieselben durch Angaben von Hand-
lungen zu umschreiben sucht. So z. B. sagt
er anstatt: „Geben Sie mir meinen Hut“:
„Geben Sie mir das, was man setzt auf
den S i n n “. Die Sprachfähigkeit eines A.-schen
schwankt indessen mit seinem Allgemein-
zustand und kann häufig unter dem Ein-
flusse einer Erregung eine plötzliche Stei-
gerung erfahren. Es ist ferner zu beachten,
dass viele A.-sche, die nicht im stande sind,
aus eigenem, d. h. von ihren Gedanken
gang aus, ein bestimmtes Wort auszusprechen,
dasselbe korrekt wiederholen, wenn es ihnen
vorgesagt wird. Dies hängt davon ab, welch-
der vielfachen Assoziationsbahnen der Sprache
zerstört oder erhalten sind, und findet seine
Analogie bei den anderen Formen der Sprach-
störung. Die motorische A. ist häufig,
aber nicht notwendig, mit einer Lähmung
der rechtsseitigen Extremitäten, oder mit
Lähmung der cerebralen Bahnen, welche
Zungen, Lippen, Kehlkopf und Schlund-
muskeln beherrschen, vergesellschaftet. Ganz
gewöhnlich findet sich motorische A. in den
ersten Tagen nach einem linksseitigen apo-
plektischen Insult, solange noch die ganze
Hemisphäre unter den Folgen des Insultes
leidet. Die Sprachstörung pflegt sich dannS.
alsbald zurückzubilden; sie kann in solchen
Fällen als ein indirektes Herdsymptom auf-
gefasst werden.
b) Die Agraphie kann nach einem glück-
lichen Ausdruck Charcots als „A. der Hand“
bezeichnet werden. Agraphie findet sich
verhältnismässig selten als reine Form. Wenn
eine rechtsseitige Lähmung vorhanden ist,
lässt sich die Frage nach dem Vorhanden-
sein von Agraphie natürlich nicht entschei-
den. Sonst begleitet die Agraphie in der
Regel die motorische A., hält aber nicht
notwendig gleichen Schritt mit ihr. Sie
besteht darin, dass die Kranken zum Schrei-
ben aufgefordert, nur sinn- und zusammen-
hanglose Striche zusammenbringen. Auch
solche Kranke schreiben mitunter noch richtig
auf Diktat oder kopieren Vorgaben, während
sie ohne solche Anregung nicht schreiben
können. — Die komplizierteren aphasischen
Störungen wird man in der Art analysieren
müssen, dass man durch genaue Unter-
suchung feststellt, welche Verknüpfungen
zwischen den einzelnen Elementen der Wort-
vorstellung und zwischen diesen und der
Vorstellung des bezeichneten Objectes er-
halten oder unterbrochen sind. Da die A.
ein exquisites Herdsymptom ist, kann sie
durch jede Läsion, welche das Sprachfeld
betrifft, hervorgerufen werden, so durch:
Gehirnblutungen, Erweichungen, Tumoren,
traumatische Einwirkungen, Abscesse, chro-
nische Momente wie Herz- und Gefäss-
erkrankung, Syphilis, Morbus Brightii, akute
Infektionskrankheiten (Typhus, Variola), Dia-
betes mellitus etc., kommen hier, wie bei den
anderen Formen der Gehirnerkrankung in
Betracht, ohne dass die eine oder andere
der Ursachen eine besondere Beziehung zur
Form der A. darböte. Letztere hängt viel-
mehr einzig von der Lokalisation und Aus-
dehnung der im Sprachfelde etablierten
Läsion ab. A. ist nicht immer Folge eines
materiellen Gehirnprozesses; vielmehr können
auch Neurosen, wie die Hysterie und die
Neurasthenie, aphasische Störungen erzeugen.
Die hysterische A. ist eine rein motorische,
soweit sie bis jetzt studiert ist. Sie kenn-
zeichnet sich aber durch ihre Vollständiger-
keit oder vielmehr durch ihren absoluten
Charakter. Die Kranken sind nicht etwa
auf den Gebrauch einzelner Worte einge-
schränkt, sondern sie sind vollkommen sprach-
los, ja stimmlos; nicht ein Laut, nicht ein
Schrei kommt zu stande. Die hysterische
A. ist also eine eigentliche „Stummheit“.
Dabei ist aber die Schreibfähigkeit stets er-
halten und gesteigert. Die Kranken deuten
Befragt auf ihren Mund, greifen dann zur
Feder und schreiben mit ungewöhnlicher
Rapidität und Sicherheit ihre Gedanken nie-
der. Die Sprachstörung infolge neurasthe-
nischer Gehirnermüdung beschränkt sich auf
das Vergessen einzelner konkreter Worte,
der die Verwechselung ähnlich klingender
Worte in der Rede und steht so der bei
gesunden Menschen vorkommenden Para-phasie nahe. — Die Prognose und Thera-
pie der A. ist dieselbe wie die einer Läh-
mung und richtet sich nach dem Grund-
leiden. Alle Formen der aphasischen Störung
sind unter günstigen Bedingungen einer Bes-
serung oder eines Ausgleichs fähig. Bleibt
ein nicht weichender Defekt des Sprachver-
mögens zurück, so kann man versuchen, den-
selben durch Neuerziehung des Kranken aus-
zufüllen. So lernt der Wortblinde, wenn
auch mühsam, wieder lesen, der Agraphische
wieder schreiben. Letzterer kann sich zum
Schreiben der linken Hand bedienen, die
entweder in Spiegelschrift oder in normalen
Charakteren schreiben lernt. Erhaltene In-
telligenz ist für solche Lernversuche Be-
dingung.
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