Lokalisation 1891-023/1891
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    Lokalisation, die (frz. localisation f cérébrale;
    engl. localisation; it. localizazionef), ist ein viel-
    umstrittener Begriff der Physiologie des Gross-
    hirns. Es handelt sich um die Frage, ob ver-
    schiedenen Stellen der Grosshirnrinde verschie-
    dene Funktionen zuerkannt werden können. Der
    Natur der Sache nach muss jedes Rindenelement
    zunächst als ein Durchgangsort für Nervenerre-
    gungen aufgefasst werden. Wegen der Mannich-
    faltigkeit der Orte, von denen aus der einzelnen
    Rindenzelle Erregungen zufliessen können, und
    derjenigen, wohin sie Erregungen weiter senden
    kann, wird der Spielraum der zentralen Prozesse,
    an denen sich die Zelle beteiligen kann, also auch
    der Spielraum ihrer Funktion, eine gewisse Breite
    haben. Die erkennbare Funktion einer Rinden-
    gegend wird also nicht eine so begrenzte sein
    können, wie z. B. die Funktion des Sekretions-
    epithels einer Drüse. Nicht in demselben Sinne,
    wie man von einer Epithelzelle eines gewundenen
    Harnkanälchens sagen kann, sie sezerniert Harn,
    kann man von einer Rindenzelle des Grosshirns
    sagen, sie will eine Bewegung oder sie sieht, son-
    dern nur: sie ist an einem zentralen Prozess be-
    teiligt, dessen Endglied eine Muskelinnervation ist,
    oder an einem solchen, der durch einen Gesichts-
    eindruck eingeleitet wurde. Immerhin kann unter
    den erregungsleitenden Nervenbahnen, welche durch
    eine solche Rindenzelle miteinander verknüpft sind,
    eine einzelne derart prävalieren, und die Zelle
    selbst kann in einer bestimmten Erregungsbahn
    eine so hervorragende Stelle einnehmen, dass ihrer
    Funktion dadurch ein greifbarer Charakter auf-
    gedrückt wird. So gehen von Rindenzellen der
    Zentralwindungen und ihrer nächsten Umgebungen
    anatomisch nachweisbar Fasern aus, welche durch
    Stabkranz, innere Kapsel. Hirnschenkelfuss, Brücke,
    Pyramide und Pyramidenbahn des Rückenmarks mit
    motorischen Nervenzellen der grauen Vordersäulen
    des letzteren zusammenhängen. Auf sicherer ana-

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    tomischer Grundlage ist darum zu erwarten, dass
    in der Ausbreitungsgebiet der Stabkranzfasern in
    der Hirnrinde zu den unter Vermittelung der letz-
    teren überhaupt eintretenden Körperbewegungen in
    hervorragend inniger Beziehung steht. In der That
    treten motorische Verletzungen im Bereich der ge-
    nannten Rindengegend beim Menschen sicher Stö-
    rungen im willkürlichen Gebrauch der Skeletmuskeln
    auf und durch localisirte, auf die Rindenzellen
    beschränkte elektrische Reizung bestimmter Rinden-
    stellen den gesamten Gebietes kann man Thätigkeit
    der Muskelgruppen in bestimmt koordinirten Thätigkeit
    versetzen. Da sich das genannte Rindengebiet
    hierin wenigstens quantitativ auffallenderweise von
    der übrigen Hirnrinde unterscheidet, so ist man
