Ansprache im Frankfurter Goethe-Haus 1930-051/1930.2
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    Ansprache im Frankfurter Goethehaus

    am 25. August 1930

    Von
    Sigm. Freud

    Verlesen von Anna Freud

    Meine Lebensarbeit war auf ein einziges Ziel eingestellt. Ich
    beobachtete die feineren Störungen der seelischen Leistung bei
    Gesunden und Kranken und wollte aus solchen Anzeichen er-
    schließen — oder, wenn Sie es lieber hören: erraten —, wie
    der Apparat gebaut ist, der diesen Leistungen dient, und
    welche Kräfte in ihm zusammen- und gegeneinanderwirken.
    Was wir, ich, meine Freunde und Mitarbeiter, auf diesem
    Wege lernen konnten, erschien uns bedeutsam für den Auf-
    bau einer Seelenkunde, die normale wie pathologische Vor-
    gänge als Teile des nämlichen natürlichen Geschehens verstehen
    läßt.

    Von solcher Einengung ruft mich Ihre mich überraschende
    Auszeichnung zurück. Indem sie die Gestalt des großen Uni-
    versellen heraufbeschwört, der in diesem Hause geboren wurde,
    in diesen Räumen seine Kindheit erlebte, mahnt sie, sich
    gleichsam vor ihm zu rechtfertigen, wirft sie die Frage auf, wie
    er sich verhalten hätte, wenn sein für jede Neuerung der
    Wissenschaft aufmerksamer Blick auch auf die Psychoanalyse
    gefallen wäre.

    An Vielseitigkeit kommt Goethe ja Leonardo da
    Vinci, dem Meister der Renaissance, nahe, der Künstler und
    Forscher war wie er. Aber Menschenbilder können sich nie
    wiederholen, es fehlt auch nicht an tiefgehenden Unterschieden
    zwischen den beiden Großen. In Leonardos Natur vertrug sich
    der Forscher nicht mit dem Künstler, er störte ihn und er-
    drückte ihn vielleicht am Ende. In Goethes Leben fanden

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    beide Persönlichkeiten Raum nebeneinander, sie lösten einander
    zeitweise in der Vorherrschaft ab. Es liegt nahe, die Störung
    bei Leonardo mit jener Entwicklunghemmung zusammenzu-
    bringen, die alles Erotische und damit die Psychologie seinem
    Interesse entrückte. In diesem Punkt durfte Goethes Wesen
    sich freier entfalten.

    Ich denke, Goethe hätte nicht, wie so viele unserer Zeit-
    genossen, die Psychoanalyse unfreundlichen Sinnes abgelehnt.
    Er war ihr selbst in manchen Stücken nahegekommen, hatte
    in eigener Einsicht vieles erkannt, was wir seither bestätigen
    konnten, und manche Auffassungen, die uns Kritik und Spott
    eingetragen haben, werden von ihm wie selbstverständlich ver-
    treten. So war ihm z. B. die unvergleichliche Stärke der ersten
    affektiven Bindungen des Menschenkindes vertraut. Er feierte
    sie in der Zueignung der „Faust“-Dichtung in Worten, die
    wir für jede unserer Analysen wiederholen könnten:

    „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
    Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt,
    Versuch’ ich wohl, euch diesmal festzuhalten?“
    . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

    „Gleich einer alten, halbverklungenen Sage
    Kommt erste Lieb’ und Freundschaft mit herauf.“
     

    Von der stärksten Liebesanziehung, die er als reifer Mann
    erfuhr, gab er sich Rechenschaft, indem er der Geliebten zu-
    rief: „Ach, du warst in abgelebten Zeiten meine Schwester
    oder meine Frau.“

    Er stellte somit nicht in Abrede, daß diese unvergänglichen
    ersten Neigungen Personen des eigenen Familienkreises zum
    Objekt nehmen.

    Den Inhalt des Traumlebens umschreibt Goethe mit den so
    stimmungsvollen Worten:

    „Was von Menschen nicht gewußt,
    Oder nicht bedacht,
    Durch das Labyrinth der Brust
    Wandelt in der Nacht.“
     

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    Hinter diesem Zauber erkennen wir die altehrwürdige, un-
    bestreitbar richtige Aussage des Aristoteles, daß Träumen
    sei die Fortsetzung unserer Seelentätigkeit in den Schlafzustand,
    vereint mit der Anerkennung des Unbewußten, die erst die
    Psychoanalyse hinzugefügt hat. Nur das Rätsel der Traument-
    stellung findet dabei keine Auflösung.

