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Die endliche und die unendliche Analyse
Von Sigm. Freud
Das Folgende ist ein kurzer Abschnitt aus
einer unter diesem Titel in der Internationa-
len Zeitschrift får Psychoanalyse, Bd. XXIII,
Heft 2, Jahrgang 1937, erschienenen größeren
Arbeit, die Probleme der psychoanalytischen
Therapie behandelt.Hålt man sich das Bild in seiner Gesamtheit vor, zu
dem sich die Erscheinungen des immanenten Maso-
chismus so vieler Personen, der negativen therapeu-
tischen Reaktion und des SchuldbewuBtseins der Neu-
rotiker zusammensetzen, so wird man nicht mehr dem
Glauben anhängen können, daß das seelische Gesche-
hen ausschließlich vom Luststreben beherrscht wird.
Diese Phänomene sind unverkennbare Hinweise auf das
Vorhandensein einer Macht im Seelenleben, die wir
nach ihren Zielen Aggressions- oder Destruktionstrieb
heißen und von dem ursprünglichen Todestrieb der be-
lebten Materie ableiten. Ein Gegensatz einer optimisti-
schen zu einer pessimistischen Lebenstheorie kommt
nicht in Frage; nur das Zusammen- und Gegeneinan-
derwirken beider Urtriebe Eros und Todestrieb erklärt
die Buntheit der Lebenserscheinungen, niemals einer
von ihnen allein.Wie Anteile der beiden Triebarten zur Durchsetzung
der einzelnen Lebensfunktionen miteinander zusammen-
treten, unter welchen Bedingungen diese Vereinigungen
sich lockern oder zerfallen, welche Störungen diesen
Veränderungen entsprechen und mit welchen Empfin-44
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dungen die Wahrnehmungsskala des Lustprinzips auf
sie antwortet, das klarzustellen wire die lohnendste
Aufgabe der psychologischen Forschung. Vorläufig beu-
gen wir uns vor der Ubermacht der Gewalten, an der
wir unsere Bemühungen scheitern sehen. Schon die
psychische Beeinflussung des einfachen Masochismus
stellt unser Können auf eine harte Probe.Beim Studium der Phänomene, die die Betätigung des
Destruktionstriebs erweisen, sind wir nicht auf Beob-
achtungen an pathologischem Material eingeschränkt.
Zahlreiche Tatsachen des normalen Seelenlebens drän-
gen nach einer solchen Erklärung, und je mehr unser
Blick sich schärft, desto reichlicher werden sie uns
auffallen. Es ist ein Thema, zu neu und zu wichtig,
um es in dieser Erörterung wie beiläufig zu behandeln;
ich werde mich damit bescheiden, einige wenige Pro-
ben herauszuheben. Die folgende als Beispiel:Es ist bekannt, daß es zu allen Zeiten Menschen gege-
ben hat und noch gibt, die Personen des gleichen wie
des anderen Geschlechts zu ihren Sexualobjekten neh-
men können, ohne daß die eine Richtung die andere
beeinträchtigt. Wir heißen diese Leute Bisexuelle, neh-
men ihre Existenz hin, ohne uns viel darüber zu ver-
wundern. Wir haben aber gelernt, daß alle Menschen
in diesem Sinn bisexuell sind, ihre Libido entweder in
manifester oder in latenter Weise auf Objekte beider
Geschlechter verteilen. Nur fällt uns folgendes dabei auf.
Während im ersten Falle die beiden Richtungen sich
ohne Anstoß miteinander vertragen haben, befinden
sie sich im anderen und håufigeren Falle im Zustand
eines unversóhnlichen Konflikts. Die Heterosexualität45
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eines Mannes duldet keine Homosexualität, und ebenso
ist es umgekehrt. Ist die erstere die stirkere, so gelingt
es ihr, die letztere latent zu erhalten und von der
Realbefriedigung abzudrången; andererseits gibt es keine
größere Gefahr für die heterosexuelle Funktion eines
Mannes als die Störung durch die latente Homosexuali-
tät. Man könnte die Erklärung versuchen, daß eben nur
ein bestimmter Betrag von Libido verfügbar ist, um
den die beiden miteinander rivalisierenden Richtungen
ringen müssen. Allein man sieht nicht ein, warum die
Rivalen nicht regelmäßig den verfügbaren Betrag der
Libido je nach ihrer relativen Stärke unter sich auf-
teilen, wenn sie es doch in manchen Fällen tun können.
Man bekommt durchaus den Eindruck, als sei die Nei-
gung zum Konflikt etwas Besonderes, was neu zur
Situation hinzukommt, unabhängig von der Quantität
der Libido. Eine solche unabhängig auftretende Kon-
fliktneigung wird man kaum auf anderes zurückführen
können als auf das Eingreifen eines Stückes von freier
Aggression.Wenn man den hier erörterten Fall als Äußerung des
Destruktions- oder Aggressionstriebs anerkennt, so er-
hebt sich sofort die Frage, ob man nicht dieselbe Auf-
fassung auf andere Beispiele von Konflikt ausdehnen, ja
ob man nicht überhaupt all unser Wissen vom psychi-
schen Konflikt unter diesem neuen Gesichtspunkt revi-
dieren soll. Wir nehmen doch an, daß auf dem Weg
der Entwicklung vom Primitiven zum Kulturmenschen
eine sehr erhebliche Verinnerlichung, Einwärtswendung
der Aggression stattfindet, und für die Außenkämpfe,
die dann unterbleiben, wären die inneren Konflikte46
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sicherlich das richtige Aquivalent. Es ist mir wohl be-
kannt, daß die dualistische Theorie, die einen Todes-,
Destruktions- oder Aggressionstrieb als gleichberech-
tigten Partner neben den in der Libido sich kundgeben-
den Eros hinstellen will, im allgemeinen wenig Anklang
gefunden und sich auch unter Psychoanalytikern nicht
eigentlich durchgesetzt hat. Umsomehr mußte es mich
erfreuen, als ich unlängst unsere Theorie bei einem der
großen Denker der griechischen Frühzeit wiederfand.
