Ein Fall von Hirnblutung mit indirekten basalen Herdsymptomen bei Skorbut 1884-001/1884
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    Ein Fall von

    Hirnblutung mit indirekten basalen Herd-
    symptomen bei Skorbut.

    Mitgetheilt von Dr. SIGM. FREUD, Sekundararzt im k. k. Allgemeinen
    Krankenhause.

    Am 17. Jänner 1884 wurde ein 16jähriger Schuhmacherlehrling auf die IV.
    mediz. Abtheilung aufgenommen. Der kräftig gebaute, nicht abgemagerte
    Kranke blutete reichlich aus dem Zahnfleische und zeigte zahlreiche, rosenrothe,
    punktförmige Hämorrhagien an den Unterschenkeln, die er angeblich
    seit 14 Tagen bemerkt hatte.

    Die Untersuchung der inneren Organe, der Temperatur und des Pulses
    ergab nichts Abnormes; eine leichte Apathie bei ganz ungetrübtem Bewusstsein
    war sofort bei der Aufnahme auffällig. Ein ätiologisches Moment
    konnte nicht erhoben werden.

    Um 9 Uhr Abends erbrach der Kranke, wurde darauf unbesinnlich, antwortete
    nicht auf Fragen; Konvulsionen wurden nicht beobachtet.

    Um 8 Uhr Morgens des nächsten Tages bot er bei einer Temperatur von
    38.1° C., regelmässiger Athmung und einer Pulsfrequenz von 80 das Bild
    des tiefsten Komas. Die Pupillen waren gleich weit, die Extremitäten anscheinend
    nicht gelähmt, Harn musste mit dem Katheter entleert werden.
    Zahlreiche frische Blutungen, zum Theile von grösserem Umfange und in
    den tieferen Schichten gelagert, wurden an der Haut der Zehen, der Oberund
    Vorderarme und des Kopfes konstatirt.

    Um 12 Uhr Mittags fiel die Unruhe des bisher regungslosen Kranken auf
    und veranlasste, ihn einer fortlaufenden Beobachtung zu unterwerfen.
    12 Uhr. Pat. wirft sich im Bette herum, reagirt auf keinerlei Sinnesreize.
    Respiration tief, 24, Puls 82, kräftig, Herztöne rein und laut. Der Mund ist
    fest geschlossen. Die rechte Pupille verengt, reagirt prompt auf Lichtreiz;
    die linke sehr erweitert, wenn auch nicht maximal, reagirt nicht oder kaum
    merklich auf Belichtung und Beschattung. Die Weite beider Pupillen zeigt
    mitunter spontan eine geringe gleichsinnige Aenderung. Die linke Lidspalte
    meist geschlossen, während die rechte häufig geöffnet wird. Die rechte obere
    Extremität zeigt starke Muskelspannung, wird, im Schultergelenke adduzirt
    und im Ellbogen- und den Handgelenken gebeugt, unbeweglich auf der Brust
    gehalten; die rechte untere Extremität extendirt, ebenfalls stark gespannt
    und unbeweglich. Die linken Extremitäten zeigen keine höhere Muskelspannung,
    werden durch anscheinend willkürliche Impulse des sehr unruhigen
    Kranken in koordinirter Weise bewegt. Patellarreflex beiderseits lebhaft,
    rechts Andeutung von Fussklonus, Hautreflex von der Fusssohle aus rechts
    nicht zu erzeugen, links sehr heftig.

    2 Uhr. Pat. liegt auf der linken Seite, die Augen gleichsinnig nach links
    gewendet, nicht ganz in den Winkel und etwas nach unten eingestellt. Gerade
    gelegt, verbleibt der Kranke so, die Augenablenkung besteht aber auch bei
    gelegentlicher Wendung des Kopfes nach rechts, Pupillarreflex fehlt beiderseits.
    Ptosis links unzweifelhaft. Mitunter nystaktische Bewegungen des rechten
    Auges von der Mittelstellung nach innen. Der Mundwinkel hängt links
    herab, die präinspiratorische Erweiterung des Nasenflügels bleibt links aus.
    Die Kiefer fest zusammengepresst, der Nacken steif. Berührung der rechten
    Kornea und tiefe Nadelstiche im ganzen Gesichte erzeugen keine Reaktion.
    Bei Berührung der linken Kornea erfolgt Lidschluss, gleichzeitig fährt der
    Kranke mit dem linken Arme, wie um zu wischen, über das Auge und hält
    diese Aktion längere Zeit fest. Die Extremitäten verhalten sich wie vorhin;
    auf stärkere Hautreizungen der rechten Körperhälfte antworten mitunter die
    linken Extremitäten durch Abwehrbewegungen. Temperatur in der rechten
    Axilla gemessen 39.0o C., Messung in der linken Axilla wegen der Unruhe
    des Kranken nicht möglich, Athmung tief seufzend, etwas verlangsamt, Puls
    86, hat an Völle und Spannung zugenommen, keine Cyanose.
    Um ½3 Uhr. Nach einer Aetherinjektion ist der Korneal-