    In seiner vielleicht erhabensten Dichtung, der „Iphigenie“,
    zeigt uns Goethe ein ergreifendes Beispiel einer Entsühnung,
    einer Befreiung der leidenden Seele von dem Druck der Schuld,
    und er läßt diese Katharsis sich vollziehen durch einen leiden-
    schaftlichen Gefühlsausbruch unter dem wohltätigen Einfluß einer
    liebevollen Teilnahme. Ja, er hat sich selbst wiederholt in
    psychischer Hilfeleistung versucht, so an jenem Unglücklichen,
    der in den Briefen Kraft genannt wird, an dem Professor
    Plessing, von dem er in der „Campagne in Frankreich“ er-
    zählt, und das Verfahren, das er anwendete, geht über das
    Vorgehen der katholischen Beichte hinaus und berührt sich in
    merkwürdigen Einzelheiten mit der Technik unserer Psycho-
    analyse. Ein von Goethe als scherzhaft bezeichnetes Beispiel
    einer psychotherapeutischen Beeinflussung möchte ich hier aus-
    führlich mitteilen, weil es vielleicht weniger bekannt und doch sehr
    charakteristisch ist. Aus einem Brief an Frau v. Stein
    (Nr. 1444 vom 5. September 1785):

    „Gestern Abend habe ich ein Psychologisches Kunststück gemacht. Die
    Herder war immer noch auf das Hypochondrische gespannt über alles,
    was ihr im Carlsbad unangenehmes begegnet war. Besonders von ihrer
    Hausgenossin. Ich ließ mir alles erzählen und beichtete fremde Unarten
    und eigene Fehler mit den kleinsten Umständen und Folgen und zuletzt
    absolvirte ich sie und machte ihr scherzhaft unter dieser Formel begreif-
    lich, daß diese Dinge nun abgethan und in die Tiefe des Meeres ge-
    worfen seyen. Sie ward selbst lustig darüber und ist wirklich kuriert.“

    Den Eros hatte Goethe immer hochgehalten, seine Macht nie
    zu verkleinern versucht, ist seinen primitiven oder selbst mut-
    willigen Äußerungen nicht minder achtungsvoll gefolgt wie

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    seinen hochsublimierten und hat, wie mir scheint, seine Wesens-
    einheit durch alle seine Erscheinungsformen nicht weniger ent-
    schieden vertreten als vor Zeiten Plato. Ja, vielleicht ist es
    mehr als zufälliges Zusammentreffen, wenn er in den „Wahl-
    verwandtschaften“ eine Idee aus dem Vorstellungskreis der
    Chemie auf das Liebesleben anwendete, eine Beziehung, von
    der der Name selbst der Psychoanalyse zeugt.

    Ich bin auf den Vorwurf vorbereitet, wir Analytiker hätten
    das Recht verwirkt, uns unter die Patronanz Goethes zu stellen,
    weil wir die ihm schuldige Ehrfurcht verletzt haben, indem wir
    die Analyse auf ihn selbst anzuwenden versuchten, den großen
    Mann zum Objekt der analytischen Forschung erniedrigten. Ich
    aber bestreite zunächst, daß dies eine Erniedrigung beabsichtigt
    oder bedeutet.

    Wir alle, die wir Goethe verehren, lassen uns doch ohne
    viel Sträuben die Bemühungen der Biographen gefallen, die
    sein Leben aus den vorhandenen Berichten und Aufzeichnun-
    gen wiederherstellen wollen. Was aber sollen uns diese Bio-
    graphien leisten? Auch die beste und vollständigste könnte
    die beiden Fragen nicht beantworten, die allein wissenswert
    scheinen.

