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Das Fakultätsgutachten im
Prozeß HalsmannVon
Sigm. FreudDer Fall Halsmann – man vgl. dazu den vor einem Jahre
in dieser Zeitschrift erschienen Aufsatz „Ödipus in Innsbruck“ von
Erich Fromm (II. Jg., Heft 3, S. 75ff) – ist durch die Begnadi-
gung des wegen Vatermordes verteilten Studenten Philipp Hals-
mann moralisch noch nicht erledigt. Männer, deren unbeirrbare
Urteilsschärfe über alle Zweifel erhaben ist, sehen im Innsbrucker
Urteil einen großen Justizirrtum und führen um die Ehrenrettung
seines Opfers einen publizistischen Kampf. Vor allem ist es Dr. Josef
Kupka, Professor der Rechte an der Universität in Wien, der in
der Öffentlichkeit an den österreichischen Staat appelliert, an die
Ehrenpflicht Österreichs, „das Unrecht zu tilgen, daß ein grundlos
Verurteilter noch immer als Urheber eines schändlichen Verbrechens
gilt.“ Es handle sich nicht nur um die Rehabilitierung Halsmanns,
sondern auch um die österreichische Justiz. In einer ausführ-
lichen Studie („Fiat Justicia“, Neue Freie Presse, 29. u. 30. Nov.
1930) weist er auf die Nichtigkeit der Urteilsgrundlagen hin und
zerpflückt auch jenes peinliche Innsbrucker Fakultätsgutachten, das
zu einer für Österreich beschämenden Berühmtheit gelangt ist. Ins-
besondere, daß sie den Ödipuskomplex herangezogen hatten (was sie
übrigens nicht für unvereinbar mit ihrer grundsätzlichen Gegner-
schaft zur Psychoanalyse erachteten), gab dem Elaborat der Inns-
Brucker Professoren ein groteskes Gepräge. Prof. Kuka begnügte
sich nicht damit, selbst vortrefflich die Unhaltbarkeit jenes Jonglieren-
rens mit dem Ödipuskomplex auseinanderzusetzen, sondern forderte
auch Prof. Freud zur Äußerung auf. Angesichts des Mißbrauchs,
den die Innsbrucker Gutachter mit dem Begriff des von ihm ent-
deckten Ödipuskomplexes getrieben hatten, ist es begreiflich, daß der
Schöpfer der Psychoanalyse Prof. Kupka die Unterstützung im Feld-
zu gegen böse österreichische Geister nicht versagte. Wir geben hier
die Äußerung wieder, die Prof. Freud Prof. Kuka zur Ver-
fügung stellte:Der Ödipuskomplex ist, soweit wir wissen, in der Kindheit bei
allen Menschen vorhanden gewesen, hat in den Entwicklungsjahren
große Veränderungen erfahren und wird bei vielen Individuen in
wechselnder Stärke auch in reifen Zeiten gefunden. Seine wesent-
lichen Charaktere, seine Allgemeinheit, sein Inhalt, sein Schicksal
wurden, lange vor der Zeit der Psychoanalyse, von einem scharf-S.
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sinnigen Denker wie Diderot erkannt, wie eine Stelle seines berühm-
ten Dialogs “Le neveu de Rameau” beweist. In Goethes Übersetzung
dieser Schrift (Band 45 der Sophien-Ausgabe) steht auf Seite 136 zu
lesen: „Wäre der kleine Wilde sich selbst überlassen und bewahrte
seine ganze Schwäche (imbécillité), vereinigte mit der geringen Ver-
nunft des Kindes in der Wiege die Gewalt der Leidenschaften des
Mannes von dreißig Jahren, so bräch‘ er seinem Vater den Hals und
entehrte die Mutter.“Wäre es objektiv erwiesen, daß Philipp Halsmann seinen Vater
erschlagen hat, so hätte man allerdings ein Anrecht, den Ödipus-
komplex heranzuziehen, zur Motivierung einer sonst unverstandenen
Tat. Da ein solcher Beweis nicht erbracht worden ist, wirkt die Er-
wähnung des Ödipuskomplexes irreführend; sie ist zum mindesten
müßig. Was die Untersuchung an Unstimmigkeiten zwischen Vater
und Sohn in der Familie Halsmann aufgedeckt hat, ist durchaus un-
zureichend, um die Annahme eines schlechten Vaterverhältnisses beim
Sohne zu begründen. Wäre es selbst anders, so müßte man sagen,
von da bis zur Verursachung einer solchen Tat ist ein weiter Weg.