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    reflex rechts wiedergekehrt. Der linke Arm führt in raschem Wechsel traumhafte 
    Bewegungen aus, wie: Reiben der Stirne, durch die Haare Fahren, Kratzen
    und Wischen.

    Um 3 Uhr. Pupillen zeigen kaum merkliche Reaktion, Lidspalte links
    meist geschlossen, rechts halb offen. Nystagmus rechts bei vorherrschender
    Ablenkung beider Augen nach links. Kornealreflex beiderseits aufgehoben.
    Auf Nadelstiche nirgends Reaktion. Das rechte Bein weniger gespannt, das
    linke schlaff, wird nicht mehr bewegt. Vom rechten Beine deutlicher Fusssohlenreflex,
    vom linken deutlicher Patellarreflex zu erzielen. Der Sehnenreflex
    fehlt rechts, der Hautreflex links. Geringfügige spontane Lageveränderungen
    des kontrahirten rechten Armes; wenn man denselben extendirt
    und anderswohin lagert, wird er vom Kranken jedesmal wieder auf die Brust
    zurückgebracht. Der linke Arm in lebhafter Aktion. Unterleib kahnförmig
    eingezogen. Respiration tief, Stöhnen und Murmeln. Wenn der Kranke Blut
    ausprustet, wird die linksseitige Facialparese unzweifelhaft. Schweissausbruch
    am Oberkörper, Röthung der linken Wange. Puls kräftig, von unverändertem
    Rythmus.

    Um ½5 Uhr. Beide unteren Extremitäten schlaff, Haut- und Sehnenreflexe
    aufgehoben. Bald darauf gerathen die Muskeln des bisher freien linken
    Armes ebenfalls in Spannung, die Muskelbäuche springen vor, die Finger
    werden übereinander geschlagen, ohne dass darum die spontanen Bewegungen
    dieser Extremität aufhörten. Pupillenreaktion auf Licht einige Male
    merklich, andere Male zweifelhaft. Kornealreflexe fehlen. Das rechte Auge
    stellt sich auf kurze Zeit in die Mittellage nach unten ein, während das linke
    starr nach aussen blickt. Temp. in der rechten Axilla 39.2o C.
    Um 5 Uhr. Auf elektrische Reizung reagirt der rechte Arm mit einzelnen
    Zuckungen, der linke mit komplizirten, wiewohl durch die Kontraktur eingeschränkten
    Abwehrbewegungen. Die Respiration wird unregelmässig, durch
    schluchzende und stöhnende Bewegungen unterbrochen. Puls 84.
    Um ½6 Uhr. Die Unruhe des Kranken nimmt zu. Beide oberen Extremitäten
    in stärkster Muskelspannung und lebhafter wechselnder Aktion.
    Um 6 Uhr. Reizerscheinungen dauern fort, die Muskelspannung lässt
    gelegentlich nach. Die Respiration aussetzend, Stöhnen und Blasen. Der
    Trismus geringer.

    Um ¼7 Uhr sind beide oberen Extremitäten erschlafft, führen nicht
    mehr spontane Bewegungen aus. Gleichzeitig haben sich zuerst das rechte,
    dann das linke Auge in die Mittellage eingestellt und verbleiben daselbst
    unbeweglich. Die rechte Pupille erweitert sich allmälig, die linke verengt sich,
    bis beide fast gleich und mittelweit geworden sind. Trismus und Nackenstarre
    haben aufgehört. Die Respiration ist ruhiger und aussetzend. Zwischen einer
    Gruppe von Athemzügen und der nächsten kommen Pausen von 15–45
    Sekunden vor. Der ungemein kräftige Puls hat eine allmälige Beschleunigung
    erfahren und zeigt bemerkenswerthe Alterationen unter dem Einflusse
    der aussetzenden Respiration. In der Athempause zeigt er eine regelmässige
    Frequenz von etwa 14 Schlägen in 10 Sekunden, verschwindet, sobald die
    erste tiefe Inspiration eintritt und beginnt dann mit kleinen einander jagenden
    Wellen, um nach dem Aufhören der gewöhnlich zu 4 oder 5 gruppirten
    Athemzüge seinen früheren Rythmus anzunehmen. Auf 20 Sekunden während
    einer Athempause kommen 28, auf denselben Zeitraum während einer
    Athemreihe 44 Wellen.