    Sie würde das Rätsel der wunderbaren Begabung nicht auf-
    klären, die den Künstler macht, und sie könnte uns nicht helfen,
    den Wert und die Wirkung seiner Werke besser zu
    erfassen. Und doch ist es unzweifelhaft, daß eine solche Bio-
    graphie ein starkes Bedürfnis bei uns befriedigt. Wir verspü-
    ren dies so deutlich, denn die Ungunst der historischen Über-
    lieferung diesem Bedürfnis die Befriedigung versagt hat, z. B.
    im Falle Shakespeares. Es ist uns allen unleugbar peinlich,
    daß wir noch immer nicht wissen, wer die Komödien, Trauer-
    spiele und Sonette Shakespeares verfaßt, ob wirklich der
    ungelehrte Sohn des Stratforder Kleinbürgers, der in London
    eine bescheidene Stellung als Schauspieler erreicht, oder doch

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    eher der hochgeborene und feingebildete, leidenschaftlich un-
    ordentliche, einigermaßen deklassierte Aristokrat Edward de
    Vere, siebzehnter Earl of Oxford, erblicher Lord Great
    Chamberlain von England. Wie rechtfertigt sich aber ein sol-
    ches Bedürfnis, von den Lebensumständen eines Mannes Kunde
    zu erhalten, wenn dessen Werke für uns so bedeutungsvoll
    geworden sind? Man sagt allgemein, es sei das Verlangen,
    uns einen solchen Mann auch menschlich näherzubringen.
    Lassen wir das gelten; es ist also das Bedürfnis, affektive Be-
    ziehungen zu solchen Menschen zu gewinnen, sie den Vätern,
    Lehrern, Vorbildern anzureihen, die wir gekannt oder deren
    Einfluß wir bereits erfahren haben, unter der Erwartung, daß
    ihre Persönlichkeiten ebenso großartig und bewundernswert
    sein werden wie die Werke, die wir von ihnen besitzen.

    Immerhin wollen wir zugestehen, daß noch ein anderes
    Motiv im Spiele ist. Die Rechtfertigung des Biographen ent-
    hält auch ein Bekenntnis. Nicht herabsetzen zwar will der Biograph
    den Heros, sondern ihn uns näherbringen. Aber das heisst
    doch, die Distanz, die uns von ihm trennt, verringern,
    wirkt doch in der Richtung einer Erniedrigung. Und es ist
    unvermeidlich, wenn wir vom Leben eines Großen mehr er-
    fahren, werden wir auch von Gelegenheiten hören, in denen
    er es wirklich nicht besser gemacht hat als wir, uns menschlich
    wirklich nahe gekommen ist. Dennoch meine ich, wir erklären
    die Bemühungen der Biographie für legitim. Unsere Einstellung
    zu Vätern und Lehrern ist nun einmal eine ambivalente,
    denn unsere Verehrung für sie deckt regelmässig eine Komponente
    von feindseliger Aullehung. Das ist ein psychologisches Ver-
    hängnis, läßt sich ohne gewaltsame Unterdrückung der Wahr-
    heit nicht ändern und muß sich auf unser Verhältnis zu den
    großen Männern, deren Lebensgeschichte wir erforschen wollen,
    fortsetzen.

    Wenn die Psychoanalyse sich in den Dienst der Biographie

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    begibt, hat sie natürlich ein Recht, nicht härter behandelt zu
    werden als diese selbst. Die Psychoanalyse kann manche Auf-
    schlüsse bringen, die auf anderen Wegen nicht zu erhalten
    sind, und so neue Zusammenhänge aufzeigen in dem Weber-
    meisterstück, das sich zwischen den Triebanlagen, den Erleb-
    nissen und den Werken eines Künstlers ausbreitet. Da es eine
    der hauptsächlichsten Funktionen unseres Denkens ist, den
    Stoff der Außenwelt psychisch zu bewältigen, meine ich, man
    müße es der Psychoanalyse danken, wenn sie auf den großen
    Mann angewendet zum Verständnis seiner großen Leistung
    beiträgt. Aber ich gestehe, im Falle von Goethe haben wir es
    noch nicht weit gebracht. Das rührt daher, daß Goethe nicht
    nur als Dichter ein großer Bekenner war, sondern auch trotz
    der Fülle autobiographischer Aufzeichnungen ein sorgsamer
    Verhüller. Wir können nicht umhin, hier der Worte Mephistos
    zu gedenken:

    „Das Beste, was du wissen kannst,
    Darfst du den Buben doch nicht sagen.“