Das Fakultätsgutachten im Prozeß Halsmann 1930-063/1930
S.

13

Das Fakultätsgutachten
im Prozeß Halsmann.

Von Professor Sigmund Freud.

In seiner Besprechung des psychiatrischen
Gutachtens der Innsbrucker medizinischen 
Fakultät, das für die Verurteilung Philipp 
Halsmanns entscheidend war, hat Pro-
fessor Josef Hupka („Neue Freie Presse“
vom 20. und 30. November) auch gegen die 
unmotivierte Heranziehung der psychoanalytischen-
schen Kategorien „Oedipuskomplex“ und „Ver-
drängungsmechanismen“ Stellung genommen,
aber für die wissenschaftlichen Kritik bisher Er-
örterungen an das Urteil der berufenen Fach-
leute appelliert. Diesem Appell ist nun er-
freulicherweise der Berufenste gefolgt. 
Wir veröffentlichen im Folgenden eine
Äußerung Professor Freuds

Der Oedipus‑Komplex ist, soweit wir wissen,
in der Kindheit bei allen Menschen vorhanden gewesen, hat
in den Entwicklungsjahren große Veränderungen erfahren
und wird bei vielen Individuen in wechselnder Stärke auch
in reifen Zeiten gefunden. Seine wesentlichen Charaktere,
seine Allgemeinheit, sein Inhalt, sein Schicksal wurden, lange
vor der Zeit der Psychoanalyse, von einem scharfsinnigen
Denker wie Diderot erkannt, wie eine Stelle seines be-
rühmten Dialogs “Le neveu de Rameau” beweist. In
Goethes Übersetzung dieser Schrift (Band 45 der
Sophien-Ausgabe) steht auf Seite 136 zu lesen: „Wäre der
kleine Wilde sich selbst überlassen und bewahrte seine ganze
Schwäche (imbécillité), vereinigte mit der geringen Vernunft
des Kindes in der Wiege die Gewalt der Leidenschaften des
Mannes von dreißig Jahren, so bräch‘ er seinem Vater den
Hals und entehrte die Mutter.

Wäre es objektiv erwiesen, daß Philipp
Halsmann seinen Vater erschlagen
hat, so
hätte man allerdings ein Anrecht, den Odipus‑
Komplex heranzuziehen,
zur Motivierung einer sonst
unverstandenen Tat. Da ein solcher Beweis nicht
erbracht
worden ist, wirkt die Erwähnung des
Oedipus‑Komplexes irreführend; sie ist
zum mindesten müßig
. Was die Untersuchung an
Unstimmigkeiten zwischen Vater und Sohn in der Familie
Halsmann aufgedeckt hat, ist durchaus unzureichend, um die
Annahme eines schlechten Vaterverhältnisses beim Sohne zu
begründen. Wäre es selbst anders, so müßte man sagen, von
da bis zur Verursachung einer solchen Tat ist ein weiter Weg.
Gerade wegen seiner Allgegenwärtigkeit eignet sich der
Oedipus‑Komplex nicht zu einem Schluß auf die Täter-
schaft. Man würde leicht die Situation herstellen, die in einer
bekannten Anekdote angenommen wird: Ein Einbruch ist
geschehen. Ein Mann wird als Täter verurteilt, in dessen
Besitz ein Dietrich gefunden wurde. Nach der Urteils-
verkündigung befragt, ob er etwas zu bemerken habe, ver-
langt er auch wegen Ehebruchs bestraft zu werden, denn
das Werkzeug dazu habe er auch bei sich.

In dem großartigen Roman Dostojewskis „Die
Brüder Karamasow“ steht die Oedipus‑Situation im Mittel-
punkt des Interesses. Der alte Karamasow hat sich seinen
Söhnen durch lieblose Unterdrückung verhaßt gemacht; für
den einen ist er überdies der mächtige Rivale bei dem be-
gehrten Weibe. Dieser Sohn Dmitrij hat aus seiner Absicht,
sich am Vater gewaltsam zu rächen, kein Geheimnis gemacht.
Es ist darum natürlich, daß er nach der Ermordung und
Beraubung des Vaters als sein Mörder angeklagt und trotz
aller Beteuerungen seiner Unschuld verurteilt wird. Und doch
ist Dmitrij unschuldig; ein anderer der Brüder hat die Tat
verübt. In der Gerichtsszene dieses Romanes fällt der be-
rühmt gewordene Ausspruch: die Psychologie sei ein Stock
mit zwei Enden.

Das Gutachten der Innsbrucker medizinischen Fakultät
scheint geneigt, dem Philipp Halsmann einen „wirksamen“
Oedipus‑Komplex zuzuschreiben, verzichtet aber darauf, das
Ausmaß dieser Wirksamkeit zu bestimmen, weil unter dem
Druck der Anklage die Voraussetzungen für „eine rückhalt-
lose Aufschließung“ bei Philipp Halsmann nicht gegeben sind.
Wenn sie es dann ablehnt, auch im „Falle der Täterschaft des
Angeklagten die Wurzel der Tat in einem Oedipus‑Komplex
zu suchen“, so geht sie ohne Nötigung in der Verleugnung
zu weit.

In demselben Gutachten stößt man auf einen durchaus
nicht bedeutungslosen Widerspruch. Der mögliche Einfluß
der Gemütserschütterung auf die Gedächtnisstörung für Ein-
drücke vor und während der kritischen Zeit wird auf das
Äußerste eingeschränkt, nach meinem Urteil nicht mit Recht;
die Annahmen eines Ausnahmezustandes oder einer seelischen
Erkrankung werden entschieden zurückgewiesen, aber die Er-
klärung durch eine „Verdrängung“, die nach der Tat
bei Philipp Halsmann eintrat, bereitwillig zugestanden. Ich
muß sagen, eine solche Verdrängung aus heiterem Himmel
bei einem Erwachsenen, der keine Anzeichen einer schweren
Neurose bietet, die Verdrängung einer Handlung, die gewiß
bedeutsamer wäre als alle strittigen Einzelheiten von Ent-
fernung und Zeitablauf und die im normalen oder nur durch
körperliche Ermüdung veränderten Zustand vor sich geht,
wäre doch eine Seltenheit erster Ordnung.