    vollauf berechtigt, dasselbe als die „motorische
    Sphäre“ der Hirnrinde zu bezeichnen. Ferner steht
    die Rinde des Hinterhauptlappens durch einen stets
    vollziehbare Faserung des weissen Marklagers,
    durch die Sehstrahlung G R A T I O L E T ' s , mit dem
    Tractus opticus zum Ursprung dienenden Ganglien
    des Hirnstammes (im Corpus quadrigemum, Geniculatum
    externum und Pulvinar Thalami optici) in anatomisch
    nachweisbarer direkter Verbindung, und da ausser-
    dem nach angeborenen Rindenläsionen, weit sicherer
    wenn sie im Okzipitallappen als secundäre Läsion zu
    auftreten, Seh Störungen zu erwarten sind, so hat
    eine noch nicht unbestrittenen Sinn, wenn man
    diese Rindenpartie „die Sehsphäre“ nennt. In ana-
    logem Sinne, wenn auch nicht mit dem gleichen
    Grade von Sicherheit, betrachtet man die Rinde des
    Schläfelappens als „Hörsphäre“ und die Rinde im
    Gebiete der Substanta perforata antica und des
    Ammonshorns als „Riechsphäre“. In ersterer Be-
    ziehung lässt die Begründung durch die anatomische
    Zuordnung, in letzterer in geringem Umfang auf die patho-
    logische und physiologische Erfahrung noch viel zu
    wünschen übrig. Das physiologische Experiment
    und die Beobachtung am Krankenbett und Sektions-
    tisch drängen dazu, der „Fühlsphäre“ dasselbe
    Rindengebiet zuzuweisen wie der motorischen
    Sphäre und das kennt sich darum weder nennen
    will noch will, dass die durch die Haut und Muskeln
    vermittelte Empfindungen, welche die Gelenks-
    bewegungen begleiten, zur Bildung der Bewegungs-
    vorstellungen erforderlich sind, und dass das Ein-
    treten von Bewegungsvorstellungen in das Bewusst-
    sein ein wesentliches Kriterium für das Unterscheiden
    der Willkürbewegungen von den Reflexbewegungen
    ausmacht. Ueber diese Funktionen zu sprechen,
    welche die Rinde des Stirnhirns in nächster Beziehung
    stehen mag, ist eine Klärung der Aussichten
    noch nicht erzielt. Was das Positive in den vorigen
    drei Absätzen betrifft, so wird es kaum von irgend-
    einem der Forscher, welche sich in neuerer Zeit an
    der Diskussion über die Lokalisationen betheiligt
    haben, bestritten werden, worüber augenblicklich
    die Aussichten noch weit ausschweifender sind,
    hauptsächlich die Fragen, nach dem Grade der Ab-
    grenzbarkeit der einzelnen Sphären gegeneinander
    und nach der Möglichkeit des Nachweises einer
    feineren Gliederung der Funktionen innerhalb der
    einzelnen Sphären. Was den ersteren Punkt an-
    belangt, so ist eine landkartenähnliche Abgrenzung
    zwischen Gebieten verschiedener Funktionen auf Grund
    der anatomischen Verhältnisse nicht zu erwarten,
    denn soweit Structurunterschiede in der grauen
    Rinde und ihren weissen Marklager nachgewiesen
    und zeigen sich die Uebergänge seltener, d. h. man
    braucht man nicht so weit zu gehen, dass
    man auf Grund der Seh Störungen, welche man z. B.