Gerade wegen seiner Allgegenwärtigkeit eignet sich der Ödipus-
komplex nicht zu einem Schluß auf die Täterschaft. Man würde leicht
die Situation herstellen, die in einer bekannten Anekdote angenom-
men wird: Ein Einbruch ist geschehen. Ein Mann wird als Täter ver-
urteilt, in dessen Besitz ein Dietrich gefunden wurde. Nach der Ur-
teilsverkündigung befragt, ob er etwas zu bemerken habe, verlangt
er auch wegen Ehebruchs bestraft zu werden, denn das Werkzeug
dazu habe er auch bei sich.In dem großartigen Roman Dostojewskis „Die Brüder Karamasoff“
steht die Ödipussituation im Mittelpunkt des Interesses. Der alte
Karamasoff hat sich seinen Söhnen durch lieblose Unterdrückung ver-
haßt gemacht; für den einen ist er überdies der mächtige Rivale bei
dem begehrten Weibe. Dieser Sohn Dmitrij hat aus seiner Absicht, sich
am Vater gewaltsam zu rächen, kein Geheimnis gemacht. Es ist darum
natürlich, daß er nach der Ermordung und Beraubung des Vaters alsS.
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sein Mörder angeklagt und trotz aller Beteuerungen seiner Unschuld
verurteilt wird. Und doch ist Dmitrij unschuldig; ein anderer der
Brüder hat die Tat verübt. In der Gerichtsszene dieses Romanes fällt
der berühmt gewordene Ausspruch: die Psychologie sei ein Stock mit
zwei Enden.Das Gutachten der Innsbrucker medizinischen Fakultät scheint ge-
neigt, dem Philipp Halsmann einen „wirksamen“ Ödipuskomplex
zuzuschreiben, verzichtet aber darauf, das Ausmaß dieser Wirksamkeit
zu bestimmen, weil unter dem Druck der Anklage die Voraussetzun-
gen für „eine rückhaltlose Aufschließung“ bei Philipp Halsmann nicht
gegeben sind. Wenn sie es dann ablehnt, auch im „Falle der Täter-
schaft des Angeklagten die Wurzel der Tat in einem Ödipuskomplex
zu suchen“, so geht sie ohne Nötigung in der Verleugnung zu weit.In demselben Gutachten stößt man auf einen durchaus nicht be-
deutungslosen Widerspruch. Der mögliche Einfluß der Gemütserschütte-
rung auf die Gedächtnisstörung für Eindrücke vor und während der
kritischen Zeit wird auf das Äußerste eingeschränkt, nach meinem
Urteil nicht mit Recht; die Annahmen eines Ausnahmezustandes oder
einer seelischen Erkrankung werden entschieden zurückgewiesen, aber
die Erklärung durch eine „Verdrängung“, die nach der Tat bei
Philipp Halsmann eintrat, bereitwillig zugestanden. Ich muß sagen,
eine solche Verdrängung aus heiterem Himmel bei einem Erwachse-
nen, der keine Anzeichen einer schweren Neurose bietet, die Ver-
drängung einer Handlung, die gewiß bedeutsamer wäre als alle strit-
tigen Einzelheiten von Entfernung und Zeitablauf und die im nor-
malen oder nur durch körperliche Ermüdung veränderten Zustand vor
sich geht, wäre doch eine Seltenheit erster Ordnung.
PsychoanalytischeBewegungIii1931Heft1
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