    Um ¾7 ist die letzte Spur der Pupillendifferenz geschwunden. Vollständige
    Resolution. Der noch immer sehr kräftige Puls zeigt sich auch während
    der Athempause beschleunigt. Frequenz im Mittel 132. Temperatur 39.5o C.
    Die von Dr. K ö n i g s t e i n vorgenommene ophthalmoskopische Untersuchung
    ergibt: In beiden Augen weissliche Flecken über die ganze Retina
    zerstreut, ferner dunkelschwarzrothe, flächenhafte Blutungen und zahlreiche
    frische kapilläre Hämorrhagien als Punkte und Striche. Der Kontour der
    Papille nicht sichtbar.
    Der um diese Zeit mit dem Katheter entnommene Harn war etwas getrübt,
    rothgelb, sauer, vom spezifischen Gewichte 1027, enthielt eine mässige
    Menge Eiweiss und keinen Zucker.

    Eine Aetherinjektion stellte den Kornealreflex für kurze Zeit wieder
    her.

    Um 7 Uhr wurde die Beobachtung des Kranken abgebrochen. Tod ohne
    Konvulsionen um 8 Uhr Abends. Es schien die Diagnose gerechtfertigt:
    Scorbutus, Hæmorrhagia cerebri intermeningealis (e t a d c r u r a c e -
    r e b r i ) et retinarum.

    Aus dem Sektionsbefunde (Prof. K u n d r a t ) hebe ich die auf das Verhalten
    des Gehirns bezüglichen Stellen hervor: „Die Schädeldecken ecchymosirt,
    auch im Perikranium am hintersten Theile der Pfeilnaht bis linsengrosse
    Blutaustritte. Der Schädel sehr geräumig, dünnwandig, die harte Hirnhaut
    über der linken Hemisphäre in der Gegend des linken Scheitelläppchens
    hinab in die mittlere Schädelgrube und über das linke Tentorium eine dünne
    Schichte schwarzrothen Blutes angesammelt. Die innere Hirnhaut über der
    Konvexität der linken Hemisphäre, entlang der medialen Furche, über dem
    obersten Stirnzug und den anstossenden Partien der Zentralwindungen
    sehr stark suffundirt, ebenso über dem oberen linken Scheitelläppchen. Die
    linke Hemisphäre sehr stark geschwellt, so dass sie weit mehr als die Hälfte
    des Schädelraumes einnimmt. Die Windungen noch stärker abgeplattet als
    rechts, das Gehirn gelockert, sehr blutarm und fast zerfliessend weich, in der
    linken Hemisphäre im linken unteren Scheitelläppchen in seiner Rindensubstanz
    und Markmasse in Form eines stumpfen breiten Keils bis an die
    Aussenwand des Hinterhorns und das hintere Ende des Linsenkernes dicht
    durchsetzt von kapillären und bis erbsengrossen Extravasaten, so dass die
    Hirnsubstanz beim Darüberfliessen von Flüssigkeit wie zerfasert erscheint.
    Die Ventrikel, namentlich die Seitenventrikel enorm verengt. An der linken
    Hemisphäre die Windungen an der Basalfläche sehr stark abgeplattet, der
    linke Oculomotorius an der Spitze des Schläfelappens komprimirt, selbst
    der linke Hirnschenkel flachgedrückt.

    Die Scheiden beider Sehnerven von Blutungen durchsetzt, die Retina am
    linken Auge fast in ganzer Ausdehnung von einer dünnen Schichte Blutes
    grösstentheils abgelöst, der Glaskörper von Blut durchsetzt; am rechten Auge
    nur kleinere Blutungen unter der Netzhaut, der Glaskörper frei.

    Am Rückenmarke unter den zarten Häuten nur ganz vereinzelte Ecchymosen,
    und an den Querschnitten nur hie und da eine röthliche Verfärbung
    an der Auskleidung des Zentralkanals.“ Die Beschreibung der zahlreichen
    Blutaustritte in der Haut, in fast allen serösen und Schleimhäuten (die Parenchyme
    waren meist frei), übergehe ich hier.