    nach Verletzungen im Stirnhirn beobachtet, der be-
    treffenden Rindenpartie dieselbe Bedeutung für das

    Sehen zuschreibt wie der Rinde des Hinterhaupt-
    lappens. Für eine solche Gleichstellung fehlt die
    anatomische Grundlage, und man muss bedenken,
    dass ein zentraler Process, welcher durch einen Ge-
    zichtseindruck eingeleitet wurde, der Intaktheit noch
    manche zentraler Verbindungen und kortikaler
    Durchgangsstationen bedürfen wird, um in Form
    einer entsprechenden Bewegung in die objektive
    Erscheinung zu treten. Was die feineren Gliederung
    der Funktion betrifft, so ist man zu den am all-
    gemeinsten anerkannten Resultaten auf dem Ge-
    biete der motorischen Sphäre gelangt. Die einzel-
    nen Theile der Zentralwindungen sind dadurch
    charakterisiert, dass bei einer so schwachen elek-
    trischen Reizung derselben, dass die erste motorische
    Wirkung zu beobachten ist, jedesmal eine ganz be-
    stimmte Muskelgruppe in Thätigkeit gesetzt wird,
    oder Muskeln des Gesichts, oder der Arme, oder
    der Beine etc. Die auf diese Weise charakterisierte
    Rindenstelle der Bauchzelkn z. B. nennt man das
    „absolute Rindenfeld“ derselben im Gegensatz zu
    dem dort beobachteten „relativen“ von dessen
    Theilen aus ebenfalls aber bei mehr oder weniger
    bedeutsamer Verstärkung des Reizes Bewegungen
    in den Beinmuskeln zu erzielen sind. Eine Unter-
    scheidung der relativen und absoluten Rindenfelder
    verschiedener Muskelgruppen hat sich auch für die
    Deutung der pathologischen Befunde als zweck-
    mässig erwiesen. Allgemein anerkannt ist ferner,
    dass jedes motorische Rindenfeld einerseits aber
    nicht ausschliesslich zu der betreffenden Muskel-
    gruppe der entgegengesetzten Körperhälfte in Be-
    ziehung steht. Dass diese Reserve erhalten geblieben
    aus folgendem Beispiel hervorgeht: In der motorischen
    Sphäre des Rumpfbehrens giebt es ein absolutes
    Rindenfeld für Auswärtsbewegung des gehemmten
    Vorderbeines. Durch Verstärkung des Reizes an der
    betreffenden Rindenstelle erhält man auch Be-
    wegung der gleichnamigen Vorderextremität, doch
    betrifft diese Bewegung nicht die symmetrische
    Muskelgruppe, sondern diejenige, welche die Be-
    wegung zu einer mit der des anderen Beines gleich
    gerichteten macht. Dieser Erfolg tritt auch nach
    strenger, der elektrischen Strömung auf die be-
    treffende Hirnhemisphäre und nach Durchschneidung
    des Balkens auf, so kann man nicht daran ge-
    zweifelt werden, dass die Stabkranzfaserung der-
    selben Seite den zu beiden Extremitäten gelangen
    den Bewegungsimpulsen zur Leitung dient. Eine
    analoge Erforschung von grosser Bedeutung, welche
    jetzt ebenfalls allgemein anerkannt sein dürfen,
    trifft die Sehsphäre. Nach Zerstörung der Rinde
    eines Okzipitallappens tritt Sehstörung in den
    gleichgeschickten Hälften beider Netzhaut ein (bilat-
    erale homonyme Hemiopie), so dass also die Projek-
    tion jeder Hälfte des Gesichtsfeldes durch Ver-
    mittelung beider Augen in nur einem Okzipital-
    lappen und zwar in dem contralateralen, zustande
    kommt. Eine ganz besondere Rolle hat in der Ent-
    wickelung der S. die Beziehung des linken
    dritten Stirnwindung zur Sprache gebildet. In einer
    grossen Anzahl von Fällen hat sich die an Paralyse
    beobachtete Aphasie auf Zerstörung dieses Rinden-
    gebietes zurückführen lassen, aber auch nach ander-
    weitigen Hirnläsionen neuartige Sprachstörungen beob-
    achtet. Seitdem man verschiedene Formen der
    Aphasie zu unterscheiden gelernt hat, weiss man,
    dass mit der linken dritten Stirnwindung diejenige
    Form zusammenhängt, welche man die a k t i s c h e
    nennt, und welche auf der Störungen der zum Aus-
    sprechen der Worte erforderlichen Bewegungs-
    koordination beruht, zum Sprechen gehört aber
    mehr, vor allem, die richtige Association von Vor-
    stellungen, welche früheren gleichzeitig erhaltenen

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    Sinneseindrücken entsprechen, und Kraft deren die
    Wiedererkennung von Gegenständen und die Erin-
    nerung an ihre optischen oder akustischen Symbole
    in Schrift und Laut erfolgt. Verschiedene Formen
    von Aphasie sind also bei Läsionen in verschiedenen
    Sinnssphären der Rinde und den zugehörigen Asso-
    ziationsfasersystemen nicht nur beobachtet worden,
    sondern sie sind auch der Natur der Sache nach
    hier zu erwarten gewesen.