Ich opfere dieser Bestitigung gern das Prestige der
Originalität, zumal da ich bei dem Umfang meiner Lek-
tire in früheren Jahren doch nie sicher werden kann,
ob meine angebliche Neuschopfung nicht eine Leistung
der Kryptomnesie war.Empedokles aus Akragas (Girgenti) 1), etwa
495 a. Chr. geboren, erscheint als eine der groBartig-
sten und merkwürdigsten Gestalten der griechischen
Kulturgeschichte. Seine vielseitige Persönlichkeit betå-
tigte sich in den verschiedensten Richtungen; er war
Forscher und Denker, Prophet und Magier, Politiker,
Menschenfreund und naturkundiger Arzt; er soll die
Stadt Selinunt von der Malaria befreit haben, von sei-
nen Zeitgenossen wurde er wie ein Gott verehrt. Sein
Geist scheint die schårfsten Gegensätze in sich vereinigt
Zu haben; exakt und nüchtern in seinen physikalischen
und physiologischen Forschungen, scheut er doch vor
dunkler Mystik nicht zurück, baut kosmische Speku-
lation auf von erstaunlich phantastischer Kiihnheit.
Capelle vergleicht ihn dem Dr. Faust, „dem gar1) Das Folgende nach Wilhelm He pole Die Vor-
sokratiker, Alfred Kroner, Leipzig, 1935.47
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manch Geheimnis wurde kund“. Zu einer Zeit entstan-
den, da das Reich des Wissens noch nicht in so viele
Provinzen zerfiel, miissen manche seiner Lehren ums
primitiv anmuten. Er erklärte die Verschiedenheiten
der Dinge durch Mischungen der vier Elemente, Erde,
Wasser, Feuer und Luft, glaubte an die Allbelebtheit
der Natur und an die Seelenwanderung, aber auch so
moderne Ideen wie die stufenweise Entwicklung der
Lebewesen, das Uberbleiben des Tauglichsten und die
Anerkennung der Rolle des Zufalls (xn) bei dieser
Entwicklung gehen in sein Lehrgebåude ein.Unser Interesse gebiihrt aber jener Lehre des Empe-
dokles, die der psychoanalytischen Triebtheorie so nahe
kommt, daß man versucht wird zu behaupten, die
beiden wären identisch, bestünde nicht der Unterschied,
daß die des Griechen eine kosmische Phantasie ist,
während unsere sich mit dem Anspruch auf biologische
Geltung bescheidet. Der Umstand freilich, daß Em p e-
dokles dem Weltall dieselbe Beseelung zuspricht wie
dem einzelnen Lebewesen, entzieht dieser Differenz ein
großes Stück ihrer Bedeutung.Der Philosoph lehrt also, daß es zwei Prinzipien des
Geschehens im weltlichen wie im seelischen Leben gibt,
die in ewigem Kampf miteinander liegen. Er nennt sie
qx 一 Liebe | und vemos | Streit. Die eine
dieser Mächte, die für ihn im Grunde „triebhaft wir-
kende Naturkräfte, durchaus keine zweckbewußten Intel-
ligenzen“ 2) sind, strebt darnach, die Urteilchen der vier
Elemente zu einer Einheit zusammenzuballen, die an-2) 1. c, S. 186.
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dere im Gegenteile will all diese Mischungen rückgän-
gig machen und die Urteilchen der Elemente vonein-
ander sondern. Den Weltprozeß denkt er sich als fort-
gesetzte, niemals aufhôrende Abwechslung von Peri-
oden, in denen die eine oder die andere der beiden
Grundkräfte den Sieg davontrågt, so daß einmal die
Liebe, das nächste Mal der Streit seine Absicht voll
durchsetzt und die Welt beherrscht, worauf der andere,
unterlegene, Teil einsetzt und nun seinerseits den Part-
ner niederringt.Die beiden Grundprinzipien des Empedokles —
9Ux und vetxog 一 sind dem Namen wie der Funktion
nach das Gleiche wie unsere beiden Urtriebe Eros und
Destruktion, der eine bemüht, das Vorhandene zu
immer groBeren Einheiten zusammenzufassen, der an-
dere, diese Vereinigungen aufzulösen und die durch sie
entstandenen Gebilde zu zerstören. Wir werden uns aber
auch nicht verwundern, daB diese Theorie in manchen
Zügen verändert ist, wenn sie nach zweiundeinhalb
Jahrtausenden wieder auftaucht. Von der Einschrån-
kung auf das Biopsychische abgesehen, die uns aufer-
legt ist, unsere Grundstoffe sind nicht mehr die vier
Elemente des Empedokles, das Leben hat sich für
uns scharf yom Unbelebten gesondert, wir denken nicht
mehr an Vermengung und Trennung von Stoffteilchen,
sondern an Verlôtung und Entmischung von Triebkom-
ponenten. Auch haben wir das Prinzip des „Streites“ ge-
wissermaBen biologisch unterbaut, indem wir unseren
Destruktionstrieb auf den Todestrieb zurückführten, den
Drang des Lebenden, zum Leblosen zurückzukehren.
Das will nicht in Abrede stellen, daß ein analoger Trieb④ Almanach 1938 49
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AlmanachDerPsychoanalyse